Der Mythos von Narziss

… in insgesamt 7 Versionen

Über das tragische Schicksal von Narziss

Die Geschichte von Narziss ist eine tragische Leidensgeschichte mit tödlichem Ausgang: Entweder Tod aus Verzweiflung bis hin zu Selbstmord, oder aber Tod als jugendliches Mordopfer.

Der Mythos nach Friedrich Wieseler (1856)

Der Mythos von Narziss erzählt von einem schönen Jüngling, der an einer Quelle sein Spiegelbild betrachtet. Er versucht dabei so verzweifelt, dieses Spiegelbild zu ergreifen, dass er an dieser Quelle stirbt.

Narziss – Gemälde von Caravaggio, 1598/99 (Galleria Nazionale d’Arte Antica, Rom)

Es existieren verschiedene Versionen, was GENAU hier eiggentlich passiert. In der wohl bekanntesten Fassung – von Ovid – gerät er dabei in eine Art Wahn: Er verliebt sich in sein Spiegelbild und versucht deshalb, es verzweifelt zu erfassen. Am Ende stirbt der schöne Jüngling an der Quelle (Wieseler, S. 5f.): „Den Sturz ins Wasser kennen schon Kallistratos, wie es scheint, und Plotinos. Doch scheint es, als sei diese Weise des Todes in der Literatur erst später aufgekommen als das Sterben an der Quelle. Je später der Schriftsteller, desto häufiger ist vom Tod im Wasser die Rede. Trotz der Abweichungen im Einzelnen stimmen jedoch alle bisher erwähnten Schriftsteller, welche die Art und Weise des Leidens und Sterbens des Narkissos berühren, darin überein, dass sie jenes mit dem Schauen in das Wasser in Zusammenhang bringen.

Die Quelle als der Ort, an dem Narziss stirbt, ist sicherlich mit Bedacht gewählt: Narziss gilt als das Kind zweier Wasserwesen, als Sohn des Flussgottes Kephissos und der Quellnymphe Leiriope. Er ist also bei seinem Tod zu seinem Ursprung, seinen Quellen, zurückgekehrt. In dieser Symbolik könnte sich die Einsicht spiegeln, dass Geburt und Tod – von der Natur der Sache her – nun einmal eng miteinander verknüpft sind.

Gerade, wenn man – wie ich – die Interpretation des Mythos durch die Psychoanalyse nachvollziehen will, ist es interessant, Friedrich Wieseler (1856) heranzuziehen: Auf ihn hat sich auch der Freud-Schüler Otto Rank (1911) bezogen, als er in einem ersten Artikel über den „Narzissismus“ die Gestalt des Narziss für die Psychoanalyse zu vereinnahmen suchte. (Das Buch von Wieseler ist übrigens online einzusehen: https://books.google.de/books/about/Narkissos.html?id=uB5BAAAAcAAJ&redir_esc=y.)

Friedrich Wieseler hatte den Mythos von Narziss in verschiedenen Varianten dargestellt, von denen ich sieben Versionen unterscheiden will, die ich wiederum in zwei Klassen einsortieren möchte.

Klasse 1: Das Leiden an der Vergänglichkeit von geliebten Angehörigen und von sich selbst

In der einen Klasse von Versionen zeigt Narziss offenbar große Sehnsucht nach geliebten Angehörigen – nach seiner verstorbenen geliebten Zwillingsschwester, nach dem (womöglich ebenfalls verschwundenen) Vater, dem Flussgott Kephissos, oder nach der Mutter, der Quellnymphe Leiriope. Er zeigt ebenso eine tiefe Verbundenheit mit sich selbst.

Version 1 – Verlust der Zwillingsschwester (Pausanias, nach Wieseler, S. 2 f.): „Narkissos habe eine Zwillingsschwester gehabt, und wie ihr Aussehen im Übrigen durchaus gleich gewesen sei, so haben beide auch dasselbe Haar gehabt und haben sich ähnlich gekleidet und seien auch mit einander auf die Jagd gegangen. Narkissos aber sei in Liebe zu der Schwester entbrannt gewesen, und als das Mädchen gestorben, habe er, zu der Quelle gehend, allerdings das Bewußtsein gehabt, dass er seinen eigenen Schatten sehe, dieses sei ihm aber auch bei dem Bewußtsein eine Erleichterung der Liebe gewesen, insofern er nicht seinen eigenen Schatten, sondern ein Bild seiner Schwester zu sehen wähnte.

Version 2 – Sehnsucht nach dem Vater (unbekannte Quelle, nach Wieseler, S. 5): „Ein Römischer Dichter leitet den Umstand, dass Narkissos sich im Wasser erblickte, daher ab, dass dieser, der als Sohn eines Flussgottes die Quellen hoch gehalten, seinen Vater im Wasser gesucht habe. Ein anderer führt, ohne von dem Letzteren zu wissen, nur sein stetes Umherschweifen in den Wäldern und seine Liebe zu den heiligen Quellen in ihnen als Grund dafür an.

Version 3 – Suche (und Sehnsucht ?) nach der Mutter (Vibius Sequester, nach Wieseler, S. 5): „Bei Vibius Sequester kommt Leiriope [Mutter von Narziss] als Name der Quelle vor, in welcher Narkissos sich erblickte“.

Zumindest in Bezug auf die Zwillingsschwester berichtet Pausanias, dass Narziss durch die Betrachtung des Spiegelbildes im Wasser an die Schwester erinnert wird. Man kann sich leicht vorstellen, dass das eigene Bild auch an den Vater oder die Mutter erinnert, denn allzu häufig gleicht ja ein Kind von den Gesichtszügen her seinen Eltern. Ein Text spricht von der „Liebe zu den heiligen Quellen“ bei Narziss. Er sehnt sich offenbar nach seinen Angehörigen, ist also sehr wohl ein Mensch, der lebendige, liebevolle Beziehungen pflegt. Dies sei hier so besonders betont, weil es zur psychoanalytischen Deutungstradition gehört, dem Narziss aus dem Mythos und dem daraus abgeleiteten ‚Narzissten’ Beziehungsunfähigkeit zu unterstellen!

Von der Schwester wird erzählt, dass sie kurz zuvor verstorben ist. Vielleicht soll ja die Geschichte mit den Eltern etwas ähnliches zum Ausdruck bringen, vielleicht sind ja auch sie dem Narziss verloren gegangen – für viele Menschen eine schmerzliche Erfahrung, die Eltern durch den Tod zu verlieren. Wie bereits gesagt: In den Gesichtszügen der Kinder spiegelt sich häufig genug deren Abbild. Man kann sich also beim Blick in den Spiegel immer wieder an diesen Verlust erinnern, so wie man eventuell von anderen daran erinnert wird: „Du siehst ja ganz aus wie deine verstorbene Schwester / dein verstorbener Vater / deine verstorbene Mutter!“

Version 4 – Das Sich-selbst-festhalten-Wollen (Ovid, 427 ff.): Ovid beschreibt sehr plastisch, wie Narziss nach seinem eigenen Spiegelbild im Wasser greift und es zu fassen versucht:

Küsse gab er, wie oft! vergebens der trügenden Quelle,
tauchte die Arme, wie oft! den erschauten Hals zu umschlingen,
mitten hinein in die Flut und kann sich in dieser nicht greifen,
weiß nicht, was er da schaut, doch was er schaut, daran brennt er.

Auf dem Hintergrund der zuvor genannten drei Versionen scheint dieses Verhalten von Narziss verständlich: Er ist sich auch über die eigene Vergänglichkeit im Klaren und leidet darunter! Seine Schönheit und Jugend unterstreichen diese Deutung noch – wie oft wird über die Vergänglichkeit von gerade diesen beiden Attributen eines Menschen geklagt! Das verzweifelte Greifen nach dem eigenen Bild oder dem der vermissten Angehörigen im Wasser ist ein plastisches Symbol für die Unaufhaltbarkeit der Vergänglichkeit! Die Bemühungen des Narziss sind jedoch zum Scheitern verurteilt: Wie das Wasser, so lässt sich auch die verrinnende Lebenszeit nicht festhalten!

In der Antike wurde Narziss gerne auf Grabmälern dargestellt (Wieseler, S. 31, 34); die Narzisse, die aus dem Blut des verstorbenen Narziss hervorgegangen sein soll, galt als Blume der Unterwelt (Wieseler, S. 80 f.) und war der Persephone geweiht, einer Göttin der Unterwelt (Wieseler, S. 129). Sein Beiname sei „Schweiger“ gewesen (Wieseler, S. 80, „Bei den Römern hießen die Todten ‚die Schweigenden’ (silentes)“). Für Wieseler ist Narziss also ein „Dämon des Schlafes oder Todes“ (ebd.).

Ich würde es gerne etwas anders formulieren: Narziss symbolisiert und repräsentiert (in dieser Klasse von Versionen) das Verzweifeln an der Vergänglichkeit, was ihn sowohl mit dem Verlust geliebter Mitmenschen hadern lässt, als auch mit der Endlichkeit der eigenen Person.

Dieses Erleben von Trauer und Sehnsucht lassen Narziss in meinen Augen – ich möchte es an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen – als eine beziehungsfähige Gestalt erkennen. Darüber hinaus verkörpert er ein ausgesprochenes Selbst‑Bewusstsein: Er ist sich seiner selbst als ein unverwechselbares, einmaliges Wesen bewusst, was ihn an der Erkenntnis seiner Endlichkeit leiden lässt! Insofern ist der Aspekt der Selbst-Liebe durchaus in diesem Mythos angelegt, allerdings in einer sehr gesunden, angemessenen Form!

Klasse 2: Das Leiden an der Aufdringlichkeit ungeliebter anderer

In der zweiten Klasse von Versionen leidet der schöne Jüngling an der Verfolgung durch drei Verliebte: Es sind dies die Nymphe Echo, die immer nur die Worte eines anderen nachplappern kann, sowie zwei Schwule, Ameinias und Ellops.

Version 5 – Die Begegnung mit Echo (Ovid, 379 ff.):
Einmal rief der Knabe, versprengt von der treuen Begleiter
Schar: ‚Ist jemand zur Stelle?’ – ‚Zur Stelle!’ erwiderte Echo.
Und er staunt und schickt nach allen Seiten die Blicke,
ruft: ‚So komme doch!’ laut. Sie ruft den Rufer. Da wieder
niemand kommt, ruft er: ‚Was fliehst du mich denn?’ und empfing der
Worte soviele zurück, als er selber eben gerufen.
Nochmals ruft er, getäuscht von der Wechselstimme: ‚So laßt uns
hier uns vereinen!’ – und Echo, nie lieber bereit, einem Klange
Antwort zu geben als dem, sie ruft zurück: ‚Uns vereinen!’
tut ihren Worten gemäß, sie tritt heraus aus dem Walde,
eilt, um den Hals, den ersehnten, die Arme zu schlingen. Doch jener
flieht und ruft im Fliehn: ‚Nimm weg von mir deine Hände!
Eher möchte ich sterben, als daß ich würde dein Eigen!’
Da gab nichts sie zurück als: ‚Daß ich würde dein Eigen!’

Und die Verschmähte verbirgt sich im Walde, sie deckt sich mit Blättern
schamvoll das Antlitz und lebt von nun an in einsamen Grotten.
Aber die Liebe, sie haftet und wächst mit dem Schmerz des Verschmähtseins,
nimmer ruhender Kummer verzehrt den kläglichen Leib, und
dörrend schrumpft ihre Haut, die Säfte des Körpers entweichen
all in die Lüfte. Nur Stimme und Knochen sind übrig. Die Stimme
blieb, die Knochen sind, so erzählt man, zu Steinen geworden.

Seitdem hält sie im Wald sich versteckt, wird gesehen an keinem Berg,
doch von allen gehört. Was in ihr noch lebt, ist der Klang nur.

So hatte sie er gekränkt, so andre aus Wasser und Bergen
stammende Nymphen und so zuvor die Kreise der Männer.
Ein Verachteter hatte die Hände zum Äther erhoben:
‚So mög’ lieben er selbst und so, was er liebt, nicht erlangen!’
Und dem gerechten Gebet stimmte zu die vergeltende Gottheit.

Es wird hier vordergründig behauptet, Narziss sei mit seinem Verhalten schuldig geworden, so dass er nun von der „vergeltenden Gottheit“ Rhamnusia (= Nemesis) bestraft werden müsse. Sie ist zuständig, wenn die natür­liche Ordnung verletzt wird, und wird hier wohl nicht ohne Bedacht als Rächerin hinzugezogen. Sie verhext quasi den Narziss, so dass er sich in sein eigenes Spiegelbild in der Quelle verliebt. Er möchte es unbedingt festhalten, was ihm jedoch nicht gelingt. Darüber verzweifelt er so sehr, dass er schließlich stirbt.

Betrachten wir zunächst noch einmal den Beginn der Geschichte: Narziss – der sich auch hier sogleich als durchaus soziales Wesen erweist, da er ja in einer Gruppe „treuer Begleiter“ unterwegs ist – wird regelrecht verfolgt von der Nymphe Echo. Sie hatte sich übrigens den Zorn der Göttin Hera zugezogen, weil sie Hera in lange Gespräche verwickelt hatte, um dem Göttervater Zeus einen Gefallen zu tun – dieser konnte ungestört seinen Seitensprüngen nachgehen, während seine Gattin Hera abgelenkt war. Als Hera das Komplott bemerkte, hat sie Echo mit dem Verlust ihrer Sprache bestraft. Seither konnte sie nur noch das nachsprechen, was andere zuvor gesagt hatten (Ovid, 359 ff.). Echo, die es mit der Treue in Beziehungen offenbar nicht so besonders ernst nimmt, hat sich also in Narziss verliebt.

Aus Echo wird, salopp gesagt, spätestens nach dieser Bestrafung eine hohle Tussi. Könnte sich irgendjemand allen Ernstes vorstellen, mit Echo eine Beziehung zu haben? Bei ihr kommt ja immer nur das zurück, was man selbst gerade gesagt hat. Die Gesprächs-Kostprobe muss man sich vielleicht noch einmal ganz konkret und komprimiert – nach dem oben zitierten Ovid – wie folgt vorstellen:

NA: Ist jemand zur Stelle?
EC:  … zur Stelle!
NA:  So komm doch!
EC: … komm doch!
NA:  Was fliehst du vor mir?
EC:  Was fliehst du vor mir?
NA:  So lass uns hier zusammenkommen!
EC:  … zusammenkommen!
NA:  Eher will ich sterben, als dir gehören!
EC:  … dir gehören!

Narziss verzichtet auf das Techtelmechtel mit einer Nymphe, mit der sich ja doch nur hohle Gespräche ergeben. Er kann sich lebhaft vorstellen, wie solch eine Beziehung weitergehen würde. Echo hat kein bisschen Eigenes zu bieten. Narziss beweist, dass er Beziehung sehr ernst nimmt, wenn er es in dieser Situation noch nicht einmal zu einer kleinen Affäre kommen lässt!

Es geht wohl über Echos beschränkten Horizont hinaus, wenn sie mit einer klaren, plausiblen Abfuhr von Narziss konfrontiert wird – also mit einer echten, selbstbewussten Reaktion. Echo scheint zu denken: „Wenn ich ihn liebe, dann muss er mich doch auch lieben!“ Sie erwartet von Narziss also ein Echo. Weil Narziss aber nicht echohaft reagiert, zieht sie sich tödlich beleidigt zurück. Sie siecht vor sich hin und endet als traurige, bemitleidenswerte Gestalt. Damit will sie wohl Schuldgefühle auslösen, quasi der letzte Trumpf, um vielleicht doch noch ein Echo herbeizuführen: „Wenn es mir schon so schlecht geht, dann soll es dir auch schlecht gehen, dann sollst du wenigstens Schuldgefühle haben!“ Echo zeigt damit für mich deutlich ihre Beziehungsunfähigkeit. Sie kann die klare Resonanz ihres Gegenübers nicht ertragen. Narziss lässt sich zwar – zu Recht! – nicht durch ihr Beleidigt-Sein beeindrucken und in seinem Handeln umstimmen, dennoch unterliegt er am Ende dieser subtilen Strategie.

Psychologisch gesehen zeigt das Verhalten der Nymphe Echo – ihr Nachplappern von dem, was andere gesagt haben –, dass sie unfähig geworden ist, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Dies lässt eine spezifische Leidensgeschichte seit ihrer Kindheit vermuten: Irgendeine Erziehungsperson hat von ihr anscheinend verlangt, jedes eigene Bedürfnis zu verleugnen und sich ganz an die Bedürfnisse der anderen anzupassen. Echo hat wohl wenig echte Kontaktaufnahme erfahren. Das macht ihre Beziehungslosigkeit im Kontakt mit dem schönen Jüngling zumindest verständlich, wenngleich sie damit für eine echte Beziehung natürlich kein bisschen attraktiver wird.

Echo wiederholt also gegenüber Narziss das, was sie vermutlich am eigenen Leib erlebt hat: das massive, rücksichtslose Sich-Aufdrängen, ohne die Bedürfnisse des anderen zu achten.

Version 6 – Die Begegnung mit Ameinias (Konon, nach Wieseler, S. 2): „In Thespeia in Böotien lebte Narkissos, ein sehr schöner Knabe und Verächter des Liebesgottes sowie der Liebhaber. Die anderen Liebhaber nun gaben ihr Lieben auf; aber Ameinias blieb beharrlich und bat inständigst. Als jener ihn aber nicht annahm, sondern ihm sogar ein Schwert schickte, entleibte er sich vor der Thür des Narkissos, nachdem er den Gott oftmals angefleht hatte, ihm Rächer zu werden. Narkissos aber, nachdem er sein Gesicht und seine Gestalt an einer Quelle mit Ähnlichkeit im Wasser erscheinend erblickt hat, wird allein und in seltsamer Weise sein Liebhaber. Endlich entleibt er, rath- und hülflos, und dafür haltend, dass er gerecht leide für seinen Übermuth in Betreff der Liebesneigung des Ameinias, sich selbst. Und seitdem haben die Thespienser beschlossen, den Liebesgott mehr zu verehren und ihm ausser dem gemeinschaftlichen Dienste auch ein Jeder für sich Opfer darzubringen.

Der „beharrliche“ Schwule Ameinias meldet – wie Echo – seine Beziehungsbedürfnisse ziemlich massiv bei Narziss an. Auch er glaubt, mit seinem Liebeswerben Anspruch auf ein entsprechendes Echo zu haben. Es heißt, dass Narziss ein „Verächter“ der Liebhaber gewesen sei. Fließt hier vielleicht schon eine beleidigte Entwertung mit ein? Narziss steht halt nicht auf Homosexualität. Na und? Ist er damit schon ein „Verächter“? Die Aufdring­lich­keit des Ameinias ist ihm auf die Nerven gegangen. Dass er dem Bewerber ein Schwert schickt, mag folgenden Hintergrund haben: Nach Harald Patzer (1982, 72 ff) ist die Knabenliebe im alten Griechenland als Bestandteil der Sozialisierung junger Männer zu Kriegern zu sehen. Der ältere Liebhaber machte dabei dem Jugendlichen, den er zum Krieger ausbilden wollte, Geschenke, u.a. eine Waffenrüstung. (Der junge Mann bzw. dessen Familie durften den Bewerber durchaus zurückweisen.) Möglich, dass Narziss hier mit der Übersendung des Schwertes ein solches Geschenk ablehnt.

Demonstrativ setzt Ameinias nun seinen Selbstmord in Szene. Und er ruft noch im Sterben einen Gott an, ihn zu rächen. Was für eine aufgeblasene Gebärde: „Weil Narziss, dieser gemeine Kerl, nicht mit mir ins Bett geht, kann ich nicht länger weiterleben! Aber dafür soll er bestraft werden!“ Ähnlich demonstrativ hatte bereits Echo ihr Gekränkt-Sein inszeniert. Bei Ovid scheinen dann schließlich Ameinias und Echo zusammen die Rache der Götter zu bewirken, weil ihre ‚Liebe’ so garstig zurückgewiesen wurde.

Wenn ich auch über die Lebensgeschichte von Ameinias spekuliere, dann denke ich mir, dass er selbst in seiner Kindheit die Missachtung seiner körperlichen Selbstbestimmung erlebt hat, dass auch ihm für Ansätze zur Wahrung seiner Intimsphäre ein starkes Schuldgefühl vermittelt wurde. Er konnte sich selbst womöglich nicht gegen Übergriffe erfolgreich zur Wehr setzen, weil ja Knabenliebe – wir würden sie heute wohl als sexuellen Missbrauch von Jungen bezeichnen – in Teilen des alten Griechenland gesellschaftlich gebilligt bzw. sogar als Initiation zum Krieger gefordert war. Die Knaben konnten sich nicht unbedingt aussuchen, ob sie die Zudringlichkeit der Männer über sich ergehen lassen wollten oder nicht.

Ameinias, früher womöglich selbst das Opfer von Zudringlichkeit, überträgt ver­mut­­lich die am eigenen Leib erlebten – und damit erlernten – Verhaltens­mu­ster auf seinen Kontakt zu Narziss, als er ihm gegenüber so aufdringlich wird. Weil der Täter aber nicht zum Zuge kommt, stellt er nun Narziss, das Opfer seiner Nachstellungen, in Verdrehung der Wahrheit als Täter hin. Leider viel zu oft eine erfolgreiche Strategie.

Version 7 – Die Begegnung mit Ellops (Probus, Pomponius Sabinus, nach Wieseler, S. 6f.): „Ganz abweichend dagegen ist folgende Nachricht des Grammatikers Probus: ‚Die Blume Narkissos hat, wie Asklepiades berichtet, ihren Namen von Narkissos, dem Sohne des Amarynthos … nachdem er von dem Ellops. (?) getödtet war, brachte er aus seinem Blute die Blumen hervor, welche seinen Namen tragen.’ … in der Sage bei Probus (scheint) … der Tod des Jünglings als Folge verschmähter Liebe gefasst zu sein.“ Pomponius Sabinus habe ergänzt, „dass der Mörder des Narkissos ein Liebhaber desselben gewesen [sei]“.

Auch wenn Friedrich Wieseler von dieser Version des Mythos regelrecht überrascht zu sein scheint und sie für „ganz abweichend“ hält, habe ich den Eindruck, dass sie die ganze Geschichte eher noch deutlicher macht: der verschmähte Liebhaber Ellops bringt Narziss um, weil das Opfer ihm nicht willfährig ist. Narziss wird also massiver Gewalt ausgesetzt, weil er das aufdringliche homosexuelle Begehren des anderen ablehnt!

Es wird deutlich, dass Narziss in dieser zweiten Klasse von Versionen wegen seinem selbst-bewussten Verhalten zu leiden hat. Seine völlig berechtigten, gesunden Versuche, sich selbst und seine Bedürfnisse zu behaupten, werden von Echo, Ameinias und Ellops nicht akzeptiert. Es wird versucht, in ihm Schuldgefühle auszulösen, oder er wird körperlich drangsaliert. Dies ist ein Mechanismus, den ich in meiner Praxis oft geschildert bekomme: als Ausgangspunkt von Leidenssituationen vieler meiner Klienten und Klientinnen.

Fortsetzung: Die absonderliche (Fehl-)Deutung des Mythos in der Psychoanalyse: Hier