Freuds Traum

… – vom Mai 1897

Freud ist in alten Erinnerungen oder Träumen teilweise erstaunlich nahe an familiären Begebenheiten aus seiner frühen Kindheit heran gekommen, so beispielsweise, als ihn Phantasien um seine Kinderfrau aus dem Alter von zwei bis drei Jahren beschäftigen, für die sich, nach Rücksprache mit seiner Mutter, tatsächlich konkrete Anhaltspunkte ergeben hatten. Auch das mehrfache Umkreisen seiner kindlichen Phantasie über die Zeugung der Schwester Anna durch seinen Stiefbruder Philipp lässt ein solches Ereignis durchaus plausibel erscheinen.

Aus einem seiner Träume glaube ich erschließen zu können, dass Freud sich unterschwellig durchaus kritisch mit der eigenen Mutter auseinandersetzt, als er sich um eine Theorie zur Erklärung der Hysterie bemüht. Der oben zitierte Mannoni hat auf diesen Traum verwiesen (ebd., 51): „Die Entdeckung des Ödipus-Dramas hatte sich schon vier Monate vor dem Aufgeben der Trauma-Hypothese durch einen Traum angekündigt – wie bei Sophokles; und wie bei Sophokles wird dieser Traum als eine Maskierung der Wahrheit interpretiert.“ Freud schildert diesen Traum in einem Brief an Fließ vom 31. Mai 1897, also noch vor seiner theoretischen Wende (BaF, 266): „Unlängst träumte ich von überzärtlichen Gefühlen für Mathilde, sie hieß aber Hella, und ‚Hella’ sah ich dann nochmals fett gedruckt vor mir. Auflösung: Hella [Hella Bernays, geb. am 15. 01.1893] heißt eine amerikanische Nichte, deren Bild wir bekommen habe[n]. Mathilde könnte Hella heißen, weil sie unlängst über die Niederlagen der Griechen so bitter geweint hat. Sie begeistert sich für die Mythologie des alten Hellas und sieht in allen Hellenen natürlich Helden. Der Traum zeigt natürlich meinen Wunsch erfüllt, einen pater als Urheber der Neurose zu ertappen, und macht so meinen noch immer sich regenden Zweifeln ein Ende.

Michael Schröter merkt zum zeitgeschichtlichen Hintergrund des Traumes an (ebd., 260, FN 9): „Die Türkei hatte am 18. April, veranlaßt durch Einfälle griechischer Truppen in ihr Hoheitsgebiet (Thessalien und Kreta), Griechenland den Krieg erklärt und nach einigen kleineren Erfolgen am 14. Mai den entscheidenden, Friedensverhandlungen erzwingenden Sieg erzielt.“ Schon hier zeigt sich eine gewisse Analogie zum Ödipus-Mythos: Den Griechen war es gelungen, das traditionell zu ihnen gehörende Thessalien und Kreta von den Türken zurückzuerobern, sie wurden jedoch erneut vertrieben. Ödipus stammte ursprünglich aus Theben, wurde von dort ausgestoßen, kehrte später zurück, um erneut verbannt zu werden.

Im Traum erlebt Freud offenbar erotische Gefühle gegenüber seiner ältesten – damals knapp zehnjährigen – Tochter Mathilde. Fühlt sich Freud als Vater eines Missbrauchs fähig? Wohl kaum. Er berichtet zwar nichts über seine Gefühlsreaktion auf den Traum, es ist jedoch wohl anzunehmen, dass er vor dieser Vorstellung – gerade auf dem Hintergrund seiner Überzeugung von der krankmachenden Wirkung dieser Aktion – eher zurückschreckt. Es erscheint mir also etwas unvermittelt, wenn Freud in diesem Traum die eigene Hypothese bestätigt sieht, wonach die Vergewaltigung durch den Vater als alleinige Ursache der Hysterie zu gelten habe: „Der Traum zeigt natürlich meinen Wunsch erfüllt, einen pater als Urheber der Neurose zu ertappen, und macht so meinen noch immer sich regenden Zweifeln ein Ende“. Er deutet den Traum also als „Wunscherfüllung“, er wünscht sich, die drei Monate zuvor ge­äußer­te Anklage gegen den eigenen Vater aufrechterhalten zu können. Offen­sicht­lich wäre es für ihn zu diesem Zeitpunkt leichter, eine Bestätigung seiner Entwertung zu finden, als sich einen fatalen Irrtum einzugestehen.

Der Name der Tochter vermischt sich eigentümlich mit dem der Nichte Hella, einer Tochter von Anna Freud-Bernays, der zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester (möglicherweise auch Nichte) von Sigmund Freud, die nach seiner eigenen kindlichen Überlegung dem Seitensprung seiner Mutter mit ihrem Stiefsohn Philipp entstammt. Hella ließe also – über ihre Mutter Anna – auch den (zumindest phantasierten) Inzest von Mutter Amalia mit ihrem (Stief‑)Sohn Philipp assoziieren.

Nach Krüll (200) mag Sigmund seine Schwester Anna zeitlebens nicht besonders. Dabei haben die beiden eine enge familiäre Verbindung: Freud lernt seine Martha kennen, als diese eben jene Anna, ihre Freundin, besucht. Zwei Monate später, am 17.6.1882, verloben sie sich [Endnote 1]. Anna heiratet am 14.10.1883 Marthas Bruder Eli, die Heirat von Martha und Sigmund erfolgt erst am 14.9.1886. Annas und Elis zuletzt geborene Tochter (geb. 1894) trägt den Namen Martha. Vielleicht im Gegenzug dazu wird Marthas und Sigmunds gut ein Jahr später geborene letzte Tochter Anna genannt.

Anna Freud-Bernays und ihr Mann wandern im Jahr 1892 nach Amerika aus. Hella ist das erste Kind, das dort geboren wird (Krüll, 312 f.), mit ihr ist also die Auswanderung der Schwester/Nichte eng assoziiert. Damit könnte Hella ihren Groß-/Onkel Sigmund auch an die eigene Auswanderung von Freiberg nach Wien (wie oben ausgeführt) erinnern, und damit auch an den Fehltritt Amalias mit ihrem Stiefsohn Philipp, der mutmaßlich zur Aufspaltung der Familie zwischen Wien und Manchester geführt hatte.

Mit dem Namen Hella sind für Freud zwei geographische Bezeichnungen verknüpft: Zunächst Amerika, wo Hella geboren wurde; von dort hatte Freud das Bild der Nichte geschickt bekommen. Dann verweist ‚Hella’  auch auf „Hellas“, das durch den Ursprung der Demokratie wiederum eng mit Amerika verknüpft ist. Umgekehrt lässt sich mit dem ersten geographischen Begriff – Amerika – wiederum ein Name assoziieren: Amalia. [Endnote 2]

Bemerkenswert ist, dass Freud im Traum an die Tochter Mat­hilde denkt, denn in seiner Theorie über den Ursprung hysterischer Symptome, bei der er einen vergewaltigenden ‚pater’ ertappt zu haben glaubt, bezieht er sich ja auf Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren. Da könnte er sich, wenn er seine Theorie bestätigt sehen wollte, im Traum eigentlich nur auf seine Tochter Sophie beziehen, die damals vier Jahre alt ist – genauso alt, wie die im Traum auftauchende Hella. (Die dritte Tochter, Anna, ist zur Zeit des Traumes gerade eineinhalb Jahre alt, kommt also für die Bestätigung der Theorie auch nicht in Frage.) Aber bei seinen Hirngespinsten kann Freud sich ja nun wirklich nicht auf Sophia (griech.: Weisheit) stützen.

Mathilde be­ginnt mit denselben Buchstaben wie mater (lat.: Mutter), dem passenden Ge­genstück zu dem von Freud als überführt gewünschten und auffälliger Weise ins Lateinische gesetzten „pater“ (lat.: Vater). Die Hervorhebung und Abtrennung der ersten Silbe „Mat“ wird noch dadurch unterstrichen, dass sich aus dem Namensrest „Hilde“ die Verbindung zu „Hella“ leichter ergibt.

Mathilde ist laut Brief vom 17. März 1897 an Diph­therie erkrankt, einer teilweise tödlich verlaufenden Krankheit, so dass Freud sie bereits „verloren geben wollte“ (BaF, 246). Ein wesentliches diagnostisches Merkmal bei Diphtherie ist ein grau-weiß­li­cher Belag auf den Mandeln – was vorzüglich als Symbol für eine orale Vergewaltigung gedient haben könnte, über die Freud damals so gerne spekuliert hat.

Mathilde erholt sich, und ihre Quarantäne wird aufgehoben. Da bekommt einige Tage später Freuds ältester Sohn Martin Halsschmerzen, die von dem Kinderarzt Doktor Laufer als ‚Diphtherie’ diagnostiziert werden. Dies berichtet Freud, emotional sehr be­rührt, im Brief an Fließ vom 12. April 1897. Eine Nacht lang ist er ganz unsicher, wer von den Kindern diese mutmaßliche Epidemie überleben werde. Die Feststellung des ärzt­lichen Kollegen erweist sich jedoch am nächsten Tag als voreilige Fehldiagnose, wofür sich der Ur­heber der unnötigen Aufregung entschuldigt (BaF, 249).

Freuds Angst, dass Mathildes Geschwister an Diphtherie erkrankt seien, lässt an seine ungefähr zwei Monate zuvor brieflich geäußerte Befürchtung denken, seine Geschwister seien Opfer einer (oralen) Vergewaltigung durch den Vater, da sie an hysterischen Symptomen litten (wobei er, wie gesagt, auch insgeheim sich selbst unter diese Opfer väterlichen Missbrauchs rechnen musste). Anknüpfend an die voreilige Fehldiagnose von Dr. Laufer könnte sich Freud die Frage stellen, ob er seine Diagnose von der Perversion des Vaters nicht ebenso allzu voreilig vorgenommen hätte. Schaut er da nicht auch – so wie Doktor Laufer bei seinem Sohn Martin – den Geschwistern im übertragenen Sinne allzu flüchtig in den Hals und sorgt damit für unnötige Aufregung?

Eine weitere Assoziation mit dem Namen Mathilde verweist auf eine tödliche Therapie: In der Analyse eines Traumes vom 23./24. Juli 1895 spielt zunächst das Betrachten des Halses und die Entdeckung eines diphtheritischen Belags eine Rolle. Im Rahmen der Interpretation gibt Freud zu, er habe bei einer Patientin „durch die fortgesetzte Ordination eines Mittels, welches damals noch als harmlos galt (Sulfonal),“ eine schwere Vergiftung hervorgerufen, an der sie verstorben sei. Die Patientin habe Mathilde geheißen. Dies erinnert ihn an „die schwere Erkrankung meiner ältesten Tochter vor nahezu zwei Jahren“. „Jetzt [zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Gedanken, 1899] kömmt es mir beinahe wie eine Schicksalsvergeltung vor. … diese Mathilde für jene Mathilde;“ (Freud, 1899/1999, 76 f.). Mit dem Namen Mathilde verknüpft Freud also einen Gedanken an sein therapeutisches Fehlverhalten [Endnote 3]. Stellt es nicht auch eine falsche Therapie dar, bei jeder Hysterie auf das Bekenntnis einer väterlichen (oralen) Vergewaltigung in frühester Kindheit zu drängen?

Mit Mathilde assoziiert ist schließlich auch die Trauer über die Niederlage der Griechen, deren Mythen sie liebt. Freud selbst ist – wie oben dargestellt – besonders von dem Drama König Ödipus des Sophokles angetan. Mit der Trauer von Mathilde könnte sein eigenes Mitleid mit dem Schicksal der Griechen allgemein, und insbesondere mit dem Schicksal des Helden Ödipus angestoßen sein. Dieser erkennt mit Entsetzen und Trauer den Verlust des Vaters, dem er durch das Ränkespiel seiner Mutter entfremdet wurde. Durch Freuds ausgedehnte Spekulationen über die väterliche Perversion ist ihm Jakob kurz nach dessen Tod in weiteste Ferne gerückt. Selbst im Mai 1897, zum Zeitpunkt des Traumes, wünscht er sich noch, den Vater als Urheber der Hysterie zu ertappen. Im Traum, in Identifikation mit seiner Tochter Mathilde, könnte Freud jedoch bereits bitterste Traurigkeit erleben, und zwar über seine unberechtigte, abgrundtiefe Entwertung des eigenen Vaters, dem er, ähnlich wie Ödipus, tödlich entfremdet war, dazu mutmaßlich ‚verführt’ durch seine Mutter Amalia.

Womöglich sieht sich Freud auch selbst – als Möchte-gerne-Held – von einer Niederlage bedroht: seinen „Wunsch“, die rätselhafte Hysterie auf eine Vergewaltigung durch den Vater zurückzuführen gibt er vier Monate nach dem Traum von sich aus auf, obwohl er derartige Hirngespinste zunächst für ebenso bedeutsam hält, wie die Entdeckung der Quellen des Nils. Im Mai 1897 konfrontiert er sich im Traum damit, dass keineswegs immer der „pater“ als Urheber der Neurose zu „ertappen“ sei, sondern dass auch die „mater“ eine entscheidende Rolle spielen könnte: Die unwissentliche Entfremdung vom Vater durch die Mutter, die sich dadurch entwickelnde Rivalität, sowie die Vereinnahmung durch die Mutter tragen zu seiner rätselhaften Seuche (Hysterie) bei. Anders als dem thebanischen Helden bleibt Freud jedoch die bewusste Lösung seines eigenen Lebensrätsels versagt.

(Hier: Grafische Darstellung im PDF-Format.)

[Endnote 1] Angaben der Daten nach Stammbaum der Familie Freud, in: Krüll, 312 f.; Angabe des Verlobungsdatums nach Marthe Robert, 354

[Endnote 2] Freud selbst benennt in Zur Psychopathologie des Alltagslebens im Zusammenhang mit dem Vergessen eines Namens seine Mutter „Amalia“ (Freud, 1901/1954, 30). „Amalia“ stand auch auf ihrem Grabstein (nach Kobler, 1962, 168).

[Endnote 3] An dieser Stelle könnte er sich seiner weiteren therapeutischen Glanzleistungen erinnern, beispielsweise an die Empfehlung des Kokains an seinen Freund Ernst Fleischl, womit er dessen Untergang beschleunigt hatte. Auch an dieses Opfer seiner skrupellosen Verordnungspraxis könnte er sich durch den Vornamen eines seiner Söhne erinnern.

Hier geht’s zurück zum letzten Kapitel (biografische zu Freud und Ödipus), hier zum nächsten (Freuds angebliche Fehlleistung vom Sommer 1898, von Peter Swales in ein völlig anderes Licht gesetzt), und hier geht’s weiter zur Übersicht zu Freud.