Mnemosyne

Mnemosyne [1]

I.

Was doch legt sich mit Zaubergewalt süß lockend ans Herz dir
Jener Erinnerung Glück, das dir die Kindheit beschied?
Denkst du ihrer, so rauscht dir mit anderer Sprache der Walddom,
Rieselt geheimnisumwebt über die Wurzel der Quell;
Vogelstimmen umher und der Schmelz hingaukelnder Falter
Weben um Aug’ und um Ohr märchenhaft redende Welt.
Immer gebadet in sonnigen Glanz nur leuchtet der Tag dir,
Immer vom Monde bestrahlt, grüßt dich die köstliche Nacht.
Über dich neigt mit Geflüster der Halm sich am schattigen Abhang,
Murmelnd vom Winde bewegt wiegen dich Wipfel und Traum,
Und fernher nur hinab nachfolgt in die süße Betäubung
Dir von der Glocke des Turm’s summend verhallender Klang. –
So in der Tiefe bewahrt deine Seele die heilige Urschrift
Ihres Beginn’s, wie mit Gold lieblich in Marmor geprägt,
Und aus den Fernen der Welt fortschwellt unendliche Sehnsucht
Dir an das Wundergestad’ mächtig die Segel zurück.

Siehe, da taucht es empor und du streckst die verlangenden Arme,
Und dem entzauberten Blick beut sich ein fremdes Gebild;
Wohl mit den Zügen wie einst, doch aus dem erkalteten Leichnam,
Aus dem erstarrten Gesicht floh ihm die Seele dahin.
Über ihn schauert der Wind, und es schauert hinab ins Gebein dir,
Bis dir das innerste Selbst heiß die Erkenntnis durchrinnt:
Du nur wandeltest dich und stehst, ein entzauberter Fremdling,
Alter Sprache nicht mehr mächtig, im heimischen Kreis.
Siehe, sie strecken nach dir die verlangenden Arme, die Stimmen
hallen ihr Märchengeläut’, aber du hörst sie nicht mehr.
Aus dem Rahmen entschwand, dem wandellosen, dein Bildnis,
Und sein Schatten nur blieb sehnend im Herzen zurück,
Dass mit Blut du die Lippen ihm netzst, um ihm Sprache zu leihen –
Doch es durchschauert dein Blut nur der Vergänglichkeit Weh.

 

II.

Hinter dem blühenden Laub des weißumblühten Ligusters
Sorglich ins Dunkel gekniet, bargst du dich neckisch dem Freund;
Doch von dem Abendgeleucht des roth absinkenden Tages
Zog ein glühender Strahl heimlich des goldenen Gelocks
Fäden hervor aus dem Laub und deutete mir die Verborg’ne,
Die nun jubelnden Rufs ihrem Versteck ich entriss.
So mit beglückendem Licht grüßt drunten im nächtigen Bergschacht
Plötzlich des Suchenden Blick schimmernde Ader des Gold’s ,
Und es umfloss ringsum mit Fülle des Edelgesteins nun
Mich deiner Lippen Rubin, mich deiner Augen Saphir.
Lachend ergriffst du die Hand des Gefährten der täglichen Spiellust,
Zogst ihn fröhlich mit dir, ahnungslosen Gemüts,
Dass ihm in jenem Moment zum ersten Mal eine Ahnung
deiner Schönheit, ein Blitz, schauernd die Seele durchrann.
Und so stand ich im Traum, nicht wissend, was mir geschehen,
Was mit dem plötzlichen Schlag klopfend das Herz mir geregt.
Über uns legte sich weich vom Himmel dämmernd die Mondnacht –
Ach, es entschwand über uns hin unermesslich die Zeit,
Breitete frühe die Nacht um dich her und ließ mich dem Tage;
Kaum mehr schau’ ich zurück, gleichwie vom Rande des Schachts
Drunten im Bergschoß fernher noch ein Schimmer des Lichts grüßt,
Aber erloschen dahin schwanden Rubin und Saphir.
Manchmal nur, wenn das Abendgewölk sich in rötliche Glut hüllt,
Irrt aus dem Schattigen Laub plötzlich es noch vor dem Blick
Wohl wie ein goldener Faden mir auf, und ein stockender Herzschlag
Pocht in der Brust, wie er einst des Knaben durchbebt.

 

III.

Wo doch bist du, o Freund, du erster aus Knabengedenkzeit,
Einst dem Beginn meines Tags innig verknüpft?
Hast du meiner gedacht, dass mir heimliche Mahnung daherkam
Und die Erinnerung in mir plötzlich und mächtig geweckt?
Tönt es nicht mir im Ohr, als hätte verklingend im Windhall
Mich von drunten dein Ruf eilig ans Fenster gelockt?
Vor mir liegt noch die Stadt und es schlingt noch das alte Gemäuer
Wie in verschollener Zeit seinen zerfallenden Kranz,
Aber verödet umschließt nicht mehr sein Rahmen dein Bild mir,
Der mit der flutenden Zeit ich in die Heimat gekehrt.
Oftmals stand ich wie heut’, und es webten die Flocken wie heut’ auch
Ihren phantastischen Tanz kreisend um Wipfel und Dach:
Oftmals grünte der Lenz, vom Ulmbaum lockte die Amsel,
Oftmals deckte die Wand blühendes Rosengewirr,
Flatterte wieder im Sturm von der Linde vergoldetes Herbstblatt:
Dass ich mit klopfender Brust deiner Erscheinung geharrt.
Fern dann tauchtest du auf, und ich eilte den Weg dir entgegen,
Und mit verschlungenen Armen stürmten wir hastig davon.
Wogend umgab uns das Feld, und es rauschte wie Wogen der Eichwald,
Über den tönenden Strand goss sich die Woge der See,
Aber beruhigt entschlief in der Brust mir die Woge der Sehnsucht,
Die, wie unendliches Glück, dich mir zur Seite verlangt.
Stunden entflogen uns hin in dem Wechsel des kindischen Spielwerks,
kindisch gesellte sich ein wichtig sich dünkender Ernst,
Doch aus dem Schattengebild’ der Erinnerung, unsäglichen Zaubers,
Blüht, aus dem nichtigen, mir wieder die Jugend herauf,
Kehrt das unfassbare Glück, das dem eigenen Reichtum entquellend,
Übergenügend mit dir herrlich die Welt sich beschloss. –
Doch in das Sonnengefühl, das mit Wärme die Brust mir beseligt,
Plötzlich mit schauerndem Hauch schneidet ein tödlicher Frost:
Schwand mit der Jugend denn auch in vergänglichem Reichtum der Herzschlag,
Der sich aus eigenster Kraft frühesten Tempel erschuf?
Welcher des Kindes Gemüt aufrief zu dem reinsten Altardienst,
Den es bewusstlos begeht, der es bewusstlos erhöht?
Lagert erstarrendes Eis denn die Armut der reifenden Klugheit
Über das törichte, ach, über das wirkliche Glück? –
Wo doch bist du, o Freund, du erster aus Knabengedenkzeit,
Dass die Erinn’rung mich heut’ lieblich und schmerzend erfüllt?
Wo in der Fülle der Welt entdeckt die irrende Sehnsucht,
Findet, vom Schlummer erwacht, heut’ dich das suchende Herz? –
Weiter schreitet der Tag, und es wallen die Flocken darüber,
und sie verhüllen mir bang’ dichter und trüber dein Bild.

 

IV.

Unter der Linde des Dorfs noch schaut’ ich dein blühendes Antlitz,
Wie du das fliegende Haar hastig den Schläfen entstreifst;
Du die Schönste gewiss der im Wettkampf ringenden Schwestern,
Die um den lockenden Preis eifrig die Kräfte geprüft.
Aber den Andern vorauf wie ein Stern hinflogst an das Ziel du,
Standest des Atems beraubt, höher aufleuchtenden Blicks,
Und mit der zitternden Hand den Kranz frühblühender Rosen
Drücktest du, fiebernden Bluts, auf die erglühende Stirn. –
Nimmer erschaut’ ich dich mehr, und mir hallte verklingend ans Ohr nur,
Dass dich des Sommers Beginn selber zur Rose verschönt,
Dass du, ein leuchtender Stern noch wie einst, in verändertem Wettkampf
Immer des Sieges gewiss, selber der lockendste Preis,
Bis dir, des Atems beraubt an schwülem Tage des Schicksals
Von der erglühenden Stirn raubte der Sieger den Kranz. –
Einsam trägt mich der Fuß heut’ über den ländlichen Friedhof,
Den für den Knaben dereinst Dämmergeheimnis umwob.
Ach, es erhellte sein Rätsel der Tag zu bald mir, und plötzlichen
Schon aus ummoosten Gestein tönet dein Name mir auf.
Seltsam ergreift mich die Schrift; sie kündet, dass wieder den Andern
Weit vorauf du ans Ziel flogst, doch ein fallender Stern.
Nicht mehr leuchtet dein Blick im berauschenden Siegestriumph auf,
Nicht mehr fiebert das Blut in der erkalteten Stirn.
Drüben nur murmelt wie einst noch im Hauche des Abends die Linde,
Und zu Häupten dir rauscht leis ein verdorreter Kranz.

 

V.

Dort wo ins stille Gefild einbiegt der bräunliche Waldrand,
Unter dem grauen Geäst blieb mir die Seele zurück.
Nicht die Nymphe des Quells, noch des alternden Stammes Dryade,
Zaubernd bestrickte den Sinn dort mir das eigene Herz,
Unverstandenen Lauts, ein klopfendes Rätsel, vom Lispeln
Jedes Gezweigs, vom Glanz jeglichen Lichtes geregt.
Dorthin trägt aus der freudigen Lust der beglückende Traum mich,
Dorthin flüchtet der Gram, wie an geheiligte Statt.
Stets empfängt mit dem nämlichen Gruß mich das eigene Bildnis,
Zieht wie mit schirmender Hand lächelnd mich zu sich herab,
Und wir ruh’n, ein verschwistertes Paar, das sich wieder gefunden,
Das in der doppelten Brust einzigen Schlag nur vernimmt.
Süß von Wärme durchströmt und gebadet in wonnigen Wohllaut,
Hoch in das schimmernde Blau wiegt uns der Fittig des Weihs,
Senkt uns kreisend herab in den Duft buntleuchtenden Berghangs,
Körpergelöst, und es füllt einzig das schweigende Thal
Mittagsfrieden und Glanz der dahinschreitenden Sonne,
Und in der Seele zerging jegliches Erdenbegehr.

 

VI.

Sonniger Lenzesbeginn! In den schwellenden Wipfeln des Buchwalds
Flüsterte südliche Mär’ heimlich den Knospen der Wind;
Offene Fenster allum, und gebadet in Nachmittags-Glanzlicht
Dehnte die Gasse sich still an den verlassenen Platz.
Doch vom Turm nur rief dumpfsummend metallener Uhrschlag,
Und vom Getümmel erfüllt plötzlich umschwoll es den Markt.
Knabengesichter, beflügelten Schritts aus der Schultür entrinnend,
Ernster, der Würde bewusst, folgt der Primaner darein,
Mit den Genossen vertieft in ein wichtiges Wechselgespräch noch,
Aber im fröhlichen Blick spiegelt hell sich der Lenz.
Rann er noch kaum erst dahin? Mir ist es, als käme von drüben
Hastiges Mädchengedräng’ wieder die Gasse herab,
Auch in den köstlichen Frühling hinaus entronnen dem Schulzwang;
Eine darunter empor ragend an schlanker Gestalt,
Jungfrau halb, und halb ein töricht lachendes Kind noch,
Das mit der nickenden Stirn lächelnd den Gruß mir vergilt.
„Über ein Jahr, gib Acht, macht Keine den Apfel ihr streitig!“
Kaum vernahm ich des Freunds klassisch bemessendes Wort,
Sondern ich ließ ihn und flog durch ein Nebengewirre der Gassen,
Bis ich klopfender Brust drüben ans Ende gelangt.
Langsam schlendernden Gangs dann schritt ich zurück, und da kam sie
Lieblich des Weges daher wieder, doch kam sie allein.
Wundersam pochte das Herz, und ich hob mein Hand und ich grüßte,
Als sie vorüber nun schritt, wie ich zuvor es getan.
Fragend betraf mich ihr Blick ob der seltsamen Wiederbegegnung,
Leis dann errötend vergalt kurz sie den linkischen Gruß,
Halb lachlustiges Kind und halb aufdämmernde Jungfrau,
Halb auf der Lippe den Spott, halb in der Brust das Geschoss.
Und ich enteilte hinaus, und der Lenzwind regte die Wipfel,
Und aus dem höchsten Gezweig jauchzte der Amsel Gesang.

 

VII.

Schau’, wie die Möwe sich dort mit dem weißaufflammenden Brustlatz
Schrill hinkreischenden Rufs taucht in den schäumenden Gischt!
Boreas feiert ein Fest, und es peitschen die Zacken Poseidons
Ihm zu Ehren vom Grund seine Vasallen herauf.
Komm und lass uns, o Freund, lass mit uns den Festtag begehen,
Dass uns die Gährung der See täube das gährende Blut!
Niedergeduckt in den wogenden Schwall von dem Atem der Windsbraut,
Gleich der beflügelten Brust rasen die Segel dahin.
Pfeifend umschwirrt uns der Sturm und ein Schmettern im Ohr, wie von tausend
Lerchen im sonnigen Blau wirbelnd aufjauchzendes Lied.
Nun schwarzmähnig heran hoch wölbt es den schwellenden Nacken,
Nun wie ein Leichengespenst wallt es in weißem Gewand.
Ringshin streckt sich begieriger Arm nach dem tanzenden Schifflein,
Und unser Leben, es ruht nur auf der eigenen Kraft;
Aber es trügt sich der feindliche Schwarm, denn des Aufruhrs,
Feurig durchglühen auch uns sie mit erhöhetem Mut.
Fürder in trotzigem Flug und zur Sclavin gebändigt die Windsbraut!
Über eu’r triefendes Haar, Töchter des Nereus, dahin!
Hüte nur Ohren und Herz vor der schmeichelnden Nixe Betörung,
Und die ergrimmte gewinnt über den Kühnen nicht Macht! –
Sieh’, da taucht ob dem Brandungsgewog’ mattdämmernd das Ziel auf,
Ärmliche Hütten, verstreut über das öde Gestad;
Fliegender Sand und Gestein, und mit bärtig verwittertem Antlitz
Grüßen verwundert am Strand Fischer das kecke Gefährt.
Derb von Gestalt, an die Netze gelehnt, auch die Tochter des Fischers,
Barfuß, flatternden Rocks; Zwielicht umrinnt ihr Gesicht.
Doch in dem niedern Gemach willkommen nun heißt uns der Alte,
Bietet das dampfende Glas braun vom geschmuggeltem Rum.
Rund um den Tisch geht der Trunk und runde die seltsam Rede,
Seemannsgeschichten und Mär’, gläubig erzählt und belauscht;
Sturm umheult das Gebälk, und es sprühen im Ofen die Scheiter –
Siehe, da glimmert der Strahl kurz in den Winkel hinein
Über der Tochter Gesicht in die meergrün leuchtenden Augen,
Über die Perlenreih’n hinter korallenem Tor – –
Hastig erlischt und der Strahl, doch es fasst dich mit plötzlichem Schauer,
Dass in dem groben Gewand eine Nixe sich birgt.

 

VIII.

Wo doch wehet für mich in der Welt dein heiliger Atem,
Göttliche Mutter, o du Namenlose, die einst
Mich auf den Armen gewiegt und im Dämmertraum des Erwachens
Seliger Sehnsucht Qual mir in die Seele geküsst?
Immer tauchet mein Ohr nach deiner Stimme, doch leis’ nur
Wie ein verhallender Gruß zittert im Herzen ihr Klang,
Immer sucht dich der Blick, doch er ahnt nur, von rosigen Schleiers
Süßem Geheimnis umwebt, nimmer Erschaute, dein Bild.
Manchmal empfand ich es wohl, du schwebtest vorüber , und flüchtig
Über die träumende Stirn streifte die wonniger Hauch,
Aber verworrenen Laut’s überrauschten die Wipfel des Hochwalds,
Brausender Wasser Gesang deinen ätherischen Flug;
Über dein Antlitz zogst du die goldenen Wolken, ein Sternbild,
Das nur die Ahnung empfand, barg sich dein Aug’ mir im Blau.
Und es trieb mich die Sehnsucht von dannen, die nimmer erfüllte,
Aus der vereinsamten Welt unter die Menschen hinab,
Fort durch die Gassen der Stadt, und ich fragte mit stockender Zunge,
Schüchtern, der Hoffnung beraubt, frug ich die Menschen nach dir. –
Aber ich trauete kaum meinem Ohr, denn sie kannten dich alle,
Alle standen mit dir sie auf vertrautestem Fuß.
Prüfenden Kennerblicks pries selbst der Händler dein Bildnis
und taxierte genau mir’s nach dem gangbaren Wert;
Andrer enthüllte mir dort den verschwiegenen Reiz deiner Schönheit,
Klar mich belehrend, warum schön zu benennen du sei’st.
Männer mit ernstem Gesicht, glanzhäuptig und zungengewichtig
Trugen bedächtigen Schritts gilbende Schriften herbei,
Schlugen sie auf und bedeuteten mich, wie sie jeglicher Frage
Über dein eigenstes Sein längst darin Antwort erteilt.
Und zur Jugend lenkt’ ich den Fuß, da sang sie im Chor mir,
dass seit ewigem Bund ihre Geliebte du sei’st,
Und sie bekräftigen mir es beredten Mundes, sie riefen
Dich mit Namen, und laut klangen die Gläser dazu.
Alle kannten dich von Antlitz, Wort und Verständnis –
Ich unwissend allein, schlich mich beschämt aus dem Kreis,
Flüchtete wieder hinaus, wo die rauschenden Wipfel des Hochwalds,
Brausender Wasser Gesang bangend das Herz mir durchfloss.
Warum mir denn allein von allen, göttliche Mutter,
Mir, dem der Sehnsucht Qual du in die Seele geküsst,
Warum mir denn allein verweigerst dein heiliges Selbst du,
Rührst nur grüßenden Hauchs, nimmer Erschaute, mein Herz?
Du, deren Name Besitz jedweden Mundes, warum doch
hehlest allein, o du Namenlose, dich mir?

 

 

[1] Mnemosyne, Göttin der Erinnerung, Tochter von Uranos und Gaia

(Von Wilhelm Jensen, aus: Aus wechselnden Tagen. Verlag Georg Stilke, Berlin, 1878, S. 87-106)