Ein Räthsel
Ein Brief von fremder Hand aus fernem Lande.
Die Herbstnacht trägt’s beim Lampenschein mir zu:
Ein Herbstesblatt mit schwarzem Trauerrande.
Du gingst dahin. Auch du. Da steht’s. Auch du.
Stumm ruht mein Blick darauf. Mir ist, als sähen
Mich deine Augen – unter’m dunklen Haar
In meine Züge sehe ich sie spähen –
Und deine Stimme sagt: So ist’s, ich war.
Verstummt jetzt, und nur eines Schattens Schweigen.
Doch über mich fällt die Erinnerung
An fernen Tag, umkränzt von Blüthenzweigen;
Er sah uns miteinander frühlingsjung.
So jung, wie einmal nur in Wundertagen
Das Leben blüht aus süßberauschtem Blut;
So jung, wie einmal nur die Herzen schlagen
Im Wellendrang der ersten Sehnsuchtsfluth.
Da gingen wir durch Einsamkeit zusammen
Im weiten Wald, allein, nur du und ich;
Um uns ein Duft, ein Flimmern und eine Flammen,
Und nie sah Schöneres mein Aug’ als dich.
Ein Zauber war’s, an den nicht Worte reichen,
Ein Traumgebild in märchenhafter Pracht:
Es war der Schönheit Wunder ohnegleichen,
Wie Sonnenglanz und auch wie Sternennacht.
So gingst du neben mir. Wie fern entschwunden!
Ein langes Menschenleben folgte nach,
Das vor der Welt in Freundschaft uns verbunden –
Du aber hasstest mich seit jenem Tag.
Seit jenem Tag, der in die Hand mir legte,
Was trunken machte jedes Herzens Schlag
Und keinen Schlag in meinem Herzen regte
Und keinen Wunsch aus meinen Augen sprach.
Warum? Nicht weiß ich’s. Nur dass es gewesen,
Mir selbst bis heut’ noch nicht enträthselbar,
Und dass dein Blick in meinem es gelesen
Und Hass die Antwort deines Stolzes war. –
Herbst ist’s. Auch du dahin. Ich seh’ dich stehen,
Wie die Erinnrung mir dies Blatt belebt,
Und sehe dich in meinen Zügen spähen,
Ob doch geheimer Schlag mein Herz durchbebt.
In: Vom Morgen zum Abend. (2. Aufl., o.J. [1907]), 354 f
Meine Mutmaßung: Das Gedicht bezieht sich auf dieselbe Frau, Sophie Stammann, die auch in dem Gedicht mit demselben Titel [“Ein Räthsel” (1)] gemeint ist.