Analyse

Mit Sophie Freud gegen falsche Propheten – Verleugnung und Verharmlosung von Traumata von Sigmund Freud bis Otto Kernberg

Zusammenfassung:

Anhand der „Lindauer Thesen“ von Otto Kernberg (1997/1999) kritisiere ich ein altes „psychotherapeutisches“ Denkmuster, das die Opfer von Gewalt – z.B. von „sexuellem Missbrauch“ = sexualisierter Gewalt – zu Tätern erklärt.

Diese Kernberg-Kritik berührt einen wunden Punkt der Psychoanalyse: Sigmund Freuds fundamentalen theoretischen Umbruch im September 1897. Ab diesem Zeitpunkt glaubt er seinen Patientinnen und Patienten nicht mehr, wenn sie ihm erzählen, dass sie als Kinder sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen seien. Vielmehr beschuldigt er nun die Betroffenen selbst, dass sich ihre eigenen sexuellen Impulse und Phantasien gegen die Eltern richteten – und dadurch entstünden ihre psychischen oder psychosomatischen Probleme. Freud verwirft damals eine Trauma-Perspektive und versteift sich auf eine Trieb-Perspektive. Die neue, groteske These wurde mit rhetorischer Hartnäckigkeit durchgepeitscht.

Mit seinem Vortrag von 1997 will Kernberg offenbar den Freudschen Umbruch zum 100. Jahrestag seiner Entstehung bekräftigen. Geradezu suggestiv bemüht er sich (offenbar erfolgreich, wie der Beifall auf der Audio-Aufnahme zeigt), die alte Freudsche Position erneut unters Publikum zu bringen: Das Problem liege nicht in der Gewalterfahrung selbst, sondern in der (frühkindlichen) Entartung der Betroffenen.

Die nähere Betrachtung des Textes zeigt, dass er ganz offensichtlich auf Verwirrung angelegt ist. Verwirrung wird in der Hypnose strategisch angewandt, um Menschen offener zu machen für Suggestion: Der Wachposten Verstand wird durch ausgestreute Unklarheiten zum Grübeln gebracht und so abgelenkt, damit sich währenddessen die beabsichtigte Botschaft wie ein Eindringling einschleichen kann. Die Verwirrung, die Kernberg hier stiftet, soll ein wenig aufgelöst und verdeutlicht werden.

Ein Ergebnis dieser seit über 100 Jahren betriebenen Indoktrination: Nach Überzeugung von ca. zwei Dritteln einer 1999 befragten Stichprobe von 91 psychotherapeutischen ExpertInnen ist es für sie dann ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Erzählungen ihrer KlientInnen um ein Phantasieprodukt handelt, wenn diese KlientInnen die Schuld für das Geschehen eher beim Täter suchen oder wenn sie mit größerer Sicherheit davon ausgehen, dass dieses Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Damit wird deutlich, was für ein Ausmaß an geradezu grotesker Verwirrung im psychotherapeutischen Lager herrscht.

Vielleicht ein weiteres Symptom für diese Verwirrung ist die Deutlichkeit, mit der sich an Kernberg die Geister scheiden. Das kann durch einige exemplarische Reaktionen einiger Fachleute auf meine Kritik gezeigt werden.

 

Drei Fallbeispiele aus den „Lindauer Thesen“

In einem Vortrag bei den Lindauer Psychotherapiewochen von 1997 hat – so prägnant wie kaum ein anderer – der Psychoanalytiker Otto F. Kernberg die Position der (Freudschen) Psychoanalyse in Bezug auf die Auswirkung von Gewalterfahrungen auf Kinder und Erwachsene umrissen. Seine Ausführungen, die als Tondokument erhalten sind (Kernberg, 1997), wurden zwei Jahre später in einer Fachzeitschrift veröffentlicht (Kernberg, 1999). Kernbergs „Lindauer Thesen“ – wie ich sie nenne – spiegeln sehr präzise das, was damals seit genau 100 Jahren einen zentralen Bestandteil des Freudschen Theoriegebäudes ausmacht: Bei einem (meist kindlichen) Opfer von Gewalt wird behauptet, dass diese Gewalt lediglich die in den Betroffenen bereits angelegte triebhafte Deformationen aktiviert, woraus sich deren eigentliches Probleme ergebe. Nicht das Trauma – die Gewalterfahrung, die massive Überschreitung persönlicher Grenzen – wirkt sich schädigend auf das Seelenleben aus, sondern allein ein (diffus umrissener) Trieb der Betroffenen selbst.

Ich greife hier drei Fallbeispiele heraus, anhand derer diese Position besonders deutlich ins Auge sticht. Die Reihenfolge ist bestimmt durch ihr Auftauchen im Text.

Da die Formulierungen von Kernberg – m.E. mit Bedacht – sehr verwirrend sind, werde ich hier öfter Mutmaßungen anstellen: Was könnte Kernberg hier wohl gemeint haben? Um die Verwirrung offenzulegen, werde ich dann auch spekulieren: Warum hat er denn nicht das oder das gesagt, wenn er dies oder jenes gemeint haben sollte? Auf diese Weise soll versucht werden, diesen z.T. schier ungreifbaren Text ein wenig mehr zu fassen zu bekommen.

Fall 1

Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Überlebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von 12 Jahren aus dem Konzentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde“ (Kernberg, 1999, S. 9). Wer könnte unberührt bleiben von der lapidaren Schilderung eines solchen Elends, wenn man sich aufgrund dieses einen Satzes nur für einen kurzen Moment in die Situation dieses Kindes hineinversetzt? Ohne näher auf die massiv traumatisierende Erfahrung dieses Menschen einzugehen, gleitet Kernberg mit wenigen Worten zu dessen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter über, was im folgenden Satz mündet: „Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell vergewaltigt hatte, verhinderte, daß sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte“. Sehr gut kann ich mir vorstellen, dass die KZ-Erfahrungen das Seelenleben dieses Jungen und sein (zweifellos problematisches) Verhalten geprägt haben, dass diese Erfahrungen noch viel später sein Leben überschattet und auch seine Familie in Mitleidenschaft gezogen haben. Mit keiner Silbe wird jedoch der Dynamik einer solchen Entwicklung im Detail nachgegangen. Vielmehr zieht Kernbergs ein plumpes Resümee: „Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wiedergebe, dass dieser Mann sich seiner Familie gegenüber so verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentrationslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde.“ Verhöhnt nicht eine solche Äußerung in unerträglichem Maß alle Menschen, die eine solche Hölle mit schwersten seelischen Blessuren überlebt haben?

Beachtenswert ist die Passage, die Kernberg seiner Fallschilderung als theoretische Einleitung unmittelbar vorausschickt: „Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegenüber. Es besteht eine gegenseitige haßerfüllte Bezie­hung zwischen Täter und Opfer, wobei ein haßerfüllter Täter ein machtloses Objekt zerstören will, ihm Leid zufügen und es kontrollieren will. Diese unbewußte dyadische Struktur stellt eines der Hauptprobleme in der Behandlung dieser Patienten dar, da sie sich sofort in der Übertragung/Gegenübertragung manifestiert.“ (Es folgt dann unmittelbar: „Dazu drei Fallbeispiele: Ich möchte diese Problematik an einem ersten Beispiel praktisch und klinisch näher erläutern:“, und danach die oben zitierte Falldarstellung.)

Insgesamt steht dieser Text bereits unter einer verwirrenden Überschrift (Kernberg, 1999, S. 9): „Zur unbewußten dyadischen Struktur der Täter-Opfer-Rollen“. Was genau soll das heißen? Waren/sind Täter immer auch Opfer? Werden Opfer automatisch zu Tätern? Oder sind Opfer etwa – selbst in der Situation, in der sie Gewalt erfahren – immer jeweils (Mit-)Täter? Auch der weitere Text hilft nicht, das Rätsel dieser Überschrift zu entziffern.

Einerseits spricht Kernberg – in der dieser Einleitung folgenden, genannten Falldarstellung – davon, dass „aus dem Opfer ein Täter wird“ und: „Sie sehen also, wie Opfer und Täter in derselben Person vorhanden sind und so dyadische Situationen aktivieren“. Es wird also von Opfer- und Täter-Seiten bei ein und demselben Menschen gesprochen. Tatsächlich ist der Junge aus dem KZ ja anscheinend später zu einem problematischen Erwachsenen geworden. Will Kernberg also sagen, dass ein Mensch, der insgesamt von Hassgefühlen geprägt ist, sowohl Opfer-, als auch Täter-Seiten in sich tragen kann? Das hieße dann: „Klinisch gesehen steht also (in ein und derselben Person) ein hasserfülltes Opfer hassvoll einem hasserfüllten sadistischen Täter gegenüber.“

Bereits eine solche Behauptung (in dieser von mir vorgenommenen Auflösung) wäre natürlich höchst fragwürdig: Warum sollte ein Mensch dann, wenn seine Opfer-Seiten aktiviert sind, ein hasserfülltes und hassvolles Verhalten zeigen? Warum nicht eher angepasst, resigniert, depressiv, ängstlich, schuldbewusst, verzweifelt? Warum sagt Kernberg dann hier nicht z.B.: „Klinisch gesehen steht also (in ein und derselben Person) ein depressives, ängstliches, von Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen geplagtes Opfer einem hasserfüllten sadistischen Täter gegenüber“?

Kernbergs Formulierung in der oben zitierten Passage bezieht sich jedoch keineswegs allein auf eine Situation, wo Opfer und Täter in einer Person gemeint sind. Sondern er bezieht sich auch ziemlich eindeutig auf eine ganz konkrete 2-Personen-Opfer-Täter-Situation: „Es besteht eine gegenseitige haßerfüllte Bezie­hung zwischen Täter und Opfer, wobei ein haßerfüllter Täter ein machtloses Objekt zerstören will, ihm Leid zufügen und es kontrollieren will.“ Sollen wir also bei dem Jungen aus dem KZ doch an eine ganz konkrete, reale Opfer-Täter-Situation denken? Tritt also – nach Kernbergs Vorstellung – tatsächlich ein zwölfjähriger Junge hasserfüllt und hassvoll einem sadistischen KZ-Kommandanten gegenüber? Geht Kernberg dann – gemäß seiner Theorie über die Entstehung solchen Hasses in frühester Kinderzeit (Stichwort „orale Wut“ bzw. „oraler Neid“) – davon aus, dass der Junge seinen Hass an der Mutterbrust entwickelt und dann in das KZ mit hineingebracht hat? Ist er tatsächlich zu so einer Geschmacklosigkeit fähig?

Aber schon im nächsten Moment gleitet Kernberg von der realen 2-Personen-Opfer-Täter-Situation zu der 1-Personen-Opfer=Täter-Situation zurück, wenn es in dem letzten Satz der oben zitierten Passage heißt: „Diese unbewußte dyadische Struktur stellt eines der Hauptprobleme in der Behandlung dieser Patienten dar“.

Es ist eindeutig, dass Kernberg mit seiner Formulierung zweideutig sein möchte. So kann er jeweils sagen: Aber das habe ich doch so gar nicht gesagt! Oder, wie es seine Anhänger dann gerne formulieren: Aber das hat er doch gar nicht so gemeint!

Fall 2

Das Beispiel 2, das ich besonders aufschlussreich finde (ebd., S. 11), handelt Kernberg ab unter „Störungen und Gefährdungen der therapeutischen Beziehung durch typische Syndrome“. Unter der Zwischenüberschrift „Transformation eines Opfers in einen Täter“ heißt es (vollständig zitiert) [Endnote 1]: „Ein drittes Syndrom, das auch sehr häufig vorkommt, ist die Transformation des Opfers in einen Täter. Der schwerste uns bekannte Fall ist eine Patientin mit einer antisozialen Persönlichkeit, die, nachdem ihr Vater sie sexuell mißbraucht hatte, unter den Folgen des Inzests an schweren Depressionen und Selbstmordversuchen litt und die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn unter Androhung von Selbstmord zu sich nach Hause, empfing ihn im Negligé und gab ihm zu verstehen, daß nur er sie retten könne – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzißtischen Problemen. [Originalton 1997: Gelächter im Publikum. Erheiterte Nachfrage von Kernberg: „Ist das hier ungewöhnlich?“ Erneutes Gelächter im Publikum.] Sie schrieb ein Tagebuch, beging Selbstmord, sandte zuvor das Tagebuch mit einer genauen Beschreibung des sexu­ellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten ihrer homosexuellen Freundin, die ein Gerichtsver­fahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete. Wir sehen hier, wie die Patientin noch im Tode Opfer und Täter zugleich wurde. [Originalton 1997: „Sie sehen, wie sie im Tode sich noch r…[ächte?], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“] Ein tragischer Fall, der aber nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich ist, wie man erwarten würde. Wir sehen hier eine leichtere Ausprägung der Problematik der zuvor geschilderten Patientin, die ohne Slip kam und in Wut geriet, weil ich mich als ihr Therapeut weigerte, mit ihr eine sexuelle Beziehung aufzunehmen.

Bereits in der Überschrift wird die Patientin zum „Täter“ erklärt. Mit dem Hinweis, es handle sich um den „schwerste[n] uns bekannte[n] Fall“, wird die Betroffene massiv pathologisiert. Mit der Diagnose einer „antisozialen Persönlichkeit“ und dem Hinweis, dass sie ihren Therapeuten „verführte“, wird der Patientin die maßgebliche Verantwortung zugeschoben. Der Therapeut ist indirekt bereits zum Opfer des „Täter[s]“ erklärt. Verstärkt durch den Hinweis, dass er sich noch „in Ausbildung“ befunden und an „schweren narzißtischen Problemen“ gelitten habe, plädiert Kernberg für Verständnis ihm gegenüber. Dagegen wird die Freundin, die die tödliche Therapie nicht klaglos hingenommen, sondern gegen Klinik und Therapeuten ein Gerichtsverfahren angestrebt hatte, in offenbar diskreditierender Absicht als „homosexuell“ gebrandmarkt. Und Kernberg genießt es scheinbar, sein Publikum zum Lachen zu bringen, kurz bevor er vom Suizid der Patientin berichtet. Geschmacklos, hätte er den Gedanken aussprechen wollen, die Klientin habe sich im Tode noch gerächt. Und was soll es bedeuten zu sagen: „Ein tragischer Fall, der aber nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich ist, wie man erwarten würde“? Wieder eine dieser verwirrenden Phrasen, die das Publikum darüber grübeln lassen könnte, wer denn jetzt in diesem Fall was genau erwarten würde. Und wieso soll dieser „schwerste uns bekannte Fall“ auf einmal doch wieder „nicht so außerordentlich und ungewöhnlich“ gewesen sein? Anstatt die kritische Reflexion von Therapeutenfehlern zu fördern, bereitet Kernberg hier – mit Hilfe eines inhaltlich verwirrenden Geplappers – der Opferbeschuldigung den pseudoargumentativen Boden. Die Botschaft ist klar: Wenn es der Klientin schlecht geht, dann liegt das allein an ihr! Dann hat sie keinerlei Mitgefühl verdient!

Fall 3

Fallbeispiel 3 (ebd., S. 13) erzählt von einer Frau, die im Alter von (nicht näher konkretisiert) unter zehn Jahren von ihrem Vater, einer „antisozialen Persönlichkeit“, sexuell missbraucht wurde. „Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, als verwirrenden Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu beiden Eltern, als zerstörenden Einfluß auf die Entwicklung ihres moralischen Gewissens und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter.“ Die erlebte sexualisierte Gewalt wird hier insgesamt sehr pauschal abgehandelt. Warum z.B. sollte sie zwangsläufig einen „zerstörenden Einfluss auf die Entwicklung des moralischen Gewissens“ ausüben? Aber weitaus schlimmer: Kernberg versucht gar nicht ernsthaft, das Geschehen in seiner Wirkung als „brutalen Eingriff“ zu erfassen, sondern er sieht das wesentliche Problem offenbar darin, dass die Grundschülerin (bei der nur unkonkret angegeben wird, sie sei „unter 10 Jahre alt“ gewesen – als mache es gar keinen Unterschied mehr, ob man solche Übergriffe im Alter von 10, 9, 8, 7, 6 oder noch weniger Jahren erleidet) die Situation „in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt habe. „Dieses letztere Element war natürlich vollkommen unbewußt und mit schweren Schuldgefühlen verbunden, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen mußte, konnte sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewußten und jetzt bewußten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren.“ Kernberg geht also davon aus, dass die Vergewaltigung durch ihren Vater bei der Betroffenen damals – angeblich „unbewusst[Endnote 2]! – ein Überlegenheitsgefühl in Bezug auf die „ödipale Mutter“ ausgelöst hat. Der (mit Verlaub: widersinnige) Begriff „ödipale Mutter“ soll ja darauf hindeuten, dass – nach Freud – allen Kindern die Tendenz angeboren ist, sich im Alter zwischen 2 und 5 Jahren eine sexuelle Verbindung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil und – parallel dazu – die Beseitigung des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu wünschen. (C.G. Jung wollte den „Ödipuskomplex“ für Knaben reserviert wissen, dafür den Mädchen einen „Elektrakomplex“ andichten. Das wurde von Freud zunächst begrüßt, dann – nach der Überwerfung mit Jung – wieder abgelehnt.) Und dieses (angeblich) angeborene und unbewusste Bedürfnis, sich der eigenen Mutter überlegen zu fühlen, hat dann auch noch eine „sexuelle Erregung“ beinhaltet. War diese „sexuelle Erregung“ dann auch noch „unbewusst“?

Kernberg berichtet, die Frau sei die Geliebte eines Bandenführers gewesen, der sie seinen Freunden „sozusagen als Geschenk“ angeboten hatte. Dass die Frau den sexuellen Verkehr mit diesen Männern über sich ergehen ließ, wird nicht etwa so verstanden, dass sie schon früh daran gewöhnt worden war, derartige Grenzverletzungen zu ertragen. Vielmehr deutet Kernberg, dass die Patientin zum Ausdruck bringe, dass sie Sühne für ihre „ödipale Schuld“ leisten müsse. Sie müsse „ihre Schuld tolerieren“ – erst dadurch finde sie Heilung.

Der Hintergrund – Sigmund Freuds Theorieentwicklung …

Universalproblem Sexualität

Als Sigmund Freud die Ursachen psychischer und psychosomatischer Störungen erforscht, ist er schon bald stark fixiert auf den Einflussfaktor „Sexualität“. So schreibt er z.B. 1898 (Freud, 1898/1952, S. 491): „Durch eingehende Untersuchungen bin ich in den letzten Jahren zur Erkenntnis gelangt, dass Momente aus dem Sexualleben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung darstellen.“ Sein Modell ist dabei äußerst simpel gestrickt. Depressionen seien bedingt (bei Männern und Frauen) durch Selbstbefriedigung oder (bei Männern) durch nächtliche Samenergüsse (ebd., S. 497). Angststörungen seien bedingt durch „Coitus interruptus“ (ebd., S. 498) oder durch „Coitus reservatus“ (Freud, 1895/1952, S. 326). „Zwangsvorstellungen sind jedes Mal verwandelte, aus der Verdrängung wiederkehrende Vorwürfe, die sich immer auf eine sexuelle, mit Lust ausgeführte Aktion der Kinderzeit beziehen“ (Freud, 1896/1952, S. 386).

Ein ganz besonderes Anliegen ist Freud die Erforschung der sog. „Hysterie“ (damaliger Sprachgebrauch für psychosomatische Störungen, wie z.B. Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Anfälle von Herzrasen o.ä.). Seine Position dazu spitzt er in der Zeit zwischen Dezember 1896 und September 1897 so weit zu, dass er allein eine Vergewaltigung durch den jeweiligen Vater im Alter zwischen zwei und acht Jahren als jeweilige Ursache annimmt (vgl. die Briefe aus dieser Zeit an Wilhelm Fließ, in: Masson, 1986).

Die Trauma-Perspektive: Väter-Vergewaltigungs-Hypothese (1896 – 1897)

Die grundsätzliche Stoßrichtung dieser Analyse, nämlich ein Trauma als zentralen Ursprung von psychischen und psychosomatischen Störungen anzunehmen, war geprägt durch die Theorie Josef Breuers [Endnote 3]. Breuer hatte bereits 1881 fortgesetzte Entwertung, Unterdrückung, Missachtung oder ähnliches als „Trauma“ verstanden und als dessen Folge psychopathologische und psychosomatische Symptome beschrieben. Sexualität war auch für Breuer ein Lebensbereich, in dem problematische Erfahrungen häufig waren, sexualisierte Gewalt und Übergriffe zählte er selbstverständlich auch (aber keineswegs allein) zu traumatisierenden Erfahrungen. Zusammen mit den Betroffenen versuchte er, z.T. unter Nutzung einer Art moderner Selbsthypnose, die traumatische Ursprungssituation zu ergründen und zu integrieren. Er hatte gegenüber Freud das von ihm entwickelte Verfahren „Psychoanalyse“ benannt (Breuer, o.J.) – in Anlehnung an das Theaterstück „König Ödipus“ von Sophokles, das Schiller ca. 100 Jahre zuvor in einem Brief an Goethe als „tragische analysis“ (Beutler, S. 435) bezeichnet hatte: Der Ödipus des Sophokles ist ein Held, der aufrichtig und selbstlos die lange zurück liegenden Umstände seiner familiären Verstrickung – aus der Rückschau – aufzulösen versteht (vgl. Schlagmann, 2005, S. 35-68, S. 103-113).

Nach Breuers (und Freuds eigener) Begriffslogik diagnostiziert Freud seine eigenen gelegentlichen Anfälle von Herzrasen und andere Symptome ohne körperliche Ursache mehrfach als „Hysterie“, z.B. am 14. August 1897 (Masson, 1986, S. 281) oder am 03. Oktober 1897 (ebd., S. 289). Und – in diesem Zusammenhang schreibt Freud (ebd., S. 281): „Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst.“ Daher also Freuds leidenschaftliches Umkreisen der Thematik. Zwischen Dezember 1896 und September 1897 führt er seine „Hysterie“, wie skizziert, auf eine väterliche Vergewaltigung zurück. [Endnote 4] Am 8. Februar 1897 beschuldigt er den (4 Monate zuvor verstorbenen) eigenen Vater als perversen Kinderschänder (ebd., S. 245). Er bezieht sich in dem Brief zwar nur auf seine als „hysterisch“ diagnostizierten Geschwister, muss sich aber auch selbst – gemäß seiner Theorie – zu den Opfern zählen. In seinen gesamten Erinnerungen findet sich jedoch kein einziger konkreter Hinweis darauf. Ende 1897 revidiert er kleinlaut den Vorwurf gegen den Vater.

Die Indizien, die Freud in den Briefen an Fließ zwischen 1896 und 1897 aus seinen Fallgeschichten präsentiert, die ihn auf Vergewaltigungen durch die Väter schließen lassen, sind bisweilen höchst zweifelhaft (ebd.): Einen „hysterische[n] Frostschauer“ führt er rasch auf das Herausnehmen aus dem warmen Bettchen zurück, Kopfschmerz und Angst vor Fotografen (die damals den Kopf festzuklemmen pflegten, um ein Verwackeln zu verhindern) auf das Festhalten des Kopfes durch den Vater zum Zweck der oralen Vergewaltigung. (Ähnlich zweifelhafte Schlussfolgerungen finden sich in den Briefen vom 6. Dezember 1896 bzw. 3. Januar und 16. Mai 1897.) Oder aber ein plausibel angedeuteter Missbrauch wird von der Klientin nicht in dem von Freud vermuteten Alter und offenbar nicht im Sinne seiner konkreten Vorstellung geschildert (28. April 1897), worauf er ihr seine Sicht aufdrängt, dass „im frühesten Kindesalter ähnliche und ärgere Dinge“ geschehen sein müssten.

Das Inzestproblem in der Familie Freud: Ursache von Freuds Inzest-Fixierung

Freuds auffällige Fixierung auf das Thema Eltern-Kind-„Inzest“ verstehe ich als Reaktion auf sein eigenes Familiendrama, das von diesem Thema überschattet war: Mutter Amalia, als tyrannisch, schrill und launisch geschildert, hatte wohl mit ihrem Stiefsohn Philipp während einer längeren Abwesenheit von Vater Jakob die kleine Anna gezeugt [Endnote 5] (zweieinhalb Jahre jünger als Sigmund) (vgl. Krüll, S. 186-192; Schlagmann, 2005, S. 501-505). (Philipp, Sohn von Jakob Freud aus erster Ehe, war ca. ein Jahr älter als seine Stiefmutter.) Amalia hatte später auch ihren Sigmund als Partnerersatz für sich vereinnahmt. [Endnote 6] Diese Vereinnahmung – sicherlich nicht sexuell – lässt sich wohl ebenso (überspitzt) als „Inzest“ symbolisieren.

Bei der Suche nach dem zentralen sexuellen Auslöser der Hysterie, die Freud in seiner Familie gehäuft diagnostiziert, identifiziert er nun also quasi den vom Vater ausgehenden „Inzest“. Gemessen am familiären Hintergrund verschiebt er dabei jedoch die Täterschaft von der Mutter auf den Vater. Freud gelingt damit der Spagat, einerseits den familiären „Inzest“ ausgiebig zu thematisieren, andererseits den offenen Konflikt mit Amalia zu vermeiden. [Endnote 7] Der als sanftmütig und humorvoll geschilderte Vater Jakob war vor seiner Beschuldigung und dem Aufkommen der Väter-Vergewaltigungs-Theorie bereits verstorben. (Den für diesen Theorie-Teil gebräuchlichen Begriff „Verführungs-Theorie“ benutze ich ausdrücklich nicht, weil er m.E. die von Freud gedachte Dynamik unzulässig verharmlost.)

Als sich im Herbst 1897 für Freud selbst die Pauschal-Anklage gegen die Väter immer weniger als haltbar erweist, da rettet er seine Theorie durch eine nochmalige doppelte Verschiebung: Der Impuls zum „Inzest“ sei vom Kind ausgegangen. Und: Er habe nicht real, sondern nur in der Phantasie des Kindes stattgefunden!

Erprobung der Phantasie-Hypothese: Emma Eckstein (1896-1897)

Das Modell für eine solche „Verschiebung“ auf die Opfer und deren inneres Trieb- und Phantasieleben erprobt Freud bereits zwischen 1895 und 1897. Damals bagatellisiert er hartnäckig mit dieser Argumentationslinie die Folgen einer realen Verletzung.

Freud behandelt in dieser Zeit eine Patientin – Emma Eckstein – die an Magenbeschwerden leidet. [Endnote 8] Für ihn und seinen Kollegen und Freund Wilhelm Fließ haben Magenbeschwerden keine wahrscheinlichere Ursache als Masturbation. Fließ konstatiert in seinem Werk „Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan“ (1902, zit. n. Masson, 1995, 117 f): „Die typische Ursache der Neurasthenie junger Leute beiderlei Geschlechts ist die Onanie. … die Nase wird ganz regelmäßig durch die abnorme geschlechtliche Befriedigung beeinflusst und die Folgen dieser Beeinflussung sind nicht nur eine sehr charakteristische Schwellung und neuralgische Empfindlichkeit der nasalen Genitalstelle, sondern es hängt von dieser neuralgischen Veränderung auch die ganze Symptomengruppe von Fernbeschwerden ab, die ich als ‚nasale Reflexneurose’ beschrieben habe. So kommt es, dass alle diese, gewöhnlich als neurasthenisch bezeichneten Schmerzkomplexe durch den Kokainversuch für die Dauer der Kokainisierung beseitigt werden können. Auch durch Ätzung oder Elektrolyse kann man sie für längere Zeit aufheben. … Von den Schmerzen ex onanismo möchte ich einen wegen seiner Wichtigkeit besonders hervorheben: den neuralgischen Magenschmerz. [Endnote 9] Er tritt recht früh bei Onanistinnen auf und kommt bei ‚jungen Damen’ ebenso häufig, wie die Onanie selbst vor.“ Um das Übel möglichst an der Wurzel zu packen, empfiehlt Fließ bereits 1897, in seinem Buch „Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen“ (1897, nach Masson, 1995, 118) als Behandlung: „Exstirpiert man [exstirpieren = mit der Wurzel wegnehmen, ausrotten, gänzlich beseitigen; K.S.] gründlich diese Partie der linken mittleren [Nasen‑]Muschel, was leicht mit einer geeigneten Knochenzange ausgeführt wird, so schafft man den Magenschmerz dauernd fort.

Bei einer derartigen, von Freud befürworteten „Operation“ an Emma Eckstein (Ende Februar 1895 in Wien) verletzt Fließ offenbar ein größeres Gefäß bei der Betroffenen. Ohne auf seinen verhängnisvollen Fehler aufmerksam zu machen, verstopft er die Wunde mit Gaze und reist eilends nach Berlin (seine Heimatstadt) ab. Der Zustand der Patientin verschlechtert sich drastisch. Ein nach vierzehn Tagen schließlich hinzugezogener Wiener Facharzt, Ignaz Rosanes, entdeckt und entfernt die zurückgelassene Gaze. Nach Freuds Schilderung verblutet die junge Frau dabei beinahe. Rosanes verstopft die Wunde rasch erneut. Um die Blutung zu stoppen muss bei Emma Eckstein am Ende ein Teil des Gesichtsknochens weggemeißelt werden, so dass sie verunstaltet bleibt (Masson, 1995, 111). In Freuds brieflichen Berichten nach Berlin an den Freund Fließ spiegelt sich zunächst noch sein Schrecken über die Folgen der Operation (z.B. Masson, 1986, S. 117-126). Aber nachdem dieser sich gelegt hat, knapp ein Jahr später (am 26. April 1896), schiebt er die ganze Angelegenheit der Betroffenen selbst zu. Er folgt dabei offenbar der Rechtfertigungsstrategie von Fließ (Masson, 1986, S. 193): „Ich werde dir nachweisen können, dass Du recht hast, dass ihre Blutungen hysterische waren, aus Sehnsucht erfolgt sind und wahrscheinlich zu Sexualterminen.“ Und Freud bekräftigt am 04. Juni 1896 (ebd., S. 202): „daß es Wunschblutungen waren, ist unzweifelhaft“. Noch knapp zwei Jahre nach Emma Ecksteins Verstümmelung, am 17. Januar 1897, wiederholt Freud hartnäckig diese Beschwichtigung (ebd., S. 238): „An dem Blut bist du überhaupt unschuldig.“ Erstaunlich leicht lässt sich doch auf Behauptungen über das Phantasieleben anderer beharren.

Freud schreibt also im Fall Emma Eckstein – wohl zur Entlastung des Freundes und von sich selbst – die Entstehung der Symptome (massive Blutungen aus der Nase) der Betroffenen selbst und ihrem Phantasie-Geschehen zu. Dieses Denken hilft ihm, die Einsicht von sich fernzuhalten, dass der Freund mit seinem verrückten und verantwortungslosen Handeln die Gesundheit der jungen Frau stark geschädigt hat. Dieses Argumentationsmuster macht sich Freud nun auch zunutze, als er mit seiner Väter-Vergewaltigungs-Hypothese in die Kritik gerät und nicht die gewünschte Anerkennung findet. Der Ausweg ergibt sich wie von selbst: Der Inzest habe nicht in der Realität stattgefunden habe, sondern nur in der Phantasie des Kindes. Die Impulse zu solchen Phantasien seien jedem Kind angeboren. Die entsprechenden Prozesse verliefen natürlich unbewusst. Der berühmte Ödipuskomplex ist geboren. In ihm kristallisiert sich die bis heute vertretene (verständnislose) Beschuldigung von kleinen Kindern als triebgesteuerte Monster und die damit fest verbundene und dogmatisch verteidigte Verleugnung der krankmachenden Wirkung von Gewalt (wie in den oben zitierten Fallbeispielen von Kernberg abzulesen).

Die Phantasie-Hypothese bei realem “Missbrauch”: Der Fall „Dora“ (1900)

Im Jahr 1900 behandelt Freud ca. zehn Wochen lang die junge Ida Bauer, Tochter aus reichem Hause. Er verbirgt ihre Identität notdürftig hinter dem Pseudonym ‚Dora’, als er 1905 diese Fallgeschichte als „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ publiziert. Diese Studie illustriert sehr deutlich Freuds neues Verständnis von den Ursachen der „Hysterie“, die er bei Ida Bauer konstatiert. In der Vorgeschichte der Klientin findet Freud folgende Episode: Der 27jährige Herr Z. [Endnote 10], Ehemann der Geliebten von Idas Vater, presst einmal die 13jährige [Endnote 11] Ida in seinem ansonsten menschenleeren Büro an sich und küsst sie – gegen ihren Willen – auf den Mund (Freud, 1905/1993, S. 30-31). Obendrein, so Freud, spüre sie „in der stürmischen Umarmung … das Andrängen des erigierten Gliedes gegen ihren Leib“. Sie reißt sich los und rennt weg. Dies beweise, so Freud, dass das Mädchen hier bereits „ganz und voll hysterisch“ sei: „Anstatt der Genitalsensation, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen gewiß nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr … der Ekel [ein]“. Freud: „Ich kenne zufällig Herrn Z.; …. ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußern“. Zwei Jahre später quittiert das Mädchen einen „Liebesantrag“ dieses (nach Freud: feschen, jugendlichen, verheirateten) Herrn mit einer Ohrfeige. Einige Tage danach erzählt sie ihrer Mutter davon. Freud (ebd., S. 94): „Dass sie von dem Vorfalle ihre Eltern in Kenntnis gesetzt, legte ich als eine Handlung aus, die bereits unter dem Einflusse krankhafter Rachsucht stand. Ein normales Mädchen wird, so sollte ich meinen, allein mit solchen Angelegenheiten fertig.“ Freud erkennt also „gesunde“ und „normale“ Jugendliche daran, dass sie bei erotischen Zudringlichkeiten von Erwachsenen still halten, ihre sexuelle Erregung genießen und ihren Eltern gegenüber dies alles verschweigen. Jugendliche dagegen, die „voll und ganz hysterisch“ sind, zeigen, nach Freud, eine Abneigung gegen derartige Attacken und rennen bei irgendwelchen Belästigungen gleich zu ihren Eltern.

Die eigentliche Ursache von Ida Bauers psychischer und psychosomatischer Störung (Reizhusten, Lebensüberdruss) sieht Freud in – (angeblich) verdrängtem, unbewusstem – Antrieb zu Homosexualität, Selbstbefriedigung und Inzest. Dass die junge Frau den abenteuerlich herbeigedeuteten Unterstellungen widerspricht, beweist für Freud jeweils, dass er genau ins Schwarze getroffen hat. Ein großer Teil seiner sog. Therapie erschöpft sich darin, der jungen Frau rechthaberisch seine Auffassung suggerieren zu wollen.

Die zur Zeit ihrer „Behandlung“ achtzehn Jahre alte Ida Bauer kommentiert Freuds selbstherrlich sexualisierenden Deutungen ihres (angeblichen) Unbewussten zunächst oft genug ironisch (wie Freud selbst schildert). Dann bricht sie – witzig und intelligent – die „Kur“ am 31. Dezember – von einem Tag auf den anderen – mit einer schelmischen Frage abrupt ab. „Wissen Sie, Herr Doktor, dass ich heute das letzte Mal hier bin?“ Und der Mann, der die junge Frau zehn Wochen lang mit seinen besserwisserischen Unterstellungen gequält hat, wird nun zu einer Bescheidenheit genötigt, die ihm auch zuvor schon gut zu Gesicht gestanden hätte (Freud, 1905/1993, 104): „Ich kann es nicht wissen, da Sie es mir nicht gesagt haben.“ (Die Witzigkeit und Intelligenz dieser jungen Frau flößt mir den allergrößten Respekt ein!)

Und gut zwei Jahre später, anlässlich von Freuds Ernennung zum Professor (vielleicht bezeichnend: zum 1. April [1902] – nach Bestechung des Kultusministers durch eine reiche Patientin Freuds; vgl. Masson, 1986, S. 501-503), besucht sie ihn noch einmal kurz und vermittelt ihm durch einen klug inszenierten Aprilscherz, dass sie seine Ernennung zum Professor wie einen Schlag ins Gesicht empfindet (vgl. Schlagmann, 2005, S. 458-466). Freuds Analyse findet allerdings bis in jüngste Zeit ihre Bewunderer (Schlagmann, 1997, 157-175; Freud and Dora, 2005).

Freuds theoretischer Umbruch: Von der pauschalen Väter-Vergewaltigungs-Hypothese zur pauschalen Opfer-Beschuldigung

Freud vollzieht also einen fundamentalen theoretischen Wandel, als er seine Väter-Vergewaltigungs-Hypothese aufgibt und zu einer Kinder-verführen-ihre-Eltern-These übergeht. Zweifellos ist bereits die Väter-Vergewaltigungs-Hypothese wegen ihrer groben Verallgemeinerung unbrauchbar. Darin ist jedoch immerhin noch eine (sinnvolle) Trauma-Perspektive enthalten. Die dann aus diesem Ansatz heraus entwickelte Kinder-verführen-ihre-Eltern-These ist wegen ihrer Trieb-Perspektive und vor allem wegen der darin implizierten Opferbeschuldigung m.E. nur noch als „völlig verständnislos“ und „durch und durch falsch“ zu klassifizieren.

Die Ausführungen von oben zeigen, dass Freuds sehr pauschale Thesen im Grunde nichts als Glaubenssätze sind. Es gibt keine plausible Begründung für sie, sondern als Grundlage nur Freuds eigene Mutmaßung, letztlich die neurotische Verarbeitung seines familiären Konflikts. Zusätzliche verunklarend wirkt sich wohl der jahrelange Kokain-Konsum Freuds aus, der seine geradezu manisch anmutenden Thesen mit geprägt haben dürfte.[Endnote 12] Die „Argumente“ für seine Hirngespinste bestehen letztlich in nichts als manipulativer Rhetorik. Ein wichtiger Bestandteil seiner „Argumentation“ ist beispielsweise die Diskreditierung seiner Gegner: So nennt er z.B. im „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ seine Kritiker „einsichtslose Übelwollende“ (Freud, 1993, 9). Darüber hinaus „argumentiert“ er in seinen frühen Schriften mehrfach, niemand könne seine Funde widerlegen, weil er, Freud, bislang gar nicht dargestellt habe, mit welcher Methode er seine Erkenntnisse gewonnen habe. Solange er das nicht getan habe, sei niemand berechtigt, seine Thesen zu kritisieren. (Die Darstellung der Methode führe dann – so Freud – an der jeweiligen Stelle „zu weit“.) Ein weiteres von Freud gern benutztes „Argument“ gegen Kritiker seiner Theorie aus den eigenen Reihen (wie z.B. von Alfred Adler oder Carl-Gustav Jung), sie zeigten mit ihrer Kritik einen Impuls zum Vatermord, hätten also ihren Ödipuskomplex nicht überwunden.

… und ihre Fortsetzung bei Otto Kernberg

Verwirrung als rhetorisches Prinzip

Otto F. Kernberg scheint sich mit seinem ganzen persönlichen Einsatz der Aufrechterhaltung der Freudschen Trieb-Perspektive – gegen jede Vernunft – verschrieben zu haben. Zu diesem Zweck greift auch er tief in die Trickkiste der rhetorischen Manipulation hinein.

Unter der Überschrift „Trauma, chronische Aggression und Persönlichkeitsstörung“ (Kernberg, 1999, S. 5-6) trifft Kernberg gleich zu Beginn seines Artikels eine Unterscheidung: „Erstens muß man unterscheiden zwischen dem Syndrom der posttraumatischen Belastungsstörung und dem Trauma als ätiologischer Faktor von Persönlichkeitsstörungen.

Bereits diesen Satz sollte man sich in aller Ruhe zu Gemüte führen. Beim ersten Lesen war ich selbst noch bereit, Kernbergs Forderung nach Unterscheidung zwischen „Syndrom“ und „ätiologische[m] Faktor“ zuzustimmen. Aber es blieb auch direkt eine leichte Spannung zurück, die ich zunächst gar nicht präzise greifen konnte: Wie meint Kernberg diesen Satz eigentlich?

Vielleicht möchte er sagen: „Man muss zwischen einer akuten Störung (z.B. einem vorübergehenden posttraumatischen Belastungssyndrom – PTBS) und einer Persönlichkeitsstörung (PS) unterscheiden.“ Aber das wäre ja nur eine eher triviale Feststellung. Und ich würde fragen: Ja – und?

Aber Kernbergs Satz lässt auch Spielraum für andere Mutmaßungen: „Man muss zwischen dem Trauma, das eine akute, vorübergehendes posttraumatisches Belastungssyndrom auslöst, und dem Trauma, das eine Persönlichkeitsstörung bewirkt, unterscheiden.“ Das wäre schon eine durchaus interessante Aufforderung. Was unterscheidet ein Trauma, das „nur“ zu einer PTBS führt, von einem Trauma, das eine PS zur Folge hat? Hat das z.B. mit dessen Schwere, Dauer und Begleitumständen (z.B. wieweit das Umfeld schützend zur Seite steht) zu tun?

Kernberg könnte m.E. hier entweder unterschiedliche Folgen von Traumata darstellen, oder er könnte Traumatisierungen nach verschiedenen Kriterien differenzieren und die daraus jeweils resultierenden Folgen unterscheiden. Aber weder das eine, noch das andere lässt sich aus seinem Satz-Konstrukt eindeutig ableiten: „Erstens muß man unterscheiden zwischen dem Syndrom der posttraumatischen Belastungsstörung und dem Trauma als ätiologischer Faktor von Persönlichkeitsstörungen.

Mit keiner Silbe vertieft Kernberg z.B. die – durchaus sinnvolle – zweite Spur. Im Gegenteil. Er wird gleich sogar vorschlagen, den Begriff des Traumas ganz abzuschaffen. Was will er also?

Auf diesen Satz hin würde ich also im direkte Gespräch direkt sagen (wenn ich die erzeugte Verwirrung am Ende überwunden hätte): Selbstverständlich ist das Syndrom der PTBS etwas anderes als das Trauma selbst. Wobei das Trauma selbst z.B. sowohl einer PTBS als auch einer PS zugrunde liegen kann. Die beiden Kategorien sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Dieser Satz ist also völlig inhaltsleer und er taugt zu keiner weiteren (oder zu jeder x-beliebigen) Schlussfolgerung. Also am Ende die Frage: Was, bitteschön, wollen Sie uns eigentlich genau sagen?

Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, dann kann der nur darin liegen, beim Publikum für gehörige Verwirrung zu sorgen.

Und noch während man mit diesem verwirrenden Satz beschäftigt ist, gibt schon der folgende Abschnitt zu denken: „Zweitens ist es wichtig, zwischen Trauma und chronischer Aggression zu differenzieren. … Chronische Aggressionen sind für die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen ein wichtiges ätiologisches Element, und wir denken dabei zum einen an die angeborenen Fähigkeiten oder Dispositionen zur Entstehung von Wut als einem Grundaffekt und an die abgeleiteten aggressiven Affekte wie Haß und Neid, andererseits an die Folgen schmerzlicher Erlebnisse und schwerer Krankheiten im ersten Lebensjahr, weiterhin an die Auswirkungen von chronisch‑aggressivem mißhandelnden Verhalten von Müttern oder beiden Eltern, weiterhin an physischen und sexuellen Mißbrauch.

Kernberg denkt also bei „chronischer Aggression

1.) an angeborene Verhaltensprogramme von Säuglingen,

2.) an die „Folgen“ von „schmerzliche[n] Erlebnisse und schwere[n] Krankheiten“ bei Kleinkindern,

3.) an die „Auswirkungen“ von „chronisch‑aggressivem mißhandelnden Verhalten von Müttern oder beiden Eltern“ auf deren Kinder und

4.) auf einer ganz anderen Ebene, wenn man der Satzlogik folgt: an „physischen und sexuellen Missbrauch“ selbst.

Der „physische und sexuelle Missbrauch“ unter 4.) steht noch in unmittelbarer Nähe zum „misshandelnden Verhalten“ von 3.), so dass das Publikum womöglich auch hier die „chronische Aggression“ als „Auswirkung“ des „physischen und sexuellen Missbrauchs“ subsumiert bzw. ein wenig in Verwirrung gerät darüber, wie das hier jetzt gemeint ist.

Wenn ich aber von der grammatikalisch korrekten Lesart von 4.) ausgehe, dann beschreibt Kernberg also mit „chronischer Aggression“ etwas, das ein Kind in sich trägt [Aspekte 1.) – 3.)], also aktiv ausübt, und gleichzeitig etwas, das ein Kind passiv erleidet [Aspekt 4.)].

Drei Sätze weiter spricht Kernberg von Situationen, in denen „das Kleinkind chronisch Aggressionen ausgesetzt ist“.

Kernberg jongliert hier also mit Begriffen: Vom adjektivischen Gebrauch des „chronisch“ („chronische Aggression“) gleitet er zum adverbialen über („chronisch Aggressionen ausgesetzt“), ordnet die „chronische Aggression“ mal den Kleinkindern selbst, mal den sie misshandelnden Erwachsenen zu, lässt den „physischen und sexuellen Missbrauch“ selbst als „chronische Aggression“ erscheinen, erklärt ihn aber gleichzeitig auch als deren Ursache, dass also Kinder „chronische Aggression“ entwickeln, wenn sie „sexuellen Missbrauch“ – also „chronische Aggression“ – erlebt haben. Obwohl es für Kernberg gerade angeblich noch so wichtig war, eine „Unterscheidung“ zu treffen zwischen „Trauma“ und „chronischer Aggression“, ist sein eigener Begriff von „chronischer Aggression“ so diffus, dass er zu irgendeiner Abgrenzung von z.B. „Trauma“ gerade überhaupt nicht mehr tauglich ist.

Auch der nächste Satz ist schon wieder eindeutig unklar: „Alles [Misshandlung, Krankheit u.s.w.; K.S.] sind Beispiele für intensive schmerzhafte Erlebnisse, die eine reaktive Aggression auslösen und somit insgesamt das Vorherrschen primitiver Aggressivität als den ätiologischen Faktor in der Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen darstellen.

Kernberg behauptet im ersten Teil des Satzes, dass „intensive schmerzhafte Erlebnisse“ (angeblich) „reaktive Aggression“ auslösen. Soweit – zumindest grammatikalisch – noch nachvollziehbar. Dabei halte ich den Inhalt dieser Äußerung für eine völlig unangemessene „Analyse“: Schmerzhafte Erlebnisse können eine Fülle unterschiedlichster Emotionen auslösen, sicherlich auch Ärger und Wut, aber an erster Stelle eben erst einmal Schmerz, dann auch Angst, Verlassenheit, Resignation, Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Trauer!

Grammatikalisch verwirrend wird der Satz mit seinem zweiten Teil.

Hier gleitet Kernberg zunächst wie selbstverständlich über von der „reaktiven Aggression“ zur „primitiven Aggressivität“ – was natürlich erst einmal zu hinterfragen wäre: Ist „reaktive Aggression“ automatisch und in jedem Fall gleichzusetzen mit „primitiver Aggressivität“? Oder stellt „reaktive Aggression“ nicht eine sehr angemessene, gesunde und reife emotionale Reaktion dar?

Kernberg verbindet den ersten und zweiten Teil des Satzes mit einem „somit“, was quasi eine kausale Verknüpfung suggeriert. Aber das, was aus dem ersten Teil des Satzes folgen soll, wird nicht klar aufgelöst. Kernberg könnte so tun, als hätte er eigentlich sagen wollen: „Weil schmerzhafte Erlebnisse eine reaktive Aggression auslösen, stellen diese schmerzhaften Erlebnisse den Hauptfaktor für die Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen dar.“ Also verkürzt: „Schmerzhafte Erlebnisse stellen den Hauptfaktor für die Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen dar.“ Aber Kernberg will ja seine These untermauern, dass „primitive Aggressivität“ den Hauptfaktor für die Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen ausmacht. Warum sagt er dann nicht: „Schmerzhafte Erlebnisse lösen eine reaktive Aggression aus. Diese Aggression ist primitiv. Sie stellt den Hauptfaktor für die Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen dar.“? Ich vermute, er vermeidet diese (grammatikalisch klare, aber inhaltlich falsche) Darstellung, weil er dabei wohl sehr schnell als (berechtigten) Einwand erhalten würde: „Moment mal! Warum sollte ‚reaktive Aggression’ gleichzusetzen sein mit ‚primitiver Aggressivität’? Und welche Prozesse müssen genau vonstatten gehen, damit es zu schweren Persönlichkeitsstörungen kommt? Ist es nicht eine völlig unzulässige Banalisierung, dass ‚schmerzhafte Erlebnisse’ quasi per se – über die Auslösung ‚primitiver Aggressivität’ – zu ‚Persönlichkeitsstörungen’ führen? Ist es nicht verhängnisvoll, damit quasi den Säugling für seine Fehlentwicklung selbst verantwortlich zu machen? Wird dabei nicht ausgeblendet, dass verhängnisvolle Fehlentwicklungen der Persönlichkeit vielmehr durch z.B. inkompetente Erziehung entsteht, weil z.B. sadistische, evtl. alkoholisierte Erwachsene als Modelle vorleben, dass es z.B. selbstverständlich und gerechtfertigt ist, gnadenlos und brutal mit Schwächeren umzugehen? Und ist es nicht so, dass keineswegs alle Menschen, die eine solche sadistische Quälerei über sich ergehen lassen müssen, selbst zu Sadisten werden? Ist es nicht so, dass ‚intensiven schmerzhafte Erlebnisse’ weitaus eher – je nach Art des Traumas – Angst, Verlassenheit, Schmerz, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schuldgefühl oder Scham auslösen?“

Aber hierzu steuert Kernberg keine einzige vernünftige Überlegung bei. Stattdessen beschäftigt er die Hirne seiner Zuhörerschaft mit unverständlichen Phrasen und schleust dann an den beschäftigten Wachposten seine Suggestion ins Innerste des Bewusstseins: Primitive Aggressivität ist bereits bei Säuglingen angelegt und wird aufgrund bestimmter, oft unvermeidbarer Bedingungen (z.B. Krankheit) entwickelt! Diese primitive Aggressivität ist die Grundlage schwerer Persönlichkeitsstörungen!

Das verwirrte Publikum hinterfragt auch nicht mehr, ob z.B. „chronische Aggression“ vielleicht weitaus eher der Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung ist, als deren Ursache. Und es kommt auch nicht so schnell auf den Gedanken zu fragen, ob nicht vielleicht doch die weitaus fruchtbarere Aufgabe der Psychotherapieforschung ist, die zentrale Ursache einer gravierenden Persönlichkeitsstörung an der Stelle zu suchen, um die die Psychoanalyse seit Freuds Dictum von 1897 (man dürfe den Gewaltschilderungen von KlientInnen nicht glauben), einen riesigen Bogen macht: In der Wirkung von mehr oder weniger massiver und chronischer Traumatisierung!

100jähriges Jubiläum: Wiederauffrischung einer gründlich missratenen These

Kernbergs Vortrag in Lindau im Jahr 1997 soll wohl einem ganz bestimmten Zweck dienen: Zum 100. Jahrestag von Freuds Verwerfung der Trauma-Hypothese soll diese ideologische Position erneut gefestigt werden. Bei den damaligen „Psychotherapiewochen“ wird – darauf weist gemäß der Audioaufnahme der „wissenschaftliche Leiter“ Prof. Peter Buchheim hin – extra für Prof. Kernbergs Beitrag die Einrichtung eines Hauptvortrags wieder eingeführt. In Buchheims Begrüßungsworten an das Publikum in einer aus allen Nähten platzenden Inselhalle heißt es (Kernberg, 1997): „Wenn leider einige von Ihnen keinen Platz finden werden, dann hat das damit zu tun, dass wir heute eben etwas Unmögliches gewagt haben, was wir uns schon lange nicht mehr getraut haben, aber zu Ehren von Herrn Prof. Kernberg doch mal wieder versucht haben: Alle Teilnehmer hier zu einem Hauptvortrag einzuladen …“.

Eine bessere Inszenierung kann sich Kernberg gar nicht wünschen: Bei einer der bekanntesten Großveranstaltungen der deutschsprachigen Therapie-Szene im Drei-Länder-Eck Deutschland-Schweiz-Österreich wird ihm die Möglichkeit geboten, dem seligen Publikum seine Thesen unterzujubeln!

Freud nimmt 100 Jahre zuvor eine fatale Weichenstellung vor, als er die Bedeutung eines Traumas völlig herunterspielt, um stattdessen unterstellte Triebe der Betroffenen als die Ursache allen Übels zu proklamieren. Genau diese ideologische Weichenstellung bekräftigt und festigt Kernberg nun noch einmal. Und er diffamiert dazu skrupellos bewusst diejenigen, die dafür plädieren, die Auswirkungen von massiven Gewalterfahrungen endlich ernst zu nehmen.

Die Diffamierung des Traumas und seiner Experten

Ohne einen einzigen Satz seiner theoretischen Widersacher zu zitieren, meint Kernberg zu deren Ansatz (S. 5): „Die Verwischung von Trauma und chronischer Aggression als ätiologischem Element findet sich typisch in der Traumaliteratur, in den Tendenzen vieler Autoren der Traumadiagnostik, die vom Trauma ausgehend auf das Konzept des komplexen Traumas und des chronischen Traumas gekommen sind“. Das, was aus Kernbergs ersten hier analysierten Sätzen überdeutlich herauszulesen ist, dass er selbst eine äußerst verwirrende Rhetorik praktiziert, dass sein Konzept der „chronischen Aggression“ völlig unklar ist, das wirft er nun seinen wissenschaftlichen Kontrahenten vor. (Als gelernter Psychoanalytiker könnte er hierfür den Begriff Projektion gebrauchen und sich überlegen, was er hier selbst verdrängt und nicht wahrnehmen möchte.)

Im Kapitel „Traumakonzepte“ (S. 6) referiert Kernberg eine Liste schwerer psychischer Störungen, die von Autoren mit chronischer Traumatisierung in Verbindung gebracht werden. „Also, alles was ich Ihnen jetzt genannt habe, ein wichtiger Teil der Psychopathologie, wird auf chronisches Trauma zurückgeführt. Und ich frage also: Ist da ‚Trauma’ noch ein hilfreiches Konzept?“ Unklar bleibt dabei: Hilfreich oder nicht hilfreich wofür genau? Kernberg wird gleich keinen Hehl daraus machen, dass dieses Konzept aus seiner Sicht „absolut nicht“ hilfreich sei.

Zuvor gibt er jedoch erst einmal die Position seiner Gegner wieder. Wer an dieser Stelle in die Audioaufnahme hineinhört (ca. ab der 18. Minute), bekommt Folgendes zu hören (Kernberg, 1997): „Die, die sagen: ‚Ja!’ [dass Trauma ein hilfreiches Konzept sei; K.S.], sagen, dass, äh, es, weil, dass dieses Konzept gerecht dem Erkenntnis und der Anerkennung äh der und Respekt der Überlebenden von solchen Traumata ist, dass dieses Konzept sich der Möglichkeit entgegenstellt, der Tendenz sich entgegenstellt, die Opfer selbst schu beschuldigen, und dass dieses allgemeine Konzept auch dazu dient, die Verleugnung häuslicher familiärer und sozialer Gewalt äh, äh zu behaupten, das heißt also, diese Verallgemeinung des Konzeptes des Trauma ist eine Erweisung von Respekt und Anerken – nung der Opfer, der Überlebenden in der Traumaliteratur, äh eine äh, äh Hemmung der Tendenz, die Opfer zu beschuldigen, und ein ähm, äh, und ein, eine Insz, ein, ein Insistenz, äh, eine äh, die Beha, also die wich, die wichtige Behauptung, die wichtig Kon Konfrontation der Tendenz Verleugnung äh der traumatischen Ursachen.

Interessant, dass ein Referent, dem flüssig über die Lippen kommt, was sich bei der Spaltung zwischen idealisierten und verfolgenden Selbst- und Objektrepräsentanzen an Identitätsdiffusionen ergibt und in schweren Persönlichkeitsstörungen mündet, dass dieser Referent (angeblich) so gehörig ins Stammeln geraten muss, wenn er vorgibt, die Gründe anzusprechen, die von den Verfechtern des Trauma-Konzeptes ins Feld geführt werden: Respekt vor den Opfern zu zeigen, diese nicht zu beschuldigen und die Gewalt nicht zu verleugnen. Eigentlich ganz einfach!

Und wer die oben zitierten Fallbeispiele von Kernberg gelesen hat, der kann doch wohl nur sagen: Kernberg selbst macht dringend erforderlich, dass engagierte Fachleute auftreten, die eine respektvolle Behandlung von KZ- oder Missbrauchsopfern einfordern, die sich gegen deren Beschuldigung zur Wehr setzen und die an dieser Stelle gegen seine offensichtliche Verleugnung von Gewalt protestieren!

In der gedruckten Version heißt es hier übrigens (Kernberg, 1999, S. 6): „Nach Ansicht der Befürworter wird dieses Konzept [Trauma; K.S.] der Anerkennung und dem Respekt der Überlebenden schwerer Traumen gerecht, begegnet Tendenzen, die Opfer selbst zu beschuldigen und einer Verleugnung häuslicher familiärer und sozialer Gewalt, also insgesamt eine Verleug­nung traumatischer Ursachen. Mit dieser Verallgemei­nerung des Traumakonzeptes in der Traumaliteratur verbinden sich einerseits Respekt und Anerkennung gegenüber den Opfern und Überlebenden schwerer Tramatisierung sowie die Zurückhaltung, die Opfer zu belasten, andererseits aber auch eine Kritik der Verleugnung der traumatischen Ursachen.

Die Grundkonstruktion könnte lauten:

Diejenigen, die das Konzept „chronisches Trauma“ für sinnvoll halten, sagen: Dieses Konzept wird gerecht dem Respekt der Überlebenden schwerer Traumen und begegnet Tendenzen, die Opfer selbst zu beschuldigen.

Schon der „Respekt der Überlebenden“ ist missverständlich: Es ist relativ klar, dass eigentlich der Respekt gemeint ist, der den Überlebenden entgegengebracht werden soll. Grammatikalisch ist aber angesprochen der Respekt, den die Überlebenden selbst – für wen oder was auch immer – aufzubringen haben.

In der Fortsetzung könnte Kernberg seinen Satz entweder formulieren: Dieses Konzept wird gerecht dem Respekt gegenüber den Überlebenden schwerer Traumen und begegnet Tendenzen, die Opfer selbst zu beschuldigen … und häusliche oder soziale Gewalt zu verleugnen.

Oder er könnte formulieren: Dieses Konzept wird gerecht dem Respekt gegenüber den Überlebenden schwerer Traumen und begegnet sowohl Tendenzen, die Opfer selbst zu beschuldigen … als auch einer Verleugnung häuslicher oder sozialer Gewalt.

Aber er formuliert weder so, noch so. Vielmehr verwirrt er die Leserschaft gleich mit einer dritten grammatikalischen Unklarheit: „also insgesamt eine Verleugnung traumatischer Ursachen“ – anstatt (grammatikalisch) sauber zu formulieren: „Dieses Konzept tritt den Tendenzen entgegen, Opfer zu beschuldigen und häusliche oder soziale Gewalt zu verleugnen, also insgesamt eineR Verleugnung traumatischer Ursachen.“

Im Anschluss an den ersten Satz seines konfusen Konstrukts heißt es dann: „Mit dieser Verallgemeinerung des Traumakonzeptes …verbinden sich …“. Auch hier müsste sofort gefragt werden: Was genau soll es bedeuten, von einer „Verallgemeinerung des Traumakonzeptes“ zu reden? Das „Traumakonzept“ an sich kann gar nicht verallgemeinert werden. Es könnte höchstens eine „Verallgemeinerung“ sein, bei allen psychosomatischen Störungen eine traumatische Ursache anzunehmen. Aber sollte es denn auch schon eine unangemessene Verallgemeinerung sein, bei vielen schweren psychosomatischen Symptomen eine schwere Traumatisierung anzunehmen?

Und welchen Sinn macht es, zu sagen, mit dieser „Verallgemeinerung des Traumakonzeptes“ würden sich Respekt gegenüber den Trauma-Opfern, Vermeidung von deren Beschuldigung und Benennung der Gewalt verbinden – also die im Satz zuvor bereits benannten Aspekte bloß ein weiteres Mal zu wiederholen?

Mir scheint, dass Kernberg durch die Wiederholung der Aspekte suggerieren möchte, dass sein (unverständlicher, zu deutender) Satz eigentlich ganz verständlich ist. Und dazwischen wird die Suggestion eingepackt, dass die Vertreter dieses Konzeptes sich der „Verallgemeinerung“ schuldig machen.

Eigentlich seltsam, dass solch ein Wortsalat durch die Finger der Lektoren eines renommierten Fachverlages (Thieme) geschlüpft sein sollte. Vermutlich nur möglich, weil Herr Kernberg selbst mit Herausgeber dieser „Fachzeitschrift“ ist.

Kernberg behauptet (im Vortrag nun auf einmal problemlos flüssig formulierend), „die Argumentation“ sei entnommen „direkt aus einem Buch von Judith Herman, die eine der äh leitenden ähm Spezialisten in der Traumaliteratur ist“. Sicherlich ist es für seriöse Trauma-ForscherInnen selbstverständlich, die Opfer nicht zu beschuldigen, die erlebte Gewalt sehr genau wahr-zu-nehmen, die Schilderungen als wahr zu nehmen, die Überlebenden dieser Gewalt mit großem Respekt zu behandeln. Aber das Publikum vermag bei diesem zusammenhanglosen Gestammel gar nicht klar genug zu erkennen, was deren Position eigentlich ausmacht. Kernbergs Behauptung, er habe diese armseligen Brocken direkt entsprechender Literatur entnommen, ist wohl nichts als ein weiterer billiger Versuch, den wissenschaftlichen Widersacher zu diskreditieren. Unverkennbar, dass die Vortragsversion nur einen Zweck verfolgt: Die Argumentation der Gegenseite als völlig unzulänglich darzustellen.

In seinem nächsten Schlag gegen die seriöse oben erwähnte Trauma-Forscherin Hermann behauptet nun ausgerechnet Kernberg, dass deren Position „von anderen [auch von Kernberg selbst; K.S.] als zu sehr ideologisch begründet angesehen“ werde. Ihre Sicht sei ideologieträchtig, weil von ihr „die spezifischen und unterschiedlichen psychopathologischen Folgeerscheinungen der verschiedenen Krankheiten, der zehn ‚Plagen’ [Endnote 13], die ich Ihnen nannte, unterschätzt“ würden. (Unklar: Inwiefern genau werden die „psychopathologischen Folgeerscheinungen“ „unterschätzt“?) Darüber hinaus würden ebenso „unterschätzt“: „die unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten für Patienten, die an den Folgen chronischer Aggression leiden“. Unterschätzt im Hinblick worauf? Auf Dauer, Kosten, Effektivität, Erfolgschancen, …?

Die Gegner dieser Vermischung von ideologischen Einstellungen und behandlungstechnischen Konzepten vertreten die Position, daß …“. En passant bemüht Kernberg sich zu suggerieren, seine Widersacher vermischten „behandlungstechnische[.] Konzepte[.]“ mit „ideologischen Einstellungen“. Er und seine Mitstreiter seien strikte „Gegner“ dieser „Vermischung“ und verneinten „absolut“ die Ansicht von der Bedeutung des [komplexen und chronischen] Traumas. Denn diese „Vermischung“ oder „Verknüpfung … verhindert, adäquate Behandlungsmethoden für diese Patienten einzusetzen“. Es sei „aus klinischer und therapeutischer Sicht hilfreich […], die posttraumatische Neurose als solche von den psychopathologischen Folgen langwieriger Aggressionen [Endnote 14] zu unterscheiden.“ Und so bleibt die Unterstellung im Raum: Therapeuten, die sich in der Therapie von Gewaltopfern darauf konzentrierten, diese Gewalterfahrung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und Behandlung zu stellen, leisteten keine gute Arbeit!

Unter der Überschrift „Zum Posttraumatischen Stresssyndrom“ (S. 6) will Kernberg auf dieses Syndrom „nur kurz eingehen“: „Dieses akute Erscheinungsbild tritt in ähnlicher Form auf als Folge schwerer Traumen durch Konzentrationslager, Krieg, Unfälle, Vergewaltigung, Geiselnahme, Terror, politischen Terror, Folter und anderer Formen schwerer körperlicher und sexueller Mißhandlung, besonders in der frühen Kindheit und in den ersten 10 bis 15 Lebensjahren. Die klinischen Charakteristika dieses Syndroms, das 2 bis 3 Jahre lang anhalten kann, sind … [Endnote 15] .“ Für Kernberg bereitet das Trauma an sich also anscheinend gesunden Personen „2 bis 3 Jahre lang“ ein paar Probleme, die sich dann aber quasi von selbst wieder aufzulösen scheinen. „Schwere Traumen können somit langwierige Psychopathologische Folgen haben, die aber von typischen Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden sind.“ Der Junge, der mit 12 Jahren aus dem KZ befreit wurde, hätte also mit 14 oder 15 Jahren die ganze Angelegenheit verdaut haben müssen – wenn, ja, wenn er da nicht seine schwere Persönlichkeitsstörung schon in das KZ mit hineingebracht hätte!

Im Kapitel „Die besondere Funktion von Haß und Neid für die Psychopathologie schwerer Persönlichkeitsstörungen“ (ebd. S. 8-9) erklärt Kernberg den Neid als „eine Sonderform des Hasses “; er sei „sogar auf eine gefährlichere Art pathologisch als der Haß selbst“, da er „uns veranlaßt die Hand zu beißen, die uns füttert“. Ähnlich formuliert er schon Jahre zuvor (Kernberg, 1990, S.315): Patienten mit „Konflikte[n] im Umkreis von oraler Wut und Neid … müssen alles, was ihnen Liebe und Befriedigung spenden könnte, zerstören, um die Anlässe für ihren Neid und ihre projizierte Wut zu beseitigen“. In den kleinkindlichen Reaktionsmustern liege allein der Keim zur Entwicklung schwerer Persönlichkeitsstörungen. Die eingangs zitierten Fallgeschichten sind das Resultat dieser Haltung.

Abschließend eine Passage aus dem Kapitel „Behandlungsstrategien …“ (ebd., S. 13-14). Kernberg vertritt ein diffuses und konfuses Konzept, wonach sich das Opfer „mit dem Täter identifizieren“ muss. In Bezug auf die Grundschülerin von unter 10 Jahren, die von ihrem Vater vergewaltigt wurde, heißt es: „Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden [was immer das heißen möge; K.S.]. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.

Ist es nicht geradezu zynisch, bei einem Opfer von anscheinend chronischer Vergewaltigung ein Erfolgskriterium darin zu sehen, dass es beim Sex mit dem sadistischen Partner einen Orgasmus erlebt? Kernberg gesteht immerhin selbst ein, dass dies kein ideales Erfolgskriterium ist. Aber es ist doch geschmacklos, dass er überhaupt auf die Idee kommt, dies hier ins Spiel zu bringen. Vorrangig hätte die Klientin zu lernen gehabt, sich vor wiederholter Traumatisierung zu schützen, sich gegen die gewalttätige Zudringlichkeit ihres Partners zur Wehr zu setzen! Darüber hinaus: Ich kann mir vielleicht vorstellen, was es bedeutet, sich mit einem anderen Menschen (zur Not vielleicht noch mit einem Tier oder einem Fabelwesen) zu „identifizieren“. Aber mit der „sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters“? Wie soll das konkret aussehen?

Im übrigen gibt Kernberg zum Besten: „Es ist wichtig, in der Gegenübertragung trotz aller Provokationen das Interesse und die objektive Besorgnis für die Patienten zu behalten, sich den aggressiven Gegenübertragungen auszusetzen, denn es gibt Momente, in denen wir sie am liebsten aus dem Fenster werfen würden.“ Im Originalton (Kernberg, 1997) heißt es hier noch drastischer: „Wenn alles gut geht, dann gibt es Momente, in denen wir sie am liebsten aus dem Fenster werfen würden, besonders wenn unser Büro im 80. Stock liegt, und dann langsam und freudevoll lauschen, bis wir unten ein leises ‚Plopp’ hören.“ – Gelächter im Publikum – „Ich meine das ganz ernst!

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels (a.a.O., S. 14) wird die Aufgabe des Therapeuten bei dieser Prozedur erläutert. Da KlientInnen zu lernen haben, sich mit ihren Misshandlern zu identifizieren, muss der Therapeut mit gutem Beispiel vorangehen (ebd.): „Die Toleranz der Aggression des Täters [des Vergewaltigers, KZ-Kommandanten usw.; K.S.], die auf uns [die TherapeutInnen; K.S.] projiziert wird, ist unerhört entscheidend für den Erfolg der Therapie, indem wir zum Täter werden können und wir uns als Täter identifizieren und es so dem Patienten erleichtern, sich selbst als Täter zu identifizieren.“

Abgesehen davon, dass Kernberg auch hier wieder zu seiner bewährten Verwirrung greift, wenn er von den Gewaltopfern fordert, „sich selbst als Täter zu identifizieren“ (also nicht einmal nur „mit dem Täter“, sondern sogar „als Täter“): Warum sollte die Lösung für die inneren (und äußeren) Konflikte der Betroffenen darin liegen, sich mit ihren jeweiligen Misshandlern zu „identifizieren“? Es liegt doch in dem gewöhnlichen Gebrauch des Begriffes „sich identifizieren mit“, dass man an Idole und positive Vorbilder denkt. Das würde dann doch quasi bedeuten, dass die Betroffenen in der Gewalt der Täter etwas Vorbildhaftes, Erstrebenswertes sehen sollten. Warum aber – bitteschön – sollte sich ein Opfer von Gewalt mit seinem Peiniger „identifizieren“ sollen? Es geht es doch darum, den Betroffenen deutlich zu machen, dass die ihnen auferlegte Zuschreibung – z.B., dass sie die Misshandlung, Gewalt etc. quasi verdient hätten – so schnell und effektiv wie möglich wieder loszuwerden und statt dessen gesunde Abgrenzung gegenüber den Zumutungen anderer zu entwickeln! Warum ermuntert Kernberg nirgendwo zum Ausdruck eigener, gesunder Aggression zur Gegenwehr gegen die Gewalt?

Kernberg verfolgt eben ein gänzlich anderes Konzept (S. 14): „Wir [TherapeutInnen; K.S.] müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten.

Noch nie habe ich eine derartige Ungeheuerlichkeit gelesen! Tatsächlich verspüre ich bei der Lektüre dieser Zeilen eine gewisse Lust, Brandbomben in bestimmte Schreibstuben zu werfen, in denen derartige Widerwärtigkeiten produziert werden! Aber ich weigere mich beharrlich, mir das Tagewerk eines KZ-Kommandanten, Folterers oder Kinderschänders plastisch auszumalen, mich mit diesen Menschen und ihrer Tätigkeit zu „identifizieren“, und darin eine Aufgabe zur Schulung meiner therapeutischen Kompetenz zu sehen! Und ich will mir auch nicht aufschwätzen lassen, dass „wir alle“ „die Bereitschaft dafür haben“ – angeblich in unserem „Unbewußten“, dem unerschöpflichen Reservoir für derartige – dort nicht mehr bestreitbare – Unterstellungen!

Kernberg krönt seine Ausführungen mit folgenden „technischen“ Hinweisen: „Es ist wichtig – ich zitiere da Freud in einem Brief von 1916 an Pfister – daß wir uns vor Mitleid schützen. Wie Sie wissen, ist Mitleid sublimierte Aggression. … Wir müssen daher versuchen … den Patienten, die uns fragen ‚Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?‘ zu erwidern: ‚Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?‘“ (ebd.)

Für Kernberg ist Mitleid gegenüber den Opfern von KZ, Folter oder Vergewaltigung eigentlich Aggression. Solche Opfer brutalster Bestialität, die ihn ausdrücklich um seine Einschätzung bitten – „Glauben Sie mir nicht? War das nicht entsetzlich?“ – wirft er mit einer kaum noch zu überbietenden Kaltschnäuzigkeit auf sich selbst zurück: „Warum brauchen sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?“ Wenn die Betroffenen irgendwann wütend werden auf diese Form der Einfühlungs-Verweigerung, die Kernberg ja auch noch für viel Geld als sog. Psychotherapie verkauft, dann nimmt er das nicht etwa zum Anlass, über sein Fehlverhalten nachzudenken, sondern er genießt die Phantasie, diese Leute jetzt aus dem 80. Stock zu werfen und freudvoll zu lauschen, wie ihr Körper auf dem Asphalt zerklatscht. Was ist das anderes, als purer Sadismus?

Über das Fortbestehen und den Verbreitungsgrad abstruser Thesen

Freud hatte es mit seiner 1896/97 sich abzeichnenden „Entdeckung“ der Bedeutung des (väterlichen) sexuellen Missbrauchs als Standardursache psychosomatischer Störungen schwer: Wenn die Betroffenen der Behauptung einer (angeblichen) inzestuösen Vergewaltigung durch den Vater widersprachen, ließ sich das nicht so leicht ignorieren. Peinlich vor allem, wenn die Betroffenen die so Beschuldigten zur Rede stellten – und sich dann womöglich die Beteuerungen der angeblichen Täter anhören mussten, dass an dieser Darstellung nichts Wahres dran sei. Manche PatientInnen verließen diese „Kur“ – was für Freud unangenehme finanzielle Verluste mit sich brachte. Er selbst musste in Bezug auf den von ihm zunächst beschuldigten Vater kleinlaut seinen Irrtum eingestehen. Er geriet mit seinen Generalisierungen – zu recht! – nicht nur in die Kritik seiner KlientInnen, sondern auch in die Kritik von Kollegen. Da hat er seine These ein klein wenig verschoben: Ja, Hysterie hat mit früher sexueller Erfahrung zu tun, ja, im Alter zwischen zwei und acht Jahren, ja, es geht immer um Inzest mit einem Elternteil. Nein, der Inzest hat nicht real stattgefunden, sondern ist vom Kind – aus seinem Inzesttrieb heraus – phantasiert worden.

Ab diesem Zeitpunkt sind für Freud Kleinkinder „polymorph pervers“. In der Therapie geschilderte kindliche Gewalterfahrungen schreibt er ihrer „retrospektiven Phantasie“ zu. Sofern Gewalterfahrungen nicht geleugnet werden können, werden zumindest die zentralen Folgeschäden dem triebhaften Innenleben der Betroffenen selbst zugeschrieben (vgl. Emma Eckstein). Die Verleugnung des Traumas hilft Freud so zu tun, als behalte er seinen ursprünglichen Theorieansatz bei [Endnote 16] und erleichtert ihm und seinen Gefolgsleuten die Suggestion. Der kleine Unterschied zwischen seinem alten und dem neuen Theorieansatz hatte große Folgen: Seither ist in der (Freudschen) „Psychoanalyse“ die Kategorie Opfer abgeschafft. [Endnote 17] Genau dieses Gedankengebäude – Resultat von Freuds fundamentaler Konfusion – liegt der Position Otto Kernbergs zugrunde.

Phantasie oder Wirklichkeit?

Dieses Denken beeinflusst auch heute noch manche KollegInnen. Im Jahr 1999 hat Anke Kirsch 91 ExpertInnen (überwiegend psychologische oder ärztliche PsychotherapeutInnen aus ganz unterschiedlichen Therapierichtungen) in einer Delphi-Studie zum Thema „Trauma und Erinnerung“ befragt, wie sie dazu gelangten, den ihnen berichteten sexuellen Missbrauch als Phantasieprodukt zu werten. In dem entwickelten Fragebogen für die ExpertInnen heißt es (Kirsch, 1999, 31):

Die folgenden Statements beziehen sich auf Kriterien, die von Ther. als Hinweise für retrospektive Phantasien angesehen werden. Die Statements waren nach dem Ausmaß der Zustimmung zu gewichten. …
20.4 Die Schuldfrage wird eher externalisiert und bei dem/der Täter/in gesucht. …
20.5 Die Pat. gehen mit einer größeren Überzeugung und Sicherheit davon aus, dass eine sexuelle Traumatisierung stattgefunden haben müßte.

Diesen zwei Stellungnahmen haben 65,7 % bzw. 63,9 % „überwiegend“ oder „völlig“ zugestimmt. So sieht also die Weltsicht von circa zwei Dritteln der ExpertInnen für die Behandlung von schwer traumatisierten PatientInnen aus: Sie ordnen den ihnen geschilderten Missbrauch einer „retrospektiven Phantasie“ zu, wenn die Betroffenen die Schuld dafür eher beim Täter suchen und mit größerer Sicherheit von der Realität des Ereignisses überzeugt sind! Nur winzige 4,7 % bzw. 4,9 % lehnen eine solche geradezu paradoxe Schussfolgerung entschieden ab.

Resultat einer kleinen Befragung

Bereits in früheren Publikationen [Endnote 18] hatte ich Opferbeschuldigungen in drei Werken Kernbergs [Endnote 19] attackiert. Direkt angesprochene KollegInnen reagierten jedoch i.d.R. mit großer Zurückhaltung auf meine Kernberg-Kritik. Nach meiner ersten Lektüre von Kernbergs Aufsatz von 1999 zitierte und kritisierte ich spontan den Text ausführlich in einem 11seitigen Papier, verschickte es an knapp 500 mir zumeist unbekannte Adressaten per Email und bat um Rückmeldung. In der Mehrzahl der Schreiben hatte ich zunächst Kernberg nicht als Autor benannt. In diesem Fall bekam ich Rückmeldung von 49 Personen (8,7 %), die ihre Antwort jedoch meist auf die Kritik an der fehlenden bibliografischen Angabe beschränkten. In aller Regel verstummten die Antwortenden, wenn ich Kernberg als Urheber des Textes nannte. Bei direkter Angabe von Kernbergs Namen in weiteren ca. 200 Anschreiben bekam ich 6 Rückläufe (2,9 %). (Es kamen noch 13 Antworten von einigen Prominenten hinzu, die ich gezielt brieflich befragt hatte.) Die Bereitschaft, auf die Kritik von Kernbergs Artikel zu reagieren, war also geringer ausgeprägt, wenn die KollegInnen seinen Namen vor Augen hatten. Sofern reagiert wurde, fand meine Kritik teilweise Zustimmung, teilweise jedoch auch deutliche Ablehnung. Sämtliche Kommentare sind – mitsamt meinen teilweise gegebenen Antworten – auf meiner Webseite nachzulesen (Schlagmann, Web). Einige Antworten sind hier im Anhang wiedergegeben.

Das Ringen um einen Leserbrief

Im Jahr 2004 hatte sich im Saarland eine Psychotherapeuten-Kammer konstituiert. Im Mitteilungsblatt dieser Kammer, dem FORUM, wurde in seiner zweiten Nummer ein „Diskussions-FORUM“ eröffnet. Ein Kollege hatte für einen „menschlichen, empathischen und respektvollen Umgang“ zwischen Therapeut und Klient geworben. Ich selbst formulierte dann in einem Leserbrief, auf der Grundlage einiger Zitate von Kernberg: „Im Interesse unserer KlientInnen und im Interesse unseres Rufes sollten wir derartig unmenschlichen Positionen, wie oben zitiert, ausdrücklich eine gemeinschaftliche Absage erteilen.

Es wurde dann eine Erklärung der Redaktion (Leitung: Kammerpräsidentin Ilse Rohr) abgedruckt: Mein Beitrag für das Diskussions-FORUM sei nicht aufgenommen worden, weil das Organ „keine Plattform für Vorurteile oder Polemik“ bieten wolle. In der Vertreterversammlung vom 28.02.2005 stellte ich meinen Beitrag zur Debatte. Drei Vorstandsmitglieder und ein Mitglied der Vertreterversammlung argumentierten ausdrücklich gegen dessen Veröffentlichung. Zwei übrige Vorstandsmitglieder bezogen keine Stellung. Allein der Kollege Raimund Metzger votierte für die Publikation. Das Protokoll dieser Sitzung hält fest: Mein Artikel enthalte „tendenziell manipulative Elemente[.], die Arbeitsmethoden verunglimpfe“.

In einem dritten Anlauf wollte ich per ganzseitiger Anzeige im FORUM (Kosten: 200,00 €) Werbung für mein Anliegen betreiben (Schlagmann, Web). Fehlanzeige. Ilse Rohr mit Schreiben vom 18. Mai 2005: An dem „unsachlichen, sich eben nicht kritisch auseinandersetzenden Inhalt“ des Beitrags habe sich nichts geändert. Man sehe sich „leider weiterhin nicht imstande“, den Artikel im FORUM zu veröffentlichen. „Das betrifft ebenso Ihren Wunsch nach Veröffentlichung als Anzeige.

Eine vierte Version, in der ich mich praktisch ganz auf das Zitieren der kritisierten Thesen beschränkte, wurde im FORUM 9 abgedruckt. Allerdings fiel immer noch eine Passage dem Rotstift der Kammerpräsidentin zum Opfer: „Über eine Rückmeldung freut sich:“ – mitsamt meiner Adresse. Bis heute hat mich auch keine einzige Reaktion erreicht.

Meine Kritik am Vorgehen der Kammer gegenüber dem damaligen Saarländischen Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Josef Hecken, am 15. August 2006 wurde mit Schreiben vom 12. Dezember 2006 beschieden, wonach das Vorgehen der Kammer nicht zu beanstanden sei.

Resümee und Ausblick

Sigmund Freud hat Traumatisierungen ab 1897 regelrecht verleugnet, neurotische Störungen nicht mehr als unmittelbare Traumafolgen, sondern als Folgen verdrängter perverser Kinderphantasien aufgefasst (Triebtheorie). Diesen oft diskutierten Umbruch sehe ich im Zusammenhang seiner sog. Selbstanalyse, der Erforschung seines familiären Konflikts. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Konflikts lag wohl in einem Mutter-(Stief‑)Sohn-„Inzest“. Freud thematisiert den „Inzest“, weicht jedoch der offenen Konfrontation mit seiner vereinnahmenden Mutter aus. Eine erste Verschiebung führt zu einer Väter-Vergewaltigungs-Theorie. Eine zweite (doppelte) Verschiebung, geprägt von Freuds Erfahrungen mit Emma Eckstein, führt zur Triebtheorie, die die Betroffenen selbst ihrer perversen Phantasien beschuldigt.

Schwere Persönlichkeitsstörungen gehen demnach auf innerliche Prozesse im frühen Kindesalter zurück. In treuer Gefolgschaft zu Freud konzentriert sich Kernberg dabei auf „chronische Aggression“ bzw. „orale Wut“ und „oralen Neid“. Hinter dieser Ätiologie sollen selbst brutalste Trauma-Erfahrungen – „Konzentrationslager, Krieg, … Vergewaltigung, Geiselnahme, Terror, … Folter … schwere[.] körperliche[.] und sexuelle[.] Misshandlung“ – zurückstehen. Ich stimme voll mit Herman (1998) überein, die umfangreiche Belege gegen diese Sichtweise vorbringt.

Vielleicht ist gerade eine detaillierte Sicht auf Kernbergs Thesen von 1997/99 dazu angetan, schärfer und klarer über diese alte Kontroverse zu diskutieren und sie zu „analysieren“ – d.h. aus der Rückschau aufzulösen. Dies halte ich für eine zentrale Herausforderung für die aktuelle Psychotherapieforschung.

Auf meine Kritik habe ich bislang nur spärliche und recht gemischte Resonanz erhalten. Ausdrücklich danke ich denjenigen, die sich namentlich zu ihrer Ablehnung meiner Kritik bekannt haben. Aus ihrer offenen Stellungnahme könnten sich Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen ergeben. Dagegen scheint mir das mehrfache Abschmettern des bloßen Diskussionsversuchs durch den Vorstand meiner örtlichen Therapeutenkammer mehr als unbefriedigend.

Einige im Anhang stellvertretend abgedruckte Rückmeldungen zeigen, dass das Eintreten für solche Kritik Standfestigkeit und Durchhaltevermögen erfordert. Ich danke natürlich denjenigen, die meiner Kritik ursprünglich zugestimmt hatten, die aber heute nicht mehr namentlich genannt sein wollten. Und ich danke ganz besonders und herzlich dem kleinen Kern von Fachleuten, Herrn Prof. Battegay, Frau Prof. Freud, Herrn Prof. Hoffmann und Herrn Prof. Schulz, für ihren Mut, sich mit ihrer Kritik an Kernberg offen an meine Seite zu stellen. Sophie Freud, die ihren Großvater im Jahr 2002 in Wien einen „falschen Propheten“ genannt hat, spart auch nicht mit harter Kritik an Otto Kernberg. Gerade ihre Stellungnahme – aus berufenem Mund – mag einen nachhaltigen Anstoß geben zu einem gründlichen Überdenken psychoanalytisch geprägter Verharmlosung und Verleugnung von Traumata.

Anhang: 13 Antworten auf eine kleine Umfrage

Zunächst einige mehr oder weniger deutliche Ablehnungen meiner Position:

Dr. med. Ulrich Bahrke (Halle), inzwischen stellvertretender Leiter des Sigmund-Freud-Institutes in Frankfurt: „Ich finde, daß Sie ihm [Kernberg; K.S.] in der Art der Zitierung und Interpretation nicht gerecht werden. Kernberg schreibt bewußt aus einer klinischen Perspektive, nicht aus einer allgemein‑menschlichen. Ich kann sowohl Ihre Empörung nicht teilen und empfinde auch Ihre Zitierweise tendenziös und unfair. Darüber hinaus habe ich eine grundsätzlichere Kritik. Sie stellen das Trauma‑Modell dem Trieb‑Modell gegenüber ‑ eine Dualität, die es vor 100 Jahren gegeben haben mag, die aber der heutigen Psychoanalyse in keinster Weise gerecht wird. Ich möchte nur auf den Übersichtsartikel von Bohleber in der „Psyche“ Ende letzten Jahres verweisen. Worauf dieser allerdings im Gegensatz zu Kernberg entschieden hinweist ist die Anerkennung des realen Traumas vor der therapeutischen Bearbeitung dessen, was dieses Trauma mit der intrapsychischen Realität gemacht hat. Dies ist mir bei Kernberg nicht eindeutig genug herausgestellt, wenngleich – ein Anhänger des Triebmodells ist er nun wirklich nicht. (Wer sollte das denn überhaupt noch sein?)

Dr. Bahrke hat der Veröffentlichung seiner Antwort vom 12. September 2000 auf mein damaliges Anschreiben am 13. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

Prof. Dr. Eckhard Giese (Erfurt): „Ich kann mich, kurz gesagt, mit Ihrer Sichtweise nicht recht anfreunden, jedenfalls, was die Person und den Autor Kernberg und den beigelegten Text von ihm betrifft. Es ist ja durchaus als Gefahr in dem Ansatz der Psychoanalyse angelegt, dass eine zumindest innere Beteiligung des Opfers an einem Gewaltakt untersucht wird und, dieses, aber da wird es in meinen Augen schon unfachlich, gar mit verantwortlich gemacht werden mag. Wenn in diesem Sinne etwa einem Vergewaltigungsopfer 1: 1 unterstellt werden würde, sie sei „selber Schuld“, dann ist das natürlich hahnebüchen – aber so etwas würde Kemberg auch, wie ich ihn verstehe, nie tun. Deswegen ist die Person des Opfers aber nicht unhinterfragt gut bzw. ihre Motive außen vorzulassen, sondern sie gehören durchaus zum Verständnis der Situation. Es ist doch alles Psychologie, es geht um Verstrickungen zwischen Personen, nicht nur auf der Ebene des Faktischen, sondern auch der Projektion, Fantasien. Sind nicht auch Ihnen Fälle, wie der von Kernberg geschilderte, geläufig, in denen Menschen, die in ihrer Kindheit gequält und zurückgesetzt wurden, als Erwachsene tatsächlich brutale Aggressoren wurden? Mir scheint nicht, dass Kernberg Täter, Psychopathen, Gewaltverbrecher … exkulpieren möchte. (Ich habe gerade ein ausgezeichnetes Video über das Leben des Sexualverbrechers Jürgen Bartsch gesehen, dessen schauriger Lebenslauf von einer Studentin empathisch veranschaulicht wurde. Hier ist es eher die menschliche Umgebung des Täters, die denkbar schlecht wegkommt …) Sie können diesen Zeilen gern entnehmen, dass ich kein Psychoanalyse‑Experte bin. Es könnte sein, so mein Eindruck, dass Sie einem durchaus systematisch gegebenen Risiko der psychoanalytischen Theoriebildung auf der Spur sind, sich aber in der Person und bezüglich der Ausführung von Otto Kernberg irren …

Prof. Dr. Giese hat der Veröffentlichung seiner Antwort vom 19. Juni 2001 auf mein damaliges Anschreiben am 14. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Dr. med. Mathias Hirsch (Düsseldorf): „Ich kannte den Aufsatz von Kernberg in der Vortragsfassung (Lindau 1997) und habe ihn jetzt noch einmal gelesen. Ich verstehe Kernberg ganz anders als Sie. Als Freudianer und zum Teil Kleinianer hatte er lange den Trieb und sogar die Heredität als Ursprung der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen gesehen und hat eine große Begabung, in das Chaos der Borderline­Störungen System hineinzubringen. Das hat ja auch seinen Ruhm begründet. Was er jetzt ver­sucht – immerhin – ist, die traumatisierenden Umwelteinflüsse sowohl familiärer als auch ak­zidenteller Art einzubeziehen. Daher ist er manchmal unentschlossen und inkonsequent.

Aber das werfen Sie ihm ja gar nicht vor. Das Hauptmissverständnis scheint mir an einer un­geklärten Definition des Begriffs ‚identifizieren’ zu liegen. Kernberg meint doch nicht, dass man den KZ‑Wächter gut finden und sein Handeln akzeptieren muss, sondern meint es eher (und seine mangelnde Übung der deutschen Sprache wird ein übriges tun) so, dass der Patient den Therapeuten mit dem Täter identifiziert, es geht also um Übertragung und Projektion.

Die anderen Bereiche: Kennen Sie denn nicht die Identifikation mit dem Aggressor, die im Zusammenhang mit Traumatisierung regelmäßig auftritt, wie es Ferenczi (1933) zuerst so genial beschrieben hat. Das macht auch das Tragische aus, dass das Opfer sich mit dem Täter identifiziert und so weiter Opfer bleibt, von schweren Schuldgefühlen geplagt, die es dem Täter sozusagen abgenommen hat. Meine Position finden Sie in beiliegendem Sonderdruck, der sozusagen eine Kurzfassung meines ausführliches Buches Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychodynamik von Trauma und Introjekt. Vandenhoeck & Ruprecht, 1997 darstellt.

Wie ich es sehe, werden wir uns wohl kaum einigen können.

Dr. Hirsch hat der Veröffentlichung seiner Antwort vom 08. Januar 2001 auf mein damaliges Anschreiben am 12. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. med. Gerd Rudolf (Heidelberg): „Beim Lesen von Artikeln oder Fallgeschichten, welche sich mit dem Thema der Gewalt, des Missbrauchs der Täter- oder Opferschaft befassen, fällt mir immer wieder auf, dass die Verfasser in heftige Affekte hineingerissen werden, die sie wahrscheinlich außerhalb der Beschäftigung mit diesem Thema nicht erleben. Ich vermute, es gehört auch nicht zu Ihren üblichen Phantasien, Brandbomben in Schreibstuben zu werfen (S. 7) [Bezug auf mein Papier „Weisheit oder Wahnsinn?“, vgl. Web; K.S.]. Offenbar kann man sich mit einer solchen Thematik nicht ernsthaft auseinandersetzen, ohne rasch selbst in die Dialektik von Täter und Opfer hineingezogen zu werden.

Die von Kernberg angesprochene Psychodynamik, dass eine der unbewussten Bewältigungsmöglichkeiten von Opfern immer auch darin liegt, sich mit der Täterseite zu identifizieren, gehört zum einigermaßen gesicherten psychotherapeutischen Wissen. Es hilft z.B. zu verstehen, wie sich die Täter-Opfer-Dynamik über Generationen hinweg oder durch die Interaktionen hindurch immer weiter fortpflanzt. Auch für Psychotherapeuten scheint es mir unerlässlich, dass er sowohl der Täter- wie der Opferseite begegnet (ohne sich, wie Sie befürchten, mit der einen oder anderen Seite voll zu identifizieren).

Aus Ihrer Empörung klingt für meine Ohren eine eher – wenn Sie mir bitte das nicht übel nehmen wollen – naiv-gutgläubige Position heraus: ‚Die Täter sind die Täter, die Opfer sind die Opfer, und wir Psychotherapeuten stehen natürlich als Helfer ganz auf seiten der Opfer.’ Da scheint mir die Welt doch etwas zu eindeutig in gut und böse, schwarz und weiß aufgeteilt. Ich habe Psychotherapeuten mit solchen Einstellungen kennengelernt und bei manchen den Eindruck gewonnen, dass sie in ihrer kämpferischen Loyalität mit den Opfern eigentlich dazu beitragen, diesen Opferstatus (mit allen daran hängenden Wiedergutmachungshoffnungen) zu verfestigen, anstatt therapeutisch Bewältigungsmöglichkeiten und Neuorientierungen zu eröffnen.

Mich persönlich spricht der Artikel des erwähnten Autors nicht besonders an, ich könnte Ihre Vermutung teilen, daß darin Persönliches anklingt. Was jedoch die Empörung betrifft, so vermute ich, daß sie aus der fehlenden Kenntnis psychodynamischer Konzepte resultiert, welche sich mit unbewussten intrapsychischen Konflikten und unbewussten intrapsychischen Bewältigungsstrategien beschäftigen, die in der vorliegenden Darstellung möglicherweise etwas zu konkretistisch imponieren, von manchen Lesern als bewusste Einstellungen mißverstanden werden und daher Widerspruch auslösen.

Prof. Dr. Rudolf hat der Veröffentlichung seiner Antwort vom 14. September 2000 auf mein damaliges Anschreiben am 16. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma:ich glaube, daß es auf die Kontexte ankommt. Aussagen wie die von Ihnen referierten können durchaus zutreffend sein. Unvorsichtig und kontextfrei gehandhabt wirken sie in der Regel diffamierend. Das von Ihnen erwähnte Therapiekonzept wirkt so natürlich arg krude, aber für den Fall einer vorliegenden unbewußten Identifikation mit dem Aggressor muß diese natürlich, um bewußt gemacht und überwunden zu werden, auch durchlebt werden. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Der Fehler liegt in den generalisierenden Aussagen. Ich möchte mich zu Ihrem Artikel nicht äußern, weil ich den ursprünglichen Artikel nicht kenne und darum nicht weiß, ob Sie ihn etwa mit dem Satz, er behaupte, ein vergewaltigtes Kind habe an der Vergewaltigung ‚Spaß gehabt’, nicht falsch paraphrasieren.

Und in einem weiteren Brief: „anders als Sie respektiere ich die Psychoanalyse, wenn auch aus kritischer Distanz. Wie jede andere Therapieform auch ist sie für manche Menschen von großem Nutzen (ich kenne solche), für andere nicht. Außerdem gibt es gute und schlechte Analytiker. Nach meinem Verständnis verzerren Sie Kernbergs Aussagen, wenn Sie sagen, hier würden Opfer zu Tätern gemacht. Sie laden auch Begriffe normativ auf, die es in ihren Kontexten nicht sind. Dennoch würde mich die Endfassung Ihres Aufsatzes natürlich interessieren.

Prof. Dr. Reemtsma hat der Veröffentlichung seiner Antworten vom 04. Dezember bzw. vom 05. März 2001 auf meine damaligen Anschreiben am 21. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. A: „auch ich bin nach Ihrer Mail sehr besorgt – allerdings nicht über Herrn Kernberg, sondern über Sie, der Sie – völlig aus dem Zusammenhang gerissen – offensichtlich wenig von Täter-Opfer-Dynamiken verstehen. Ich kann das an dieser Stelle nicht näher ausführen, weil es völlig den Rahmen einer mail sprengen würde, bin aber auch erschrocken über so viel Oberflächlichkeit“.

Prof. Dr. A. hat auf mein zweifaches Anschreiben mit der Bitte, seine Äußerung vom 18. September 2000 unter seinem Namen veröffentlichen zu dürfen, nicht reagiert.

Häufiger hatten die Angesprochenen sich bemüht, auf meine Kritik nicht näher einzugehen bzw. nicht weiter darauf zu reagieren, selbst bei teilweiser Zustimmung:

Prof. Dr. med. NR: „Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Ihre Beispiele zeigen, daß wir immer wieder Gefahr laufen, allzu nachlässig mit unserer klinischen Sprache umzugehen. Leider erlaubt mir mein Zeitbudget nicht, Ihre Anregung aufzunehmen und mich an Ihrer Aktion zu beteiligen. Ich bitte um Verständnis.“ [Der Angeschriebene wusste nicht, dass die Zitate aus Kernbergs Feder stammten. Nach Aufklärung über den Urheber des Textes erfolgte keine weitere Reaktion.]

Prof. NR. wollte meiner Bitte, seine Antwort vom 13. September 2000 auf mein damaliges Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, ausdrücklich nicht entsprechen.

Hier nun einige eindeutig positive Reaktionen:

Prof. Dr. Raymond Battegay (Basel): „Natürlich bin auch ich der Ansicht, dass der von Ihnen zitierte Kollege psychoanalytisch nicht belegbare Theorien verwendet, die zweifellos die Problematik der betreffenden Patienten verfehlt. Zwar kennen wir seit Freud das psychologische Phänomen der Identifikation mit dem Feind. Diese richtet sich aber immer (unbewusst) gegen die eigene Person.

Was Ihre Beurteilung des ‚Therapeuten’ anbetrifft, bin ich der Ansicht, dass Sie davon Abstand nehmen sollten, ihn mit einer Diagnose zu stempeln. Ihr Brief sollte sich meines Erachtens darauf beschränken, sachlich Ihre Meinung zu sagen.“ [Prof. Battegay wusste zum Zeitpunkt, als ich ihn erstmals anschrieb, nicht, dass die Zitate aus der Feder Kernbergs stammten.]

Prof. Battegay hatte auf meine Bitte, seine Antwort vom 25. September 2000 auf mein damaliges Anschreiben abdrucken zu dürfen, am 08. März 2000 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Sophie Freud (Lincoln): „Ihre Entrüstung gegen Kernberg scheint mir sehr berechtigt. Der Kerl hat so viele aggressive Klienten weil sein Verhalten solche Gefühle herausfordert, und er sieht die Aggressionen nicht als Antwort auf sein Benehmen, sondern interpretiert sie ganz anders. Ich weiss wirklich nicht warum er so beliebt ist, vor allem in Europa. Ich war einmal, beim 1. Weltkongress, mit ihm in einem Fernseh-Gespräch und habe ihn damals sehr angegriffen. Das war lustig, und seine Frau fragte mich dann, warum ich das getan hätte. Persönlich ist er ja sehr höflich und zuvorkommend. Aber ich habe kein Bedürfnis, ihn als Cause Celebre anzunehmen. … ich meine Sie sollten im deutschen Bereich ihre Stimme erheben, eben so, daß sie mehr gehört wird. Ich wünsche Ihnen besten Erfolg“.

Prof. Freud hatte auf meine Bitte, ihre Antwort vom 10. Oktober 2000 auf mein damaliges Anschreiben unter ihrem Namen abdrucken zu dürfen, am 07. März 2000 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. Sven Olaf Hoffmann (Hamburg): „Ich kann Ihr Befremden über die inkriminierten Äußerungen nachvollziehen, glaube auch, daß es sich hier bei Kernberg um eine spezifische Schwäche handelt, mir fehlt aber einfach die Zeit, die Sache gründlich zu prüfen. … Auch als Therapeut stelle ich mich immer erst einmal auf die Seite des Opfers, was gerade manche Psychoanalytiker versäumen. Da ist es dann nicht selten das infantile Opfer, das den Täter verführt oder (bei M. Klein) seine eigene Destruktivität in ihn projiziert hat. Der arme Täter hat sich mit dem bösen Opfer und dessen eigener Aggression dann ‚projektiv identifiziert’ und es deshalb halt mißbraucht. Das ist, wohlgemerkt, in meinem Munde Satire, aber gerade bei dieser Art psychoanalytischen Denkens gilt, ‚daß es schwierig ist, keine Satire zu schreiben’ (Juvenal). An solcher Art des Verständnisses ist einiges auch zutiefst inhuman. Ob das nun aber auf Kernberg zutrifft, dazu möchte ich mich einer Meinung dezidiert enthalten. Ich habe diesen Teil seines Werks entschieden zu wenig ernsthaft studiert und werde es sicher auch nicht mehr tun, weil mir der Gewinn an neuer wissenschaftlicher Erkenntnis heute nicht mehr innerhalb des psychoanalytischen Paradigmas angesiedelt erscheint.

Prof. Dr. Hoffmann hatte auf meine Bitte, seine Antwort vom 20. Januar 2001 auf mein damaliges Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, am 13. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Schulz (Braunschweig): „Der Vergleich mit dem KZ-Kommandaten (Fall 1) ist eine Unverschämtheit, solch ‚verqueres’ Denken habe ich aber bei Psychoanalytikern immer wieder angetroffen. Ich weiß aber nicht, ob das mit der Gleichsetzung wirklich stimmt, ob Sie Kernberg da nicht unrecht tun, denn er spricht von ‚als ob’. Der 1. Fall ist vielleicht noch nachvollziehbar, jedenfalls gedanklich, der 2. Fall ist das aber nimmer (‚als ein sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter’, ‚ihre Schuld tolerieren’ …) – hier finde auch ich keine Worte mehr und meine Geduld und Bereitschaft, zu verstehen, sind erschöpft. Beim 3. Fall kommt die ‚Tat’ des Therapeuten überhaupt nicht zur Sprache, sie wird nur mit den ‚schweren narzißtischen Problemen’ fast entschuldigt. Ich stimme Ihrer Analyse also überwiegend zu. Leider verlassen Sie immer wieder die sachliche Ebene, z.B. wenn Sie Kernberg ‚maßlose Verwirrung im Denken’ unterstellen. Ich weiß auch nicht, ob und inwieweit in solch einer Erwiderung Ihr Entsetzen zum Ausdruck kommen sollte. Auf jeden Fall sollten die Argumente deutlich als solche sichtbar und nicht mit Wertungen vermengt werden. Ihre ‚Mutmaßungen über den Autor’ sind überflüssig und schaden dem Anliegen.“

Prof. Dr. Schulz hatte auf meine Bitte, seine Antwort vom 19. Oktober 2000 auf mein damaliges Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, am 17. März 2007 ausdrücklich zugestimmt.

 

Prof. Dr. Z1: „fast beneide ich Sie wegen Ihrer Fähigkeit, Ihre berechtigte Entrüstung und Wut zum Ausdruck zu bringen und auch an Wege zu denken, wie man pragmatisch gegen solche Texte vorgehen kann, die das Gesamtbild des Psychotherapeuten schädigen. Ich selbst habe nämlich fast resigniert gegen den Aggressions- bzw. Todestrieb anzugehen, nachdem ich festgestellt habe, daß mir sonst gutwillig und vernünftig erscheinende Kollegen nach langen Diskussionen, in denen ich geglaubt habe sie überzeugt zu haben, sie in stereotyper Weise immer wieder auf diese alten überholten triebtheoretische Postulate zurückkamen. Es wäre aber falsch, alle Psychotherapeuten, die auf der selben Weise wie der von Ihnen noch nicht namentlich genannte Psychotherapeut, mit schwersten Traumatisierungen umgehen, in einen Topf zu werfen. Es gibt viele Kollegen, die nur aus Gründen der Loyalität oder der Gewöhnung oder Angst vor dem Neuen oder aus anderen Gründen weiterhin immer wieder dasselbe Lied singen. Ich würde es also vorziehen, zunächst nur die Sache als solche scharf zu kritisieren (und das ist bestimmt in diesem Fall nicht schwierig!), ohne konkrete Hypothesen über die pathologische psychische Struktur des Verfassers zu formulieren, auch wenn diese Hypothesen begründet erscheinen. … Insgesamt begrüße ich also Ihre Initiative, bin aber der Meinung, daß man versuchen sollte, auf der Ebene der sachlichen Diskussion über die Tragfähigkeit der jeweiligen Konzepte zu bleiben.“ [Der Angeschrieben wusste nicht, dass die Zitate aus der Feder Kernbergs stammten. Nach Aufklärung über den Urheber des Textes erfolgte keine weitere Reaktion.]

Prof. Dr. Z1 wollte meiner Bitte, seine Antwort vom 12. September 2000 auf mein damaliges Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, ausdrücklich nicht entsprechen.

 

Dr. Z2: „Kernberg anzugreifen ist nicht einfach, da er hier sehr angesehen ist. Man muß also die Kritik so formulieren, daß man selbst möglichst unangreifbar bleibt. … Theorien kann man letzten Endes sowieso so viele haben wie Sand am Meer. Im therapeutischen Bereich geht es um Heilung oder Linderung von Leiden. Das hat viele Psychoanalytiker in der Tradition von Freud aber noch nie sonderlich interessiert. Sie verstehen sich eher als Forscher in den Abgründen der Seele und finden vielleicht die Eier, die sie selbst versteckt haben. Das zu beweisen oder zu widerlegen ist schwierig und geht von einem anderen Paradigma her auch schwer. Man muß sich also auf ein übergeordnetes Paradigma verständigen oder innerhalb des psychoanalytischen bleiben. Sie scheinen mir das etwas zu verwischen. Ich selbst habe mich dafür entschieden, weniger ‚gegen’ Dinge zu kämpfen als ‚für’ die Dinge, die mir am Herzen liegen. Das ist für mich persönlich erfreulicher.“ Und in einem zweiten Brief: „Sie haben natürlich recht mit Ihrer Kritik und die von Ihnen aufgeführten Fälle sind allesamt skandalös. Leider hatte ja trotzdem z. B. ‚Was hat man Dir Du armes Kind getan’ (Masson) keinerlei Resonanz unter Psychoanalytikern. Ich hatte das seinerzeit (1989) mal recherchiert und vom Rowohlt-Verlag erfahren, daß das Buch von keiner einzigen psychoanalytischen Zeitschrift rezensiert worden ist. Das ist halt das Problem, daß Kritik tot geschwiegen wird und die Kritiker, wenn möglich auch. So werde ich von vielen Kollegen auch massiv angefeindet.

Dr. Z2 wollte meiner Bitte, seine Antwort vom 29. September bzw. 17. Oktober 2000 auf meine damaligen Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, ausdrücklich nicht entsprechen.

 

Prof. Dr. Z3: „Die heiklen Publikationen sind mir bekannt. Ich habe dazu auch bereits dezidiert kritisch Stellung bezogen und mir mit meiner Kritik erwartungsgemäß Ärger, aber auch Zustimmung eingehandelt. Der artikulierte Ärger macht nichts. [Er vertrete eine] heftig‑kritische Position zur Psychoanalyse Kernbergs, zum unreflektierten ‚Ödipus und früher’ […]. Kernberg 99, den Sie mir zugeschickt haben, habe ich … übrigens ebenfalls als hochgradig problematisch [kritisiert] … Ich habe auch auf die Gefahr hingewiesen, dass sich die Psychoanalyse selbst ins Abseits katapultiert, wenn sie ihre Argumentationsmodelle nicht radikal modernisiert. Ich bin also mit Ihnen einer Meinung, dass man die z.T. ‚ungehobelten Denk‑ und Sprachschablonen’ einiger (bei weitem nicht aller) Psychoanalytiker zukünftig durchaus kritisch unter die Lupe nehmen sollte.

Prof. Dr. Z3 wollte meiner Bitte, seine Antwort vom 26. März 2001 auf mein damaliges Anschreiben unter seinem Namen abdrucken zu dürfen, ausdrücklich nicht entsprechen.

Aus den Briefen wird zum einen deutlich, wie unterschiedlich die Auffassungen sind: Während mir einerseits vorgehalten wird, ich hätte Kernberg nicht verstanden, wird mir von anderer Seite attestiert, ich hätte ihn sehr wohl verstanden, meine Kritik wird bestätigt. Zum anderen wird in den Briefen, die mir zustimmen, angedeutet, dass bei Widerspruch gegen psychoanalytische Denkmuster z.T. unangenehme Gegenreaktionen erlebt wurden (Prof. Dr. Z1, Dr. Z2., Prof. Dr. Z3). Die von mir ausdrücklich um eine Zustimmung zur Veröffentlichung gebetenen Personen, die ihre Zustimmung ausdrücklich nicht erteilt hatten, hatten sich im Jahr 2000 allesamt meiner Kritik mehr oder weniger angeschlossen. Eventuell war ihr Wunsch, anonym zu bleiben, geprägt von den Erfahrungen mit den erwähnten Anfeindungen.

Klaus Schlagmann, Jahrgang 1960, Diplom Psychologe, Psychologischer Verhaltenstherapeut, Ausbildung in katathym-imaginativer Psychotherapie (Gruppe), NLP (Master), Hypnose, in eigener Praxis tätig.

Scheidter Straße 62, D – 66123 Saarbrücken, 0681/375 805
Email: KlausSchlagmann@t-online.de; Web: http://www.oedipus-online.de/

 

Literatur:

Beutler, Ernst (Hg.) (1950). Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 20: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Zürich, Artemis

Breuer, Josef (o.J.). Brief an Sigmund Freud. (Der Brief befindet sich im Sigmund-Freud-Archiv in New York und ist bis ins 22. Jahrhundert hinein nur ausgesuchten Personen zugänglich; meine Information stammt aus zuverlässiger Quelle.)

Decker, Hannah S. (1991). Freud, Dora, and Vienna 1900. New York u.a., The Free Press

Freud and Dora: 100 years later. Psychoanalytic Inquiry, 2005, 1

Freud, Sigmund (1895/1952). Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als ‚Angstneurose’ abzutrennen. In: Gesammelte Werke. London, Imago Publishing. Bd. 1, S. 315-342

— (1896/1952). Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. In: GW. Bd. 1, S. 379-403

— (1898/1952). Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. In: GW. Bd. 1, S. 491-516

— (1905/1993). Bruchstück eine Hysterieanalyse. Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch

Herman, Judith Lewis (1992). Trauma and recovery. New York: Basic Books. Deutsch: (1998). Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München, Kindler

Hirschmüller, Albrecht (1978). Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 4. Bern, Hans Huber

Israëls, Haen (1999). Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge. Hamburg, Europäische Verlagsanstalt

Kernberg, Otto F. (1990; 5. Aufl.). Borderline-Störungen und Pathologischer Narzißmus. Frankfurt a.M., Suhrkamp

— (1997): Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Auditorium Netzwerk, 2 CDs (www.auditorium-netzwerk.de)

— (1999): Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: PTT 1999, 1: S. 5-15

Kirsch, Anke (1999). Erste Ergebnisse eines Expertendelphis zum Thema „Trauma und Erinnerung“. Arbeiten der Fachrichtung Psychologie des Saarlandes, Nr. 190. Saarbrücken.

Krüll, Marianne (1992). Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch

Masson, Jeffrey M. (Hrsg.) (1986). Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt, Fischer

— (1995). Was hat man dir, du armes Kind getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Freiburg, Kore

Rank, Otto(1926/1974). Das Inzest-Motiv in Sage und Dichtung. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Sachsse, Ulrich (2006). Abschied von meiner psychoanalytischen Identität. In: Kernberg, Otto; Dulz, Birger & Eckert, Jochen: WIR: Psychotherapeuten über sich und ihren „unmöglichen“ Beruf. Stuttgart u.a., Schattauer

Schlagmann, Klaus (1997). Zur Rehabilitation von „Dora“ und ihrem Bruder. Oder: Freuds verhängnisvoller Irrweg zwischen Trauma- und Triebtheorie. Bd. 1: Der Fall „Dora“ und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Saarbrücken, Der Stammbaum und die 7 Zweige

— (2005). Ödipus – komplex betrachtet. Männliche Unterdrückung und ihre Vergeltung durch weibliche Intrige als zentraler Menschheitskonflikt. Nebst Ausführungen zu den Problemen des schönen und selbstbewussten Jünglings Narziss. Der Beitrag alter Mythen zur Überwindung eines modernen Irrglaubens. Saarbrücken, Der Stammbaum und die 7 Zweige

— Web: http://www.oedipus-online.de – insbesondere zur Kampagne bzw. Reaktionen1 bzw. Reaktionen2 bzw. Anzeige

[Endnote 1] Das vollständige Zitat soll sicherstellen, dass die LeserInnen den gesamten Argumentationszusammenhang beurteilen können.

[Endnote 2] „Unbewusst“ ist ein Zauberwort, mit dem man jedem Menschen zu jeder Zeit alles unterstellen kann. Die Betroffenen können dann nicht einmal mehr bestreiten, dass sei dies oder jenes „unbewusst“ gewollt hätten, denn – wie Freud das schon vorexerziert hatte – sie bekämen dann zu hören: „Also, wenn Sie jetzt so getroffen reagieren, dann kann das doch nur heißen, dass wir hier direkt ins Schwarze getroffen haben!“

[Endnote 3] Zur Darstellung von Josef Breuer vgl. die detaillierte Biografie von Albrecht Hirschmüller. Dort findet sich z.B. wichtiges Material zu Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim.

[Endnote 4] Bereits der Großvater kommt für Freud als Täter offenbar schon nicht mehr in Betracht – jedenfalls etikettiert er am 28. April 1897 einen Traum von Fließ, „der den sonst gebräuchlichen Vater durch den Großvater ersetzen wollte“, als einen „Abwehrtraum“ (ebd., S. 251).

[Endnote 5] Die Beziehung zwischen Amalia und Phillip entspräche natürlich keinem Inzest im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber in der psychoanalytischen Bewegung gehört es zur Tradition, gerade auch ein Stiefsohn-Stiefmutter-Verhältnis als „Inzest“ zu verstehen, so z.B. Otto Rank (1926/1974) in Bezug auf z.B. Don Carlos & Elisabeth bzw. Hippolytos & Phaedra.

[Endnote 6] Übrigens thematisiert der „König Ödipus“ von Sophokles, von dem Freud so besonders angesprochen war, sehr deutlich einen Mutter-Sohn-Inzest, der von der Mutter ausgeht (vgl. Schlagmann, 2005, S. 60-63).

[Endnote 7] Wie sehr Freud durch sein Mutter-Sohn-Verhältnis wohl belastet war, zeigt, dass die bis ins hohe Alter hinein verpflichtenden sonntäglichen Besuche bei Mama Amalia bei Freud regelmäßig Magenverstimmungen auslösten.

[Endnote 8] Die Zusammenhänge um Emma Eckstein hat Jeffrey Masson (1995) sehr akribisch recherchiert und dargestellt.

[Endnote 9] Drei Jahre später, 1905, schreibt Freud, der langjährige Verehrer von Fließ (Freud, 1905/1993, 78): „Es ist bekannt, wie häufig Magenschmerzen gerade bei Masturbanten auftreten.

[Endnote 10] Der tatsächliche Name des von Freud „Herr K.“ genannten Täters lautet: Zellenka (vgl. Decker, 1991, 65).

[Endnote 11] Freud selbst hatte die Altersangabe um ein Jahr erhöht (Decker, a.a.O., 118); dies geschah vermutlich nicht ohne Grund, denn erotische Annäherungen an Mädchen unter 14 Jahren waren im alten Österreich strafbar.

[Endnote 12] Freud selbst berichtet in den Briefen an seine Verlobte Martha mehrfach – z.B. in einem Brief vom 14.05.1884 – von seinem Kokainkonsum: „Also gestern hielt ich meinen Vortrag, sprach ziemlich gut trotz mangelnder Vorbereitung und ganz ohne Stockung, was ich dem Cocain zuschreibe, das ich vorher genommen. Ich erzählte von meinen Funden in der Hirnanatomie, lauter sehr schwierige Sachen, welche die Hörer gewiss nicht verstanden, aber es kommt ja nur darauf an, dass sie den Eindruck bekommen, ich verstünde es.“ Ohne große Vorbereitung faselt Freud in der Manie seines Kokainrausches dem Publikum etwas vor, was er selbst nicht versteht. Er setzt offenbar – teilweise erfolgreich – darauf, dass ihm die Zuhörer in ihrer Verwirrung seinen Unsinn erst einmal abkaufen. Auch seine späteren theoretischen Aussagen – ihre platte Verallgemeinerung und ihre rasante Verkehrung in ihr völliges Gegenteil – lassen sich leichter einordnen, wenn man bei Freud einen durch Kokaingenuss induzierten Größenwahn in Rechnung stellt. Ähnlich schreibt er am 23.05.1884: „wenn ich ermatte, hilft mir das Cocain auf“ (Israëls, 93). Elf Jahre später schreibt er an Wilhelm Fließ (am 12.06.1895, Masson, 1986, 134): „Ich brauche viel Kokain“. In der Traumdeutung (1899/1999, 76) erzählt Freud: „Ich gebrauchte damals [er bezieht sich auf einen Traum von 1895] häufig Cocain, um lästige Nasenschwellungen zu unterdrücken, ...“. (Ja, es ist ja bekannt, wie gut Kokain bei lästigen Nasenschwellungen hilft!) Zwei Jahre zuvor heißt es (am 30.05.1893; Masson, 1986, 41): „Ferner habe ich eine eigene schwere Migräne durch Kokain unterbrochen (für eine Stunde), die Wirkung kam aber erst, nachdem ich auch die Gegenseite [der Nase] kokainisiert hatte, und dann prompt.“ An dieser Stelle merkt der Mitherausgeber der Briefe, Michael Schröter, an: „Eine seiner [Fließens] Standardtherapien bestand in der Kokainisierung der Nase, die Freud also hier, wie später noch oft, bei sich selbst angewandt hat.“ Dieser Satz suggeriert geradezu, dass Freud durch Fließ verleitet worden sei, das Kokain zu nehmen. Schröter verweist hier nicht darauf, dass Freud schon mindestens neun Jahre zuvor (vgl. die Zitate aus 1884) – als er mit Fließ noch gar nicht in Verbindung stand – vom Kokain regen Gebrauch gemacht hat.

[Endnote 13]pathologischen Erscheinungen, in denen Traumen einen wichtigen ätiologischen Faktor bilden“, seien von van der Kolk et al (1996) als die zehn ‚Plagen’ festgehalten: 1.) die Borderline‑Persönlichkeitsstörung, 2.) die affektiven Störungen, 3.) schwere Depressionen, 4.) dissoziative Syndrome einschließlich der multiplen Persönlichkeit, 5.) Flash‑backs, 6.) schwere Essstörungen, 7.) antisoziale Persönlichkeitsstörungen, 8.) chronische Opferbereitschaft, 9.) Somatisierung und 10.) chronische Suizidalität.

[Endnote 14] Meint Kernberg hier „Aggressionen“, denen man ausgesetzt ist, oder die man selbst praktiziert? Ist es egal, dieses oder jenes zu meinen?

[Endnote 15] Kernberg nennt hier: „akute Angstzustände, Einschränkung der Ich-Funktionen, Wutausbrüche, wiederkehrende Alpträume und Flash‑backs, … Einschränkungen in zwischenmenschlichen Beziehungen, in den Bereichen der Arbeit und des sozialen und sexuellen Lebens. Bei der Behandlung [Herv. i. Orig.] dieses Syndroms steht eine Kombination von anxiolytischer Medikation und supportiver Psychotherapie mit einer stützenden und empathischen Einstellung des Therapeuten gegenüber dem Patienten im Vordergrund, verbunden mit dem Ermutigen, sich mit Situationen wieder auseinanderzusetzen, die aufgrund der Traumatisierung phobisch vermieden wurden.“ Mit leichter Medikation und begleitender konfrontativer Verhaltenstherapie sind derartige Störungen also recht gut in den Griff zu bekommen.

[Endnote 16] Freud hatte enorme Schwierigkeiten, von alten Thesen abzurücken, wohl, weil damit die Anerkennung eines eigenen Irrtums verbunden war und somit die eigene Größenphantasie beschädigt wurde. So hatte er z.B. in den 80’er Jahren – gegen die eigenen Anschauung und gegen das kritische Urteil eines Fachmannes – an seiner Behauptung der raschen Morphiumentwöhnung durch Kokain verbissen festgehalten (vgl. Israëls, 1999, 45-53).

[Endnote 17] So sieht es z.B. in jüngerer Zeit Ulrich Sachsse (2006).

[Endnote 18] In: Die Wahrheit über Narziss, Iokaste, Ödipus und Norbert Hanold. Versuch einer konstruktiven Streitschrift. (1996)  bzw. in: Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus. Oder: Die Lüge der Iokaste. (1997)

[Endnote 19] Kernberg (19905), bzw. (19913): Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. Stuttgart, Klett-Cotta; bzw. (1993) Psychodynamische Therapie bei Borderline-Patienten. Bern u.a., Hans Huber