Fern hinüber

 

Fern hinüber (von Wilhelm Jensen)

1.

Ich schritt zwischen stummen Bildern
Versunkener Tage dahin,
Um Stein und Kreuz verwildern
Sah ich das Sommergespinn;
Es spann seinen bunten Flitter
Aus Gruft und Moder empor
Und wölbte mit grünem Gitter
Sich über des Todes Thor.

Daneben meine Kinder
Blondköpfig mit blauem Aug‘
Durchhüpften als Wegesfinder
Die Wildniß von Busch und Strauch;
Sie fanden ob dichtem Moose
In tief verborgener Ruh’
Noch weiß erblühende Rose
Und zogen mich fröhlich herzu.

Und unter der Rose nicken
Sah ich das dunkle Haar,
Und unter dem Steine blicken
Das süße Augenpaar,
Das mich zuerst mit allen
Traumbildern des Lenzes umschwebt,
Das, drunten erloschen, zerfallen,
In mir allein noch lebt.

2.

Als nun der Mai und die Sonn’ erschien,
Es kamen die Blumen, das frische Grün;
Vergißmeinnicht tief unter den Füßen
Ich sah sie blauäugig den Mai begrüßen;
Libellen und Falter und Bienen und Käfer,
Sie schwirrten wie halb erwachte Schläfer;
Ich sah sie deutlich im Sonnendämmern
Und hörte den Specht im Walde hämmern,
Und über mir rings ein Sangesschmettern;
Ich sah in den Zweigen sie hüpfen und klettern,
Sie musicirten um die Wette –
Nur du lagst todt auf kaltem Bette.
Im kleinen Häuschen am Waldesrand,
Die weiße Hand auf dem weißen Gewand.
Die Maienlüfte zogen herein
Durch’s offene Gartenfensterlein;
Du fühltest sie nicht. Das Sonnenlicht
Umspielte dein stilles Todtengesicht,
Das schöner als Sonne und Blumen und Mai –
Du sahst es nicht. Sie kamen herbei
Und nahmen Abschied bitterlich;
Sie schmückten traurig mit Rosen dich
Und priesen dich mit schönen Worten;
Du hörtest’s nicht. Nur ich ging fort;
Ich sah ihn schweben ob weißem Sande,
Den weißen Kahn tief drunten am Strande;
Die weißen Segel sah ich glänzen,
Die aufgewunden mit Lilienkränzen.
Sie harrten dein in langen Reih’n,
Zehntausend weiße Jungfräulein.
Du stiegst hinein. Still war das Meer,
Doch lautlos glitt der Kahn einher.
Am Steuer stand die schönste Fee –
Er zog weit durch die stille See –  –
Ich barg in den Händen mein glühend Gesicht
Und schluchzte und weinte. Du sahst es nicht. –
Viel Jahre sind’s. Es kehrt der Mai,
Kein Kahn trug wieder dich herbei –
Und wenn er mir zuletzt entschwand,
Trägt keiner mich an jenen Strand.

3.

Laßt mich allein auf eine kurze Weile,
Wir treffen wieder drunten uns im Hain,
Ihr seid mir lieb wie eignen Herzens Theile,
Ihr wißt’s – doch jetzt laßt mich allein.

Hier einst ja hat des Knaben Brust umwunden
Der ersten Liebe gold’ner Frühlingsschein:
Mit Andern theilet man des Glückes Stunden –
An Gräbern kniet man nur allein.

Aus dem Gedichtband: Aus wechselnden Tagen (1878), 137 ff.

 

[In diesem Gedicht beschreibt Jensen m.E., wie er durch einen bestimmten Trigger  – hier: eine weiße Rose auf einem Friedhof – an seine früh verstorbene Kindheitsfreundin erinnert wird. In ihm läuft nun tagtraumartig eine fantastische Vision ab, wie die verstorbene geliebte Freundin von überirdischen Wesen (“zehntausend weiße Jungfräulein”, “die schönste Fee”) mit einem Schiff abgeholt wird. Als er aus diesem Zustand wieder erwacht, bittet er seine Kinder – die er ganz und gar in sein Herz geschlossen hat – ihn dennoch für einen Moment alleinzulassen, damit er sich einen Moment ganz für sich selbst seiner Trauer überlassen kann.] 

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