“Runder Tisch – sexueller Kindesmissbrauch”

 

Eine Aktion im Jahr 2009

Damals war ein sog. “Runder Tisch – sexueller Kindesmissbrauch” ins Leben gerufen worden. Die Mitglieder hatte ich angeschrieben.

Sehr geehrter Herr X, sehr geehrte Frau Y,

Sie sind Mitglied beim sog. “Runden Tisch – sexueller Kindesmissbrauch”. Sicherlich gehört es zu Ihren vordringlichen Aufgaben, das Ausmaß des Problems zu erfassen und Strategien zur Verhinderung entsprechender Vorkommnisse zu entwickeln. Am Rande werden Sie sich aber wohl auch mit geeigneten Strategien zur Therapie der Opfer beschäftigen. In dieser Angelegenheit möchte ich mich an Sie wenden.

Seit 1995 beschäftige ich mich intensiver mit der Therapie von Traumata. Damals hatte ich mit einem jungen Mann zu tun, dem es nach einer Therapie wegen Angststörungen noch schlechter ging, als zuvor: Die Interventionen des Kollegen hatte bei ihm zu Anfällen von Atemnot geführt, so dass er von nun an noch zusätzlich ein Asthma-Spray benötigte. Ich konnte den Therapie-Antrag des Analytikers lesen. Er hatte zwar die Lebensgeschichte des Klienten klar erfasst, dass er von seinem Vater brutal misshandelt worden war. Aber diese Gewalterfahrung war für den Therapeuten nicht das Problem. Aus seiner Sicht lag es darin, dass der Klient von sich aus “Hass gegen den Vater” und “Leistungsverweigerung” entwickelt hatte. Der Hintergrund für diese Unterstellung ist die Theorie vom sog. “ödipalen Konflikt”.

Im letzten Jahr hatte ich mit einer jungen Frau zu tun, die mir erzählte, sie habe ca. 5 Jahre zuvor einem Therapeuten berichtet, dass sie mit 13 Jahren von drei Mitschülern vergewaltigt worden war. Dessen Frage: “Und? Warum haben Sie das nicht verhindert?” Sie: “Wie meinen Sie das?” Er: “Sie wissen schon, wie ich das meine!” Sie ist zwar danach nie wieder zu diesem “Therapeuten” gegangen, getraute sich aber zunächst nicht, ihr Problem andernorts anzusprechen, litt weiter unter Schlafstörungen, entwickelte Medikamentenmissbrauch, ist am Ende in die Privatinsolvenz geraten, aus der sie sich im Moment wieder mühsam herausarbeitet. Der Intervention dieses Therapeuten liegt die gleiche Logik zugrunde, wie in dem ersten geschilderten Fall: Es wird bei jeder Art von Gewalt zunächst einmal nach dem “eigenen Anteil” des Betroffenen gefragt – und es wird sich darauf konzentriert. (Als würde die Polizei bei jedem Verbrechens die Ermittlungen darauf konzentrieren herauszufinden, warum und mit welcher Absicht das Opfer am Tatort aufgetaucht war.)

Eigentlich erstaunlich, dass es ausgerechnet im Lager der Psychotherapeutenschaft eine beträchtliche Verständnislosigkeit gegenüber dem traumatisierenden Geschehen gibt. Über den Ursprung dieser bizarren Opferbeschuldigung konnte ich zwar bereits in der einen oder anderen Fachzeitschrift publizieren (“Sexueller Missbrauch: Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie?”, in: psychoneuro, 9/2007, S. 361-365; “Kommentar zum Kommentar. Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie?” In: psychoneuro, 11/2007, S. 475 [Antwort auf den Kommentar von Prof. Ernst R. Petzold, der meinen Beitrag “Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie” in der psychoneuro 9/2007 kommentiert hatte (S. 366-367)]; “Ein markanter Freudscher Flüchtigkeitsfehler. Plädoyer für die Revision von Freuds Verwerfung der Trauma-Perspektive.” In: Psychodynamische Psychotherapie (PDP), 8/2009, 67-77.) Jedoch blieb die Resonanz darauf nur sehr spärlich.
Einer der schlimmsten Repräsentanten eines solchen Unverständnisses ist für mich Prof. Otto F. Kernberg, aus dessen Fallgeschichten ich immer wieder zitiere (z.B. in dem Artikel in der psychoneuro). Kernberg gibt – neben vielen Ungeheuerlichkeiten – 1999 zum Besten, dass eine von ihrem Vater sexuell missbrauchte Grundschülerin (es wird nur gesagt, sie sei zum Zeitpunkt der Tat “unter 10 Jahre alt” gewesen, als mache es keinen Unterschied, ob sie 6,7,8 oder 9 Jahre alt war) diese Situation “in typischer Weise … als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter” erlebt habe, und dass Sie “ihre Schuld tolerieren” müsse. Diese Worte wurden bei einer der größten Psychotherapie-Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum, bei den Lindauer Psychotherapiewochen (1997) als Hauptvortrag präsentiert, von einem Publikum von ca. 1000 Fachleuten begeistert beklatscht; der Text des Vortrags wurde 1999 in einer (von Kernberg mit herausgegebenen) Fachzeitschrift – “Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie” PTT publiziert.

Das Problem: Diese Art zu denken – also: bei einem Opfer von Gewalt selbst nach den Ursprüngen einer seelischen Deformation zu suchen – entspricht der Theorie von Sigmund Freud, die bis heute von viel zu vielen Kolleginnen und Kollegen unhinterfragt für gültig erachtet wird.

Meine Bemühungen, in der Fachwelt eine Diskussion über diesen Text anzuregen, sind – seit gut 9 Jahren – gelinde gesagt ziemlich enttäuschend. Der Versuch, eine kritische Analyse von Kernbergs Thesen im Jahr ihres 10-jährigen Jubiläums (2007) bei zwei Trauma-Zeitschriften einzureichen, scheiterte an deren Gutachtern. KollegInnen (auch solche, die wohl durchaus einen angemessenen Umgang mit Traumatisierten zeigen) sind in der Regel nicht geneigt, auf eine Diskussion zu dem Text einzusteigen. Oder, noch schlimmer, es heißt, ich hätte Kernberg nicht verstanden.

Übrigens hat Sophie Freud – die ihren Großvater Sigmund u.a. als “falschen Propheten” bezeichnet – meiner Kernberg-Kritik ausdrücklich beigepflichtet.

Leider wird bis heute solch unangemessenen theoretischen Auffassungen, wie Kernberg sie vertritt, viel zu oft zugestimmt. Kernberg ist bis heute gern gesehener Gast bei wissenschaftlichen Tagungen. In diesem Jahr hat er wieder – Anfang September – bei einem Kongress in Hamburg (“Von Lust und Wollust”) ein Referat gehalten (“Sexualität von Borderline-Patienten”). Mein Protest bei dem Veranstalter (Chefarzt der Asklepios-Klinik, Birger Dulz) führte nur zu einer verständnislosen, geradezu beleidigenden Antwort. So kenne ich es seit Jahren.

Aus Anlass des Kernberg-Besuchs in Hamburg habe ich seinen Aufsatz noch einmal gründlich unter die Lupe genommen. Wenn Sie mögen, dann finden Sie im Anhang das Resultat dieser Analyse (inklusive 13 Rückmeldungen auf meine erste Kernberg Kritik aus den Jahren 2000/2001 von verschiedenen Professoren und Fachleuten, darunter auch die von Sophie Freud) (vgl. link).
Es ist sehr, sehr wichtig, das Trauma und die Mechanismen seiner Verarbeitung zu studieren, um möglichst rasche und wirksame Therapien zu entwickeln. Gleichzeitig ist aber auch erforderlich, klar und deutlich die Stimme zu erheben gegen die schlimmsten Ignoranten in diesem Bereich, die durch eine Opferbeschuldigung das Leid der Betroffenen nur vermehren.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie im Rahmen Ihres Engagements für den “Runden Tisch” darauf drängen, dass auch ausdrücklich vor unangemessenen Therapiemethoden für Gewaltopfer gewarnt wird. Theoretikern wie Otto F. Kernberg muss eine ausdrückliche Absage erteilt werden! Die nun mehr als 100 Jahre andauernde Opferbeschuldigung, von Sigmund Freud in die Welt gesetzt, muss überwunden werden!

Mit freundlichem Gruß
Klaus Schlagmann
Auf dieses Schreiben erfolgte so gut wie keine Resonanz.

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