Emma Eckstein

Emma Eckstein (28.01.1865 – 1924)

… und ihre Leidensgeschichte als Terrain für eine der frühesten Opferbeschuldigungen von Sigmund Freud – auf seinem Irrweg zur Triebtheorie

Zur „Behandlung“ von Emma Eckstein

In der Zeit der Ausarbeitung seiner Theorie war Freud von einem ziemlich verrückten Freund, Wilhelm Fließ, inspiriert. Die Briefe Freuds an Fließ (aus der Zeit von 1887 – 1904) sind zum Glück erhalten geblieben. Sie stellen eine unersetzliche Informationsquelle dar, anhand derer sich das (fast) unzensierte Denken Sigmund Freuds in der Zeit der Entstehung seiner Theorie nachvollziehen lässt. Ziemlich unbeschwert plaudert Freud in seinen Briefen über seine reichlich abstrusen Vorstellungen.

Es ist das besondere Verdienst von Jeffrey Masson, dass Freuds Briefe an Fließ unzensiert veröffentlicht wurden (Masson, 1986). Masson war ursprünglich einmal dazu ausersehen, das Sigmund-Freud-Archiv in New York zu leiten. Nachdem er sich jedoch mit der Idee durchgesetzt hatte, Freuds Briefe erstmals in ihrem vollen und unverfälschten Wortlaut zu veröffentlichen, machte er sich bei den Gralshütern der „psychoanalytischen Weisheiten“ unbeliebt. Die Peinlichkeit der Erkenntnisse, ermöglicht durch die Publikation, gaben den Anlass, Jeffrey Masson aus dem vorgesehenen Amt zu entlassen, noch bevor er es angetreten hatte.

Fließ, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Berlin (1858 – 1928) war von verschiedenen Wahnvorstellungen besessen. U.a. war er überzeugt, dass die Nase mit dem weiblichen Geschlechtsorgan eng verbunden sei. Darüber hinaus waren nach seiner und Freuds „Theorie“ verschiedene körperliche Beschwerden (z.B. Magenschmerzen) durch Selbstbefriedigung bedingt. Eine bestimmte Stelle in der Nase sei wiederum eng mit der Selbstbefriedigung verbunden. So hatte Fließ dann folgerichtig Patientinnen mit Magenbeschwerden „behandelt“, indem er ihnen diese „Nasenstelle“ verätzt oder herausgeschnitten hatte.

Wörtlich heißt es bei Fließ in seinem Buch „Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan“ (Halle, 1902; n. Masson, 1995, 117): „Die typische Ursache der Neurasthenie junger Leute beiderlei Geschlechts ist die Onanie. … die Nase wird ganz regelmäßig durch die abnorme geschlechtliche Befriedigung beeinflusst und die Folgen dieser Beeinflussung sind nicht nur eine sehr charakteristische Schwellung und neuralgische Empfindlichkeit der nasalen Genitalstelle, sondern es hängt von dieser neuralgischen Veränderung auch die ganze Symptomengruppe von Fernbeschwerden ab, die ich als ‚nasale Reflexneurose’ beschrieben habe. So kommt es, dass alle diese, gewöhnlich als neurasthenisch bezeichneten Schmerzkomplexe durch den Kokainversuch für die Dauer der Kokainisierung beseitigt werden können. Auch durch Ätzung oder Elektrolyse kann man sie für längere Zeit aufheben. … Von den Schmerzen ex onanismo möchte ich einen wegen seiner Wichtigkeit besonders hervorheben: den neuralgischen Magenschmerz. Er tritt recht früh bei Onanistinnen auf und kommt bei ‚jungen Damen’ ebenso häufig, wie die Onanie selbst vor.

Das Behandlungskonzept für „nasale Magenschmerzen“ scheint im Jahr 1902 mit „Kokainisierung[,] … Ätzung oder Elektrolyse“ noch relativ moderat auszufallen. 5 Jahre zuvor vertritt Fließ in dem Buch „Die Beziehung zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen“ (Leipzig & Wien, 1897; n. Masson., 1985, 118) noch ein sehr viel zupackenderes Konzept: „Mit dem Satze, dass durch die Onanie eine Veränderung der Genitalstelle der Nase hervorgerufen wird, ist aber die Einwirkung auf dieses Organ keineswegs erschöpft, wenigstens wenn man unter den Genitalstellen, wie wir das bisher mit gutem Grunde getan haben, nur die unteren Muscheln und die Tuberculi septi versteht. Es erleidet noch eine andere Localität der Nase eine typische Veränderung durch die Onanie und zwar ist dies die linke mittlere Muschel, wesentlich in ihrem vorderen Drittheil … Exstirpiert man gründlich diese Partie der linken mittleren [Nasen-]Muschel, was leicht mit einer geeigneten Knochenzange ausgeführt wird, so schafft man den Magenschmerz dauernd fort.

Die 30-jährige Emma Eckstein (aus großbürgerlichem Haus) bekommt im Jahr 1895 von Sigmund Freud selbst eine solche „Operation“ empfohlen. Bei diesem „Eingriff“, der ungefähr Mitte Februar 1895 vorgenommen worden sein muss, hatte Fließ ein größeres Blutgefäß verletzt, hatte die Wunde aber nur notdürftig verstopft und war abgereist (von Wien nach Berlin). Tage später ging es der Patientin immer schlechter. Ein hinzugezogener Facharzt entdeckte 2 Wochen nach der OP das Verbandsmaterial, das Fließ in der Wunde zurückgelassen hatte. Bei dessen Entfernung wäre Emma E. beinahe verblutet. Über Tage stand sie auf der Kippe von Leben und Tod. Man musste ihr einen Teil des Gesichtknochens wegmeißeln, um die Blutung stoppen zu können. Dadurch blieb eine Seite ihres Gesichts eingefallen.

Freud bemüht sich, in seinen Briefen an Fließ – über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren hinweg – den Freund zu entlasten: “Du hast es so gut gemacht, als man kann. … Es macht dir natürlich niemand einen Vorwurf, ich wüßte auch nicht, woher” (8. März 1895); “Ich werde dir beweisen, dass du recht hast, dass ihre Blutungen hysterische waren, aus Sehnsucht erfolgt sind und wahrscheinlich zu Sexualterminen” (28. April 1896); “ich [weiß] jetzt, dass sie aus Sehnsucht geblutet hat” (4. Mai 1896); “dass es Wunschblutungen waren, ist unzweifelhaft” (4. Juni 1896); “an dem Blut bist du überhaupt unschuldig” (17. Januar 1897).

Dies ist eine der ersten Stellen, an der Freud ein Modell der Opferbeschuldigung praktiziert: Anstatt die reale Verletzung der Patientin durch die wahnwitzige und auch noch verpfuschte „Operation“ anzuerkennen, schiebt er irgendwelchen bio-psycho-pseudo-logischen Mechanismen die „Verantwortung“ für die Blutungen zu.

Erstaunlicher Weise hatte sich dieses Vorgehen als „erfolgreich“ erwiesen: Emma Eckstein – deren Bruder Friedrich mit Sigmund Freud ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt – ist später bei Freud „in die Lehre gegangen“ und ist selbst Psychoanalytikerin geworden.

Jeffrey Masson hat diese verrückte Story gründlich recherchiert und publiziert (1995).


Masson, Jeffrey M
. (Hg.) (1986): Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fließ 1887 – 1904. Ungekürzte Ausgabe. Fischer Verlag, Frankfurt.

Masson, Jeffrey M. (1991): Die Abschaffung der Psychotherapie. Ein Plädoyer. C. Bertelsmann, München.

Masson, Jeffrey M. (1995): Was hat man dir, du armes Kind getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Kore Verlag, Freiburg.