König Ödipus

… und des Rätsels Lösung:
Zum eigentlichen Problem von König Ödipus –
und zum fatalen Missverständnis von Sigmund Freud.

Zusammengefasst:

Ödipus, von Adoptiveltern seit Säuglingszeit aufgezogen, ist voller Ehrfurcht für seine vermeintlichen Eltern. Als ihm prophezeit wird, er würde den Vater töten und die Mutter heiraten, gibt er seine ganze Existenz als Königssohn auf, um seine (vermeintlichen) Eltern vor Unheil zu bewahren. Dabei tötet er dann in einer – von seinem Gegenüber ausgehenden – Streitsituation in Notwehr den ihm unbekannten Vater. Kurz darauf wird er in Theben zum Dank für die Beseitigung eines Ungeheuers mit der amtierenden Königin vermählt. Diese Frau vermag dabei wohl durchaus in dem jungen Mann ihren Sohn zu erkennen, der ihrem ersten Gatten so auffallend ähnlich sieht und nach einer charakteristischen Fußschwellung seinen Namen trägt. Ödipus selbst ist unwissentlich in dieses Verhängnis hineingerutscht. Es sind die erwachsenen Eltern, von denen Mord- und Inzest-Impulse ausgehen. Als Ödipus nach und nach die Zusammenhänge durchschaut, da will er – in Erfüllung des Gebotes aus Delphi – seine Mutter umbringen, in Verehrung für den unbekannt gebliebenen Vater. Da sich die Mutter bereits das Leben genommen hat, ist er in seiner Wut und seinem Schmerz ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Da sticht er sich die Augen aus und bricht für einen Moment in (falsche, unangemessene!) Schuldgefühle aus.

Der tödliche Konflikt zwischen Vater und Sohn, wie auch der Inzest mit der Mutter waren nur denkbar, weil sich Eltern und Sohn einander entfremdet waren. Für diese Entfremdung war letztlich Iokaste verantwortlich. Iokaste wusste auch offenbar sehr wohl, dass es sich bei dem jungen Mann, mit dem sie kurz nach dem Tod des Laios den Ehebund eingegangen war, um ihren eigenen Sohn handelte. Der Sohnemann war zum Partnerersatz gemacht worden – er selbst hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Ahnung von seinem „Glück“.

Aber Ödipus klärt die komplexen Zusammenhänge aus der Rückschau in mustergültiger Weise auf. So wie er das Rätsel der Sphinx gelöst hat, so löst er auch am Ende das Rätsel seiner familiären Verstrickung.

 

Jetzt aber im Detail – der „König Ödipus“ von Sophokles

Der Beginn des Stückes zeigt die Stadt Theben, in der gerade die Pest ausgebrochen ist. Ödipus amtiert dort als beliebter, demokratisch gesinnter König. Im Verlauf des Stückes erfahren wir aus der Rückschau, dass er vor langer Zeit als Fremdling nach Theben gekommen war. Damals hatte die Sphinx – ein Ungeheuer mit einem Löwenkörper, einem Schlangenschwanz, Adlerschwingen sowie Brust und Kopf einer Jungfrau – in Theben regelmäßig junge Männer das Leben gekostet: das Ungeheuer stellte ihnen ein Rätsel, und wer es nicht lösen konnte, wurde in einen Abgrund gestürzt. Niemand war bislang mit dem Leben davongekommen. Ödipus, kurz zuvor zufällig nach Theben gelangt, hatte sich klug, mutig und selbstlos der Sphinx gestellt – und die passende Antwort gefunden. Daraufhin hatte sich das Monster selbst in den Abgrund gestürzt – und Theben war befreit. Zum Dank wurde er mit der gerade frisch verwitweten Königin Iokaste verheiratet. Mit ihr zusammen hat er nun vier Kinder. Er ist ein geachteter, vom Volk verehrter König. Etliche Jahre später stellt er sich erneut klug, selbstlos und mutig der Herausforderung des Schicksals, der Pest. Er ist dabei aufrichtig besorgt um das Wohl seiner Bürger.

Bereits vor dem ersten Betreten der Bühne hatte Ödipus, so erfahren wir aus seinen Worten, Kreon, den Bruder seiner Frau, zum Orakle von Delphi geschickt, um von dieser göttlichen Instanz einmal mehr Weisung zu erhalten: was genau muss getan werden, um das Wüten der Pest in Theben zu beenden? Kreon bringt schon bald (ab V 86) die mit Spannung erwartete Auskunft: Der Tod des Vorgängers von König Ödipus, König Laios, müsse gesühnt werden, um die Pest zum Verschwinden zu bringen. Der Verantwortliche solle bestraft werden mit „Ächtung oder Sühne, die Tod mit Tod vergilt“ (V 100 f).

Auf seine Frage nach den Umständen, unter denen König Laios zu Tode kam, erfährt Ödipus, dass eine Räuberbande Laios und seine vier Begleiter überfallen habe, und zwar auf dem Weg zum Orakel von Delphi. Aufgrund dieser wenigen Informationen schließt Ödipus sofort, dass es sich um eine Bande thebanischer Verschwörer gehandelt haben müsse. Diese kluge und plausible Mutmaßung wird von seinem Schwager sofort bestätigt (V 126): „So dachte jeder!“ Hintergrund dieser Mutmaßung: Delphi galt als einer der heiligsten Orte Griechenlands. Der Zugang zum Orakel stand unter dem erklärten Schutz der Umwohner. Eine Räuberbande, die systematisch Orakelbesuchern auflauerte, war einfach nicht vorstellbar. Dieses erste (vermeintlich sichere) Wissen um die Todesumstände des Laios lässt es für Ödipus völlig eindeutig erscheinen, dass niemals er selbst mit dem Tod des Laios irgendetwas zu tun haben könnte. Er war nie Mitglied einer Räuberbande, geschweige denn, dass er mit einer thebanischen Verschwörung zu tun gehabt hätte – er war zur Zeit des Todes von Laios ja noch gar nicht in Theben.

Ödipus fordert nach diesen ersten Erkenntnissen alle Umstehenden dringend auf, zur Aufklärung des Todes von Laios beizutragen. Wenn es sich, wie von Kreon bestätigt, um eine thebanische Verschwörung gehandelt hat, dann dürfte irgendjemand aus dem Volk darüber Bescheid wissen. Bei sofortiger Offenbarung solle der Schuldige lediglich verbannt werden. Wenn aber jemand, der etwas weiß, weiter schweigt, dann solle er – weil dadurch ja das Elend der Pest für das ganze Gemeinwesen verlängert und verschlimmert würde – verflucht und aus der Gemeinschaft radikal ausgestoßen sein!

In dieser Situation betritt nun der blinde Seher Teiresias (ab V 300) die Szene [Endnote 1]. Und er verhält sich merkwürdig. Er deutet an, dass er etwas Wichtiges weiß, beharrt aber darauf, es nicht zu sagen. Ödipus versucht zunächst geduldig, ihn zum Reden zu bringen. Weil der blinde Seher jedoch fortgesetzt schweigt und damit das ausdrückliche Gebot von Ödipus offen missachtet, dass jeder zur Aufklärung beitragen solle, entwickelt der König den (zwar falschen, aber keineswegs unplausiblen) Verdacht, Teiresias selbst sei damals in ein Komplott gegen Laios verstrickt gewesen. Als Ödipus diese Mutmaßung ausspricht, erhält er von Teiresias zur Antwort (V 353-367): „… dieses Landes heilloser Besudler bist du! … Des Mannes Mörder, den du suchst, sag ich, bist du! … Ahnungslos, sag ich, verkehrst mit deinen Nächsten du in Schimpf und Schande und siehst nicht, wie tief du steckst im Übel.“ Gut nachvollziehbar, dass für Ödipus selbst die Botschaft des Teiresias in diesem Moment noch ganz unverständlich ist (V 439): „Wie alles du zu rätselhaft und dunkel sagst!“ Am Ende verlässt Teiresias die Bühne, u.a. mit (V 449 ff): „Ich sag dir aber, dieser Mann, den lang du suchst, drohend und ausrufend den Mord an Laios: der Mann ist hier, ein Fremder, meint man, zugezogen, doch dann wird als gebürtiger Thebaner er entpuppen sich und nicht sich freu’n der Wandlung; … Ans Licht wird kommen: mit den eigenen Kindern lebt er zusammen, als ihr Bruder und ihr Vater, der gleiche Mann, ist der Frau, der er entsproß, Sohn und Gemahl und des Vaters Mitsäer und sein Mörder!“ Ödipus, der – wie wir später erfahren – seine vermeintlichen Eltern zuvor einmal ausdrücklich gefragt hatte, ob er wirklich ihr Kind sei und dies von ihnen glaubwürdig bestätigt bekommen hatte, darf hier getrost die Überzeugung wahren, dass diese Reden des Teiresias völlig irrsinnig sind bzw. ausgesprochen sind, um ihn weiter zu belasten und zu diffamieren.

Es ergibt sich nun ein Streit zwischen Ödipus und Kreon. Teiresias war auf eine Anregung Kreons hin gerufen worden. Dass Ödipus von Teiresias beschuldigt wird, klingt für den Betroffenen jetzt wie ein Versuch, ihn durch diese Anklage aus seinem Amt zu jagen. Kreon, der als Nachfolger von dieser Entmachtung des Ödipus profitieren würde (wie er es am Ende auch tut), scheint für Ödipus als Komplize des Teiresias entlarvt zu sein. Deshalb will er am Ende eines langen Streitgesprächs mit Kreon über diesen die Todesstrafe verhängen. Er lässt sich jedoch von den Argumenten eines Bürgers davon abhalten. (Nebenbei: Einer von mehreren eindrucksvollen Belegen für die demokratische Haltung des Ödipus.) In die Auseinandersetzung zwischen Ödipus und Kreon wird nun auch Iokaste einbezogen, bis Ödipus Kreon schließlich auffordert (V 676): „Lass mich in Ruh und geh!“ – was Kreon auch befolgt. Iokaste will nun über den Hintergrund des Konflikts aufgeklärt werden. Ödipus erzählt, dass Teiresias – wohl angestiftet von Kreon – ihn des Mordes an Laios beschuldigt hätte. Iokaste erwidert, dass man Seher doch nicht ernst nehmen dürfe. Laios selbst habe einmal vom Orakel gehört, er würde durch seinen Sohn sterben. Er habe jedoch nach der Geburt des einzigen Sohnes dem drei Tage alten Säugling die Füße zusammengebunden und ihn – „von den Händen anderer“ – in der Wildnis aussetzen lassen (V 711 ff). In diesem Zusammenhang erwähnt Iokaste, dass Laios ja dann später „an einer Scheide dreier Wagenwege“ (V 716) zu Tode gekommen sei.

Ödipus gerät nun – nachdem das Stichwort von der „Scheide dreier Wagenwege“ gefallen ist – in eine düstere Ahnung und will von Iokaste ganz präzise die Umstände beim Tod des Laios geschildert bekommen. Laios, so Iokaste, der übrigens – bis auf das weiße Haar – Ödipus recht ähnlich gesehen habe, sei, auf einem Wagen fahrend, in einem Tross von insgesamt fünf Mann unterwegs gewesen, kurz bevor Ödipus die Herrschaft in Theben übernommen hatte. An der Stelle, wo sich die drei Wagenwege von Phokis, Daulia und Delphi treffen, sei er dann zu Tode gekommen.

Ödipus wird es bei den Erzählungen von Iokaste immer unwohler zumute. Er berichtet nun Iokaste Details aus seinem Leben: Er sei am Königshof von Korinth aufgewachsen. Als junger Mann habe ihm einmal ein Zechgenosse gesagt, er sei nicht das Kind seiner Eltern. Er habe sofort seine Eltern befragt und sei beruhigt und erfreut gewesen, dass sie sich sehr empört über diese Verleumdung gezeigt hätten. In seiner Aufgewühltheit habe er jedoch bald darauf das Orakel von Delphi aufgesucht, um Klarheit über sich selbst zu bekommen. Das Orakel habe ihn – „mir vorenthaltend, weswegen ich gekommen war, hinweg[geschickt]“ – nämlich mit der Prophezeiung, er würde seine Mutter heiraten und seinen Vater töten. Ohne zu zögern gibt Ödipus nun seine ganze Existenz als Königssohn auf und beschließt, nie wieder nach Korinth zurückzukehren, um sich selbst und seine geliebten (vermeintlichen) Eltern vor dem prophezeiten Schicksal zu bewahren. Auf diesem Weg – bloß weg von Korinth! – war er dann mit einer Truppe, wie Iokaste sie beschrieben hatte, an ungefähr der von ihr benannten Stelle in ungefähr der von ihr erwähnten Zeit in ein Handgemenge geraten: Ein vorausgehender Herold wollte ihn mit Gewalt aus dem Weg treiben, wogegen er sich erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte. Gerade, als er dabei war, an der Gruppe vorbeizugehen, hatte ihm dann der Mann auf dem Wagen – „wie du ihn beschreibst“ – von oben mit dem „Doppelstachel“ auf den Kopf geschlagen. Er habe im [berechtigten! K.S.] Zorn den Alten aus dem Wagen geworfen. Endergebnis dieser Situation, in der sich Ödipus eindeutig in Notwehr befindet: „und ich erschlag sie alle.“ Ödipus glaubt also, dass er diese fünf Männer erschlagen hat. Er hat keine Ahnung, dass tatsächlich einer der Begleiter entkommen war. Und ihn beschleicht nun eine fürchterliche Gewissheit: Sollte er also doch selbst etwas mit dem Tod des Laios zu tun haben?!

Zu Beginn ihres Berichts von den Todesumständen des Laios beruft sich Iokaste auf einen treuen Diener, der dem Überfall entkommen war. Sie erzählt auch nebenbei, dass er sofort entlassen werden wollte, als er mitbekam, dass Ödipus König von Theben geworden war. In Kenntnis der Geschichte liegt nahe, dass er Ödipus von dem angeblichen „Räuberbanden-Überfall“ her wiedererkannt hatte. [Kaum anzunehmen, dass er seiner Königin damals, als Ödipus noch ein unbekannter Fremdling war, nichts davon berichtet hätte.]

Dieser Diener wird schon ganz zu Beginn des Stückes von Kreon erwähnt (V 118 ff) als derjenige, der schreckerfüllt vor der Räuberbande geflohen war, die – wie von Ödipus vermutet und von Kreon bestätigt – nur als thebanische Verschwörerbande denkbar war. Diese erste (vermeintliche) Erkenntnis über die Umstände beim Tod des Laios ließ Ödipus zunächst völlig sicher sein, dass niemals er selbst mit dem Tod von Laios irgendetwas zu tun haben könnte. Er war weder Mitglied einer Räuber-, noch einer thebanischen Verschwörerbande. Als er dann aber von Iokaste hört, wo und wann Laios mit seinen vier Begleitern zu Tode gekommen war, befürchtet er zunehmend, dass es sich bei denjenigen, die er selbst damals in Notwehr erschlagen hatte, um genau diesen Laios und sein Gefolge gehandelt haben könnte!

Und was macht Ödipus in dieser Situation? Nicht etwa, dass er sich darauf beruft, er habe da einen Blackout, er könne sich nicht mehr so genau erinnern – wie es Politiker heute gerne tun, um lästige Geschichten aus der Vergangenheit von sich abzustreifen und sich aus der Verantwortung zu mogeln. Sondern im Gegenteil: Er will herausfinden, ob – entgegen aller bisher ermittelten Erkenntnisse – tatsächlich er selbst als derjenige in Frage kommt, der die Tötung des Laios zu verantworten hat! Hierzu muss er jetzt dringend diesen Zeugen sprechen! Würde dieser Zeuge nun seine Aussage widerrufen und statt von einer Räuberbande nur noch von einem einzigen Mann sprechen, der den Tross erschlagen hatte, dann würde Ödipus sofort davon ausgehen, dass er selbst für den Tod des Laios verantwortlich ist! Der Zeuge müsste ihn noch nicht einmal persönlich identifizieren können! Dies ist ein markanter Beleg für die selbstlose Aufrichtigkeit des Ödipus, dass er die Wahrheit ergründet, auch wenn sie für ihn selbst höchst unangenehme Konsequenzen zur Folge hätte! Hier haben wir einen der wesentlichen und herausragenden dramatischen Höhepunkte im Stück des Sophokles vor uns.

Iokaste versucht übrigens an dieser Stelle, mit beachtenswert unlogischer Argumentation Ödipus die Anhörung dieses Zeugen auszureden – und ihn damit von der Klärung der wahren Hintergründe abzuhalten, obwohl sie doch weiß, dass das Erkennen und Aufklären der Wahrheit für das thebanische Gemeinwesen von existenzieller Bedeutung ist! Aber Ödipus lässt sich nicht beirren und besteht geradezu ein wenig unwirsch darauf, dass der Zeuge erscheint.

Nachdem die Ladung des Zeugen veranlasst ist, bekommen wir Iokaste gezeigt, wie sie am Altar des Apollos ein Opfer darbringt. Dort wird sie von einem Boten aus Korinth angesprochen, der vom (natürlichen) Tod des Polybos im hohen Alter berichtet. Die Menschen in Korinth wünschen sich, dass Ödipus nun dort das Königsamt übernimmt. Iokaste reagiert erleichtert, ruft Ödipus hinzu und scheint ihm ihre Heiterkeit aufdrängen zu wollen. Sein Orakel – so Iokaste – habe sich in Bezug auf die Vatertötung also als nichtig erwiesen.

Ödipus ist hier im Zwiespalt: Einerseits ist er tatsächlich erleichtert, weil das Orakel des Vatermordes gebannt zu sein scheint. Im Vordergrund steht jedoch bei ihm die Trauer um den Tod des (vermeintlichen) Vaters. Und er versucht sogar noch, die eigene Verantwortung für diesen Tod in seinem Fernbleiben von Korinth zu suchen! Darüber hinaus sorgt sich Ödipus natürlich noch weiter um die Mutterehe, was für ihn eine Rückkehr nach Korinth ausschließt. Iokaste bemüht sich, seine diesbezüglichen Bedenken zu zerstreuen (V. 981 f): „So mancher Sterbliche hat auch im Traume schon geschlafen mit der Mutter.

Der Bote bekommt diese Sorgen mit und glaubt, Ödipus in dieser Hinsicht entlasten zu können: Er selbst ist zufällig derjenige, der ihn als Säugling von einem Hirten des Laios bekommen und an Polybos und Merope zur Adoption weitergegeben hatte! Diese gut gemeinte Mitteilung führt bei Ödipus zu einer völligen Erschütterung seines Identitätsgefühls: Er ist also nicht das Kind des korinthischen Königspaares! Wer ist er dann? Und von wem stammt der Anlass seiner Namensgebung, seine frühkindliche Misshandlung, seine durchstochenen Fersen (Ödipus = Schwellfuß)? Vom Vater oder von der Mutter? Aufschluss über diese Fragen kann am ehesten der Hirte geben, der dem Boten damals das verletzte Kind übergeben hatte.

Auch in dieser Situation reagiert Iokaste sehr bezeichnend: Ödipus fragt drängend, ob jemand etwas über die Identität dieses Hirten weiß. Von den Umstehenden wird er darüber aufgeklärt, dass dieser Mann, den er sucht, zufällig genau derjenige ist, nach dem er schon hatte rufen lassen, nämlich der einzige überlebende Zeuge des Überfalls auf Laios. Ödipus will sich dieser Information bei der anwesenden Iokaste vergewissern: „Frau, hörst Du? Jenen Mann, den wir eben hierher bestellt – meint er diesen?“ Iokaste antwortet mit keiner einzigen Silbe auf diese präzise Frage. Obwohl sie weiß, wie wichtig das Erkennen und Aufklären der Wahrheit für das Gemeinwesen ist, will sie sogar Ödipus beharrlich und ganz ausdrücklich von deren Erforschung abhalten (V 1047 ff): „Was schert es dich, wovon er sprach? Beacht es nicht! Und grüble nicht über das Gesagte sinnlos nach! … Nicht, bei den Göttern, wenn du um dein eigen Leben irgend besorgt bist, erforsche dies! Genug, ich kranke! … Und trotzdem folge mir! Ich flehe: Tu es nicht! … Wirklich! Ich mein es gut und rate dir das Beste. … Unglückseliger! Daß niemals du erkenntest, wer du bist!

Dieser überlebende Zeuge des Überfalls auf Laios, von dem sich also gerade herausgestellt hat, dass er zum Kronzeugen geworden ist für die Umstände bei der Aussetzung des Ödipus, erscheint kurz darauf auf der Bühne. Zunächst sträubt er sich zu reden. Erst, als Ödipus ihm Gewalt androht, ist er zu seiner Aussage bereit: Er bezeugt ausdrücklich, dass es Mutter Iokaste war, die ihm den Auftrag gegeben hatte, Ödipus, ihren Sohn, in der Wildnis zum Sterben auszusetzen. (Ö: Gab sie es dir? H: Ja, Herr! Ö: Um was damit zu tun? H: Vernichten sollt ich es! Ö: Die Mutter bracht es über sich …?)

Iokaste selbst hatte ja zuvor, in der Mitte des Stückes, ihrem Gatten Laios die Verantwortung für die Aussetzung des gemeinsamen Sohnes als Säugling mit zusammengebundenen Fersen zugeschoben. Der neutrale Zeuge – der die noch amtierende Königin bei seiner Aussage durchaus zu fürchten hat – ist eindeutig glaubwürdig. Damit wird jetzt deutlich, dass Iokaste mit der Beschuldigung des Laios gelogen hatte [Endnote 2]. Dies ist die zentrale Botschaft am Gipfelpunkt der Ereignisse. In diesem Moment wird die Schuld Iokastes offenbar: Durch das Weggeben ihres Säuglings hatte sie eine Entfremdung des Kindes von seinen Eltern bewirkt. Nur aufgrund dieser Entfremdung konnte es später dazu kommen, dass Ödipus einen Mann, den er nicht als seinen Vater zu erkennen vermochte, in Notwehr getötet hatte. (Und – nebenbei – auch diese Frau, die er nicht als seine Mutter zu erkennen vermochte, konnte er nur in dieser Ahnungslosigkeit heiraten.) Es ist auch klar, dass es niemals zur Tötung des Vaters (und – nebenbei – auch niemals zur Heirat der Mutter) gekommen wäre, wenn Ödipus den Vater (und die Mutter) erkannt hätte.

Mit dieser Erkenntnis rennt Ödipus in den Palast, verlangt nach seinem Schwert und will wissen, wo er Iokaste findet. Man kann sich an den Fingern einer Hand abzählen, was er vorhat: Er will Iokaste umbringen. Er zeigt also einen Impuls, ganz bewusst seine eigene Mutter zu töten.

Ein Muttermord ist in der griechischen Mythologie nur denkbar, wenn – wie im Fall von Orest und Alkmaion – die Söhne damit den Tod ihrer jeweiligen Väter rächen, die durch die jeweiligen Mütter zu Tode gekommen waren. Der Gott Apollo hatte dabei die Söhne jeweils moralisch entlastet. Die Söhne wären zuvor beinahe auch selbst durch ihre Mütter zu Tode gekommen.

Dieselbe Handlungslogik findet sich nun im „König Ödipus“: Das Orakel von Delphi – quasi das Sprachrohr des Gottes Apollo – fordert Ödipus dazu auf, den Tod von König Laios, seinem Vorgänger und Vater, aufzuklären und zu bestrafen. Im äußersten Fall soll eine Sühne verhängt werden, „die Tod mit Tod vergilt“. Ödipus erkennt am Ende, dass Iokaste ihn dem Vater entfremdet hatte, dass es nur so zu der tödlichen Notwehr-Situation hatte kommen können. Sie hätte – wie bei Orest und Alkmaion – durch die Anordnung der Aussetzung auch ihren Sohn beinahe auf dem Gewissen gehabt. Ödipus will nun an Iokaste, die offenbar längst um die Zusammenhänge weiß, jedoch weiter beharrlich schweigt, sogar das Erkennen der Wahrheit aktiv verhindern will, die geforderte Sühne vollziehen. Da sie sich jedoch bereits selbst kurz zuvor das Leben genommen hat, ihm also kein angemessenes Ventil für seine massive Wut mehr zur Verfügung steht, verletzt er sich selbst, sticht er sich die Augen aus, und er bricht für einen kurzen Moment in – unberechtigte! – Schuldgefühle aus.

Das Geschehen im Palast wird übrigens berichtet von einem Diener, der schildert, wie Iokaste in großer Aufregung in den Palast gestürmt war, sich in ihr Gemach zurückgezogen, dabei ihre Lebensgeschichte kurz beklagt hatte.

Ödipus bricht – wie gesagt – in dieser Situation emotionaler Überwältigung in falsche Schuldgefühle aus [Endnote 3]. Er bittet Kreon, sich v.a. um seine Töchter zu kümmern. Kreon gibt sich einerseits fürsorglich, indem er Ödipus seine Bitten vortragen lässt. Er zeigt jedoch auch bereits, wie es sich im „Ödipus auf Kolonos“ noch deutlicher fortsetzen wird, dass er recht selbstherrlich die Zügel in die Hand nimmt. Die Bitte des Ödipus, ihn zu töten bzw. ihn in die Verbannung zu schicken, lehnt er ausdrücklich und recht barsch ab. (KR: „Nun hast du genug geweint! Los, geh in das Haus hinein! … Geh jetzt, lass die Kinder los! … Wolle nicht in allem Meister sein …“ Der Chor verweist am Ende darauf, dass niemand „selig“ genannt werden solle, bevor dessen letzte Stunde geschlagen habe. Daran anknüpfend zeigt Sophokles im „Ödipus auf Kolonos“, wie Ödipus in dieser letzten Stunde von einer Gottheit – quasi wie ein Heiliger – leibhaftig in die Unterwelt entrückt wird.

Noch einmal zusammengefasst und hervorgehoben: Ödipus, von Adoptiveltern seit Säuglingszeit aufgezogen, ist voller Ehrfurcht für seine vermeintlichen Eltern. Als ihm prophezeit wird, er würde den Vater töten und die Mutter heiraten, gibt er seine ganze Existenz als Königssohn auf, um seine (vermeintlichen) Eltern vor Unheil zu bewahren. Dabei tötet er dann in einer – von seinem Gegenüber ausgehenden – Streitsituation in Notwehr den ihm unbekannten Vater. Kurz darauf wird er in Theben zum Dank für die Beseitigung eines Ungeheuers mit der amtierenden Königin vermählt. Diese Frau vermag dabei wohl durchaus in dem jungen Mann ihren Sohn zu erkennen, der ihrem ersten Gatten so ähnlich sieht und nach einer charakteristischen Fußschwellung seinen Namen trägt. Ödipus selbst ist unwissentlich in dieses Verhängnis hineingerutscht. Es sind also die erwachsenen Eltern, von denen Mord- und Inzest-Impulse ausgehen. Als Ödipus nach und nach die Zusammenhänge durchschaut, da will er – in Erfüllung des Gebotes aus Delphi – seine Mutter umbringen, in Verehrung für den unbekannt gebliebenen Vater.

Noch einmal in der Kurzfassung:

Als dem Ödipus prophezeit wird, er würde den Vater töten und die Mutter heiraten, gibt er seine ganze Existenz als Königssohn auf, um seine (vermeintlichen) Eltern vor Unheil zu bewahren. In einer Notwehrsituation tötet er dann kurz darauf den ihm entfremdeten Vater. Kurz darauf erlöst er Theben von einem Ungeheuer und wird mit der amtierenden Königin vermählt, die in dem jungen Mann ihren Sohn durchaus zu erkennen vermag, zumal er ihrem ersten Gatten so auffallend ähnlich sieht. Darüber hinaus ist er nach einer frühkindlichen Verletzung benannt. Ödipus selbst ist unwissend in das Verhängnis hineingeraten – von den Eltern waren die Mord- und Inzest-Impulse ausgegangen. In Verehrung für den unbekannt gebliebenen Vater will er, nachdem er die Zusammenhänge durchschaut hat, in Erfüllung des Gebotes aus Delphi seine Mutter umbringen. Sie ist ihm durch ihren Suizid jedoch zuvor gekommen. Da er nun in seiner Wut und seinem Schmerz ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, begeht er eine Selbstverletzung, sticht sich die Augen aus, und für einen Moment breiten sich in ihm falsche Schuldgefühle aus.

Nur aufgrund der Entfremdung des Ödipus von seinen Eltern waren der tödliche Konflikt mit dem Vater un die inzestuöse Verbindung mit der Mutter denkbar. Letztlich war Iokaste für diese Entfremdung verantwortlich. Sie wusste offenbar auch sehr wohl, dass es sich bei dem deutlich jüngeren Herr Schwellfuß, den sie dereinst geehelicht hatte, um ihren eigener Sohn handelte. Der Sohnemann war ein willkommener Partnerersatz – der zu diesem Zeitpunkt selbst keinerlei Ahnung von seinem „Glück“ hatte.

Die komplexen Zusammenhänge werden von Ödipus aus der Rückschau in rasanter Geschwindigkeit und beeindruckender Klarheit und Selbstlosigkeit durchaschaut. Das Rätsel der Sphinx, wie auch das Rätsel seiner familiären Verstrickung hat er mustergültig aufgelöst.

Mythologie

Auf der Ebene der Mythologie spiegelt sich in dieser Geschichte die Austragung eines alten gesellschaftlichen Konfliktes: Eine Frau in einer Männergesellschaft rächt sich äußerst geschickt für die Entwertungen, die ihrem Geschlecht tagtäglich widerfährt. Dieser gesellschaftliche Konflikt und seine Konkretisierung auf privater, familiärer Ebene verselbständigt sich rasch zu einem Teufelskreis von gegenseitiger Entwertung und Unterdrückung. Kinder fallen ihm leicht zum Opfer.

Der Mythos von „König Ödipus“ spiegelt damit sehr plastisch das zentrale Problem einer männerzentrierten Kultur. 

Die Absicht des Sophokles

Als Sophokles diese Geschichte auf die Bühne bringt, da geht es ihm vor allem um Politik, um die aktuellen Belange der Stadt Atehn. Er will seinen Mitbürgern ein Gleichnis erzählen. In der Zeit, als der große Staatsmann Perikles in der Achtung vieler seiner Landsleute dramatisch gesunken ist, gibt Sophokles den Athenern die Botschaft auf den Weg: ihr selbst als das attische Gemeinwesen (Iokaste), ihr habt aus Angst vor den Persern (Sphinx) ihn, Perikles (Ödipus) in die Lage gebracht, die alte Herrschaft (Laios), die demokratische Ordnung aus dem Weg zu räumen. Das hätte freilich nicht passieren dürfen. Doch ihr selbst tragt die Verantwortung dafür, und nicht derjenige, den ihr in die Rolle des Retters gedrängt habt. (Etwas ausführlicher in dem Begleitheft zu Bodo Wartkes Solokabarett “König Ödipus” (2010) oder in meinem Beitrag zum Rubikon: “Schuldlos unschuldig” (2020)

Sigmund Freud und Ödipus

Sigmund Freud betreibt mit seiner Deutung des „ödipalen Konfliktes“ eine drastische „Verkehrung ins Gegenteil“, wenn er behauptet, jeder Sohn wolle sich (im Alter von 2-5 Jahren) triebhaft der Mutter bemächtigen und den Vater aus dem Weg räumen. Diese „Trieb-Theorie“ macht generell ein Opfer zum Täter. Eines der erschreckendsten Beispiele für diese Art der Wirklichkeitsverdrehung lässt sich in Freuds „Bruchstück einer Hysterieanalyse“, dem Fall ‚Dora’ (Ida Bauer), nachlesen.

Dass Freud mit seiner Fehldeutung im Grunde nichts anderes versucht, als seinen eigenen Familienkonflikt zu bewältigen, ist auch in meinen Ausführungen zu Sigmund Freud dargestellt.

Freuds  Denken reklamiert bis heute Gültigkeit. So erläutert z.B. Heinz Müller-Pozzi in „Psychoanalytisches Denken. Eine Einführung“ (Huber Verlag, 1995) den Begriff der „ödipalen Situation“ wie folgt: Das Kind (im Alter von ca. 2-5 Jahren) „will … mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil eine neue Zweierbeziehung schaffen. Nicht mehr und nicht weniger ist die Intention der ödipalen Revolution. Dabei sind dem Kind alle Mittel und Listen recht. Zärtliche Werbung, Verführung mittels seiner körperlichen Reize, Bestechung und Erpressung auf der einen, Mißachtung, Entwertung, Mord und Totschlag auf der anderen Seite“ (a.a.O., S.148). Eine der abstrusesten Diffamierung von Kleinkindern (und indirekt: von Ödipus), die ich je gelesen habe. Die Umkehrung des behaupteten Sachverhaltes ist die Realität, die ich oft in meiner Praxis erlebe und aus Medienberichten zur Genüge kenne (die auch auf Ödipus zutrifft), dass nämlich Minderjährige leider zu oft zu Opfern dessen werden, was ihnen da an Täterschaft unterstellt wird. Sofern sie überleben und später den Weg in eine therapeutische Praxis finden, erweist sich ihr Problem keineswegs darin, dass sie als Kinder die unterstellten Phantasien nur ungenügend zügeln konnten, sondern dass erwachsene TäterInnen ihnen gegenüber solche „Intentionen“ in Handlungen umgesetzt haben!

Ein ganz besonderer Spezialist für die Beschuldigung von Kleinkindern und KlientInnen ist Otto F. Kernberg.

Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen sind – entgegen „psychoanalytischer“ Beschuldigung – hauptsächlich dadurch zu erklären, dass Kinder schädlicher Behandlung durch Erwachsene ausgesetzt sind. Dabei gibt es viele verschiedene Varianten eines Missbrauchs. Die Verantwortung für solche Beziehungsdefinitionen, auf die ein Kind im Wesentlichen nur re-agieren kann, liegt eindeutig bei den Erwachsenen. Diesen Mechanismus hat Alice Miller in ihren Büchern (z.B. „Das Drama des begabten Kindes“, „Du sollst nicht merken“) immer wieder klar und verständlich beschrieben.

Die „Verkehrung ins Gegenteil“ – vom Opfer zum Täter – hat Sigmund Freud übrigens genauso mit dem Mythos von Narziss betrieben: Auch Narziss ist das Opfer der Verhältnisse, er wird von egozentrischen, beziehungsgestörten Mitmenschen verfolgt, vor denen er seine Ruhe haben will. Dies wird ihm zum Vorwurf gemacht, es werden ihm massive Schuldgefühle vermittelt, weil er nicht den Erwartungen anderer entspricht. Dadurch gerät er in tödliche Verzweiflung. (In einer Version erlebt Narziss sogar blanke Gewalt: Er wird erdolcht, als er sich gegenüber Ellops nicht sexuell willfährig verhält.)

Seine Fähigkeit, Geschichten und Autoren misszuverstehen, hat Sigmund Freud auch gegenüber Wilhelm Jensens Novelle ‚Gradiva’ und ihrer Hauptperson, Norbert Hanold, unter Beweis gestellt.

Prof. Egon Flaig, König Ödipus und die Lüge

Meine These von der „Lüge der Iokaste“ hat 1998 der Professor für alte Geschichte, Dr. Egon Flaig (Universität Greifswald), übernommen (in: “Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen.” Beck Verlag, März 1998, S.89). Leider hat er aus „Versehen“ (briefliche Mitteilung von Dr. Flaig vom 18.3.98) vergessen anzugeben, wem er die Anregung dazu verdankt. Er habe mich „selbstverständlich vorgesehen als Kronzeugen für diese Passage, wo es um Iokaste geht“ (ebd.). Aber dann habe er eben diesen „Flüchtigkeitsfehler“, diese Unachtsamkeitbegangen (ebd.), die Quelle seiner Erkenntnis in der Literaturliste oder dem Anhang nicht anzugeben. „Von Ihnen habe ich diese Idee; und selbstverständlich bin ich verpflichtet, das richtig zu stellen“ (ebd.).

Auf eine „offizielle“ Richtigstellung warte ich allerdings bis heute vergebens (Stand: 03.04.2018). Dies ist auch nicht sehr verwunderlich, da Egon Flaigs Sicht auf die Situation von Ödipus völlig in sich zusammenbricht, wenn man der Logik meiner Ausführungen nur ein wenig folgt. Flaig verfolgt jedoch das Ziel, den ehrbaren Ödipus zum bösartigen Tyrannen zu erklären. Dazu verdreht er unbekümmert die Szenerie, wie Sophokles sie auf die Bühne bringt.

Endnoten

[Endnote 1] Nebenbei: eine großartige Paradoxie – als „blinder Seher“ betritt Teiresias ebenso die Bühne bei Euripides in den „Bakkchen“ bzw. in den „Phönikerinnen“ und bei Ovid im Mythos von Narziss.

[Endnote 2] In Fachkommentaren, Lexika oder griechischen Mythologien wird häufig fälschlich König Laios beschuldigt, er hätte das Kind aussetzen lassen (ausführlich dazu: das erste Kapitel meines Buches als Lesekostprobe). Eine der frühesten Textstellen, die diese Lüge als Wahrheit ausgibt, findet sich in „Apollodors Mythologischer Bibliothek“, ein Buch zur griechischen Mythologie aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr.

[Endnote 3] Wer es noch nicht aus dem Stück selbst herausgehört hat, der kann auf das Stück „Ödipus auf Kolonos“ zurückgreifen, das Sophokles gut 20 Jahre nach dem „König Ödipus“ quasi als Interpretationshilfe für den „König Ödipus“ verfasst hat. (Vermutlich ist es u.a. entstanden als Reaktion auf das kurz zuvor aufgeführte Ödipus-Stück des Euripides, „Die Phönikerinnen“, in denen Ödipus als verständnisloser Schwachkopf über die Bühne taumelt.) Dort argumentiert Ödipus wiederholt und plausibel in der Rückschau, dass er unschuldig gewesen sei in Bezug auf Mutter-Heirat und Vater-Tötung.