Fehldeutung

… der “Gradiva” durch Sigmund Freud

Freud möchte anhand der Erzählung ‚Gradiva’ seine Methode der Traumdeutung bzw. die Mechanismen des Unbewussten erläutern. Er geht dabei – zu Recht – davon aus, dass Norbert Hanold symbolisch Anteile des Dichters Wilhelm Jensen repräsentiert.

Freud formuliert: „Der Psychiater würde den Wahn Norbert Hanolds vielleicht der großen Gruppe Paranoia zurechnen und etwa als ‚fetischistische Erotomanie’ bezeichnen, weil ihm die Verliebtheit in das Steinbild das Auffälligste wäre, und weil seiner alles vergröbernden Auffassung das Interesse des jungen Archäologen für die Füße und die Fußstellungen weiblicher Personen als ‚Fetischismus’ verdächtig erscheinen muß. Indes haben alle solchen Benennungen und Einteilungen der verschiedenen Arten von Wahn nach ihrem Inhalt etwas Mißliches und Unfruchtbares an sich.“ In Freuds Fußnote dazu: „Der Fall N.H. müßte in Wirklichkeit als hysterischer, nicht als paranoischer Wahn bezeichnet werden. Die Kennzeichen der Paranoia werden hier vermißt“ (Freud, 1992, S.122).

Und: „Der gestrenge Psychiater würde ferner unseren Helden als Person, die fähig ist, auf Grund so sonderbarer Vorliebe einen Wahn zu entwickeln, sofort zum dégénéré stempeln und nach der Heredität forschen, die ihn unerbittlich in solches Schicksal getrieben hat. … mit der Diagnose dégénéré, mag sie nun wissenschaftlich zu rechtfertigen sein oder nicht, ist uns der junge Archäologe sofort ferne gerückt;“ (S.122).

Freud lässt einerseits stark pathologisierende Kategorien der Psychiatrie anklingen, andererseits nimmt er sie irgendwie zurück, indem er sie anderen in den Mund legt und sich mit seiner Meinung zurückhält. Auf diese Weise kann er alle möglichen Sichtweisen für sich reklamieren. Bei diesem gewaltigen Hin und Her zwischen psychiatrischer Etikettierungen und deren halbherziger Zurücknahme vermisse ich eine Charakterisierung Norbert Hanolds als normalen, sensiblen und phantasiebegabten Menschen, der sich zwar einen Moment lang verwirren lässt, aber deswegen keineswegs an Wahnvorstellungen leidet.

Und Freud schreibt (1907/1992, 81): „Der Zustand Norbert Hanolds wird vom Dichter oft genug ein ‚Wahn’ genannt, und auch wir haben keinen Grund, die Bezeichnung zu verwerfen.“ Michael Rohrwasser (28) hebt richtig hervor – darauf aufmerksam gemacht durch Klaus Theweleit –, dass in der ganzen ‚Gradiva’ kein einziges mal vom Dichter der Begriff „Wahn“ verwendet wird.

Freud meint, dass der Ursprung aller psychischen bzw. psychosomatischen Störungen in abgewehrten sexuellen Gefühlen der Kindheit liegt. So deutet er auch hier: „Verdrängt sind bei Norbert Hanold also die erotischen Gefühle, und da seine Erotik kein anderes Objekt kennt oder gekannt hat als in seiner Kindheit die Zoё Bertgang, so sind die Erinnerungen an sie vergessen. Das antike Reliefbild weckt die schlummernde Erotik in ihm auf und macht die Kindheitserinnerungen aktiv“ (Freud 1995, S.85). In der Kindheit hatte Norbert Hanold sicher keine erotischen Gefühle gegenüber der kleinen Zoё, so dass er gerade keine Schwierigkeiten hatte, unbefangen mit ihr umzugehen. Sie war in keiner Weise sein „erotisches Objekt“, sondern seine vertraute Spielkameradin. Erotische Gefühle waren bei Norbert erst später aufgetaucht und hatten sich dann – nach einer Phase des Verdrängt-Seins – durchaus zu ihrem Recht verholfen. Dass dies jedenfalls dem Dichter ähnlich ergangen war, hatte er Freud gegenüber sehr klar beschrieben (Brief an Freud vom 25.5.1907, Freud, 1995, S.23).

Weiter: „Die Frauen und Mädchen auf der Straße, die er zu Objekten seiner Untersuchung nimmt, müssen freilich eine andere, grob erotische Auffassung seines Treibens wählen, und wir müssen ihnen recht geben.“ (Freud, 1995, S.86). Mit dem wir müssensoll die LeserIn für Freuds Auffassung vereinnahmt werden. Aber „wir müssen“ überhaupt nichts. Ich für meinen Teil halte Freuds Deutung für Blödsinn. Norbert Hanold begründet ausreichend, warum er sich auf einmal so für Damenfüße interessiert. Davon eine „grob erotische Auffassung“ zu haben, entspräche entweder übertriebener Prüderie oder, im anderen Extrem, zwanghafter Sexualisierung jeder Lebensäußerung, wie es Freuds allzu gerne getan hat (vgl. den Fall ‚Dora’). Weder das eine, noch das andere halte ich für angemessen.

Norbert Hanold bekommt von Freud attestiert: „Er hat kein Interesse für das lebende Weib; … ein lebhaftes Interesse für Gang und Fußhaltung der Frauen erwachen, das ihn bei der Wissenschaft wie bei den Frauen seines Wohnortes in den Verruf eines Fußfetischisten bringen muß …“ (S.123). Und: „Der Zustand dauerhafter Abwendung vom Weibe ergibt die persönliche Eignung, wie wir zu sagen pflegen: die Disposition für die Bildung eines Wahnes (S.124). Dass Norbert Hanold in „dauerhafter Abwendung vom Weibe“ lebe, ist eine Unterstellung, die durch nichts belegt ist. Der Konzeption des Autors wird diese Sichtweise jedenfalls nicht gerecht, er hat dem ausdrücklich widersprochen (s. Wilhelm Jensen).

Bezeichnend ist die Freudsche Deutung des ersten Traumes von Norbert Hanold. Norbert träumt vom Vesuv-Ausbruch im Jahre 79 n.Chr., bei dem er die Gradiva auf den Stufen des Apollotempels sterben sieht. In dem Traum erkennt Freud als „wahren Sachverhalt“: „die Angst des Angsttraums entspreche einem sexuellen Affekt, einer libidinösen Empfindung“ (Freud, 1995, S.95). Dass bei der späteren ersten Begegnung zwischen Norbert Hanold und der Gradiva in Pompeji dieser den vermeintlichen Geist auffordert, sich noch einmal so hinzulegen, wie in dem Traum geschehen, deutet Freud so: Die Betroffene habe an dieser Stelle „aus dessen (N.H.’s; K.S.) wahnbeherrschten Reden … den unziemlichen erotischen Wunsch herausgehört … . Ich glaube, wir dürfen uns die Deutung der Gradiva zu eigen machen;“ (Freud, 1995, S.97). Damit wird also offensichtlich für Freud die Szene des Traumes, in dem sich die Gradiva zum Sterben auf die Stufen des Apollo-Tempels niederlegt, zum Symbol sexueller Willfährigkeit. Dieser Deutung sollen „wir“ ebenfalls folgen „dürfen“. Leider hat Freud vergessen mitzuteilen, welche Möglichkeit wir haben, eine Vorstellung daran wachzurufen, wie sich ein geliebter Mensch zum Sterben hingelegt hat, ohne dass uns dabei direkt eine sexuelle Wunschvorstellung unterstellt würde.

Im Wissen darum, dass Wilhelm Jensen sein ganzes Leben lang einer Jugendliebe nachgetrauert hat, die 18jährig an Tuberkulose verstorben war, und von der er sich noch am Abend vor ihrem Tod verabschiedet hatte (vgl. die folgenden Ausführungen dazu), gerät Freuds Deutung geradezu grotesk. Ein Beispiel, das seine sexuelle Deutungswut einmal mehr radikal in Frage stellt.

Gegenüber C.G. Jung hatte Freud folgende „Deutung“ geäußert (Brief vom 24.11.1907): „Was meinen Sie nun zu folgendem kühnen Aufbau? Die kleine Schwester war von jeher krank und hat mit Spitzfuß gehinkt. Sie ist später an Tuberkulose gestorben. Dieses pathologische Moment mußte von der verschönernden Phantasie ausgeschlossen sein. Aber eines Tages merkte der Trauernde an dem Relief, auf das er stieß, daß auch dieses Krankheitszeichen, der Spitzfuß, zu einem Reiz und Vorzug umgestaltet werden könne, und damit war die ‚Gradiva’ als neuer Triumph der wunscherfüllenden Phantasie fertig.“ (Freud 1995, S. 27f).

Dabei hatte auch Jung die von Freud vorgebrachte Deutung mitgetragen bzw. vorbereitet. Er hatte am 2. November 1907 Freud geschrieben: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen etwas Neues sage, wenn ich Ihnen mitteile, daß die infantile Geschichte Jensens nun klar liegt. Die Lösung findet sich überaus schön in den Novellen: ‚Der rote Schirm’ und ‚Im gotischen Hause’. Beide Stücke sind wunderbare, z.T. bis ins feinste gehende Parallelen der ‚Gradiva’, namentlich ‚Der rote Schirm’. Das Problem ist die Geschwisterliebe. Hat Jensen eine Schwester? Ich verzichte darauf, Ihnen die Details breitzulegen. Ich würde Ihnen den Charme des Erkennens nur verderben“ (Freud, 1995, S25).

Diese Deutung hatte sich nun so sehr in Freuds Kopf festgesetzt, dass er den Dichter dreimal anschrieb und nach näheren Informationen zu Jensens Lebensgeschichte fragte. Dass Jensen – wahrheitsgemäß – angab, er sei ohne Geschwister aufgewachsen (er wurde als uneheliches Kind eines Kieler Bürgermeisters und einer Dienstmagd im Alter von drei Jahren einer unverheirateten, kinderlosen Professorentochter zur Adoption übergeben), das hat Freuds Deutung als unsinnig entlarvt. Mehr zur Lebensgeschichte des Erzählers Wilhelm Jensen (1837 – 1911).

Oder hier: zurück zum Beginn der Ausführungen über Norbert Hanold und Wilhelm Jensen, mit Verweisen zu den einzelnen Kapiteln nebst Literaturangaben, oder hier zum vorigen Kapitel über den Inhalt der Novelle.