Kernbergs Theorie

… – aber wie!

Otto F. Kernberg ist ein Theoretiker, der sehr ausgiebig in einer extrem individualisierenden Sichtweise dem Kind die Hauptverantwortung für das Geschehen in der Familie zuweist:

„Borderline Patienten müssen im Verlauf der Behandlung immer deutlicher erkennen, wie ihre Eltern an ihnen versagt haben; die monströsen Zerrbilder, in denen die Eltern noch zu Beginn der Therapie geschildert wurden, erweisen sich zwar als phantasiebedingte Entstellungen; versagt haben diese Eltern aber, und zwar in einfachen menschlichen Dingen, nämlich da, wo es darum ging, Liebe zu geben und auch anzunehmen, Trost und Verständnis zu vermitteln oder mit intuitivem Geschick helfend einzugreifen, wenn ihr Kind in Not war“ (Kernberg, 1990, S.204 f).

Das Versagen der Eltern in „einfachen menschlichen Dingen“ wird hier immerhin kurz in Rechnung gestellt. Aber dies tritt gegenüber der Entgleisung der Betroffenen deutlich in den Hintergrund, die sich der „phantasiebedingten Entstellung“ der Elternbilder „zu monströsen Zerrbildern“ schuldig machen.

Und der Wirkanteil elterlichen Verhaltens an einer gestörten Entwicklung des Kindes wird noch weiter reduziert (Kernberg, 1990, S.326): „Im Verlauf der analytischen Arbeit stellt sich regelmäßig heraus, daß hinter den bewußt erinnerten oder erst in der Analyse wiederentdeckten ‚Enttäuschungen’, die diese Patienten von seiten ihrer Eltern erlebt haben, eine weit zurückreichende Entwertung der … realen Elternfiguren steht, die der Vermeidung von Konflikten mit ihnen dienen soll.“

„’Enttäuschungen’“ durch die Eltern seien gar nicht real, sondern das ungezogene Kind mache sich aus eigenem Antrieb fälschlich ein schlechtes Bild von Papa und Mama – das sei sein Problem! Die „realen Elternfiguren“ würden kindlicherseits „entwertet“. So, so. Und (Kernberg, 1990, S.315): Patienten der Kategorie „pathologische Narzißten“ wiederholten in der Therapie „frühe Entwertungen wichtiger äußerer Objekte … als … Abwehr gegen tieferliegende Konflikte im Umkreis von oraler Wut und Neid. Sie müssen alles, was ihnen Liebe und Befriedigung spenden könnte, zerstören, um die Anlässe für ihren Neid und ihre projizierte Wut zu beseitigen“. So geraten sie in einen „Teufelskreis von Wut, Frustration und destruktiver Entwertung potentieller Befriedigungsquellen …, was aber nur um den Preis einer schweren Schädigung der verinnerlichten Objektbeziehungen gelingt.“

Also: Nicht Missbrauch oder Misshandlung durch Erwachsene fallen ins Gewicht, sondern das Kind hat ganz allein das Problem mit seiner „oralen Wut“ und seinem „oralen Neid“. Es bewältigt diesen Konflikt, indem es die Eltern als „potentielle Befriedigungsquellen“ „destruktiv entwertet“. Nicht, dass das Kind daran gelitten haben könnte, dass ihm niemand „Liebe und Befriedigung“ gespendet hätte, sondern es habe selbst die ihm angebotenen Beziehungen in den ersten Lebensjahren „zerstört“. Was für ein Scheusal.

Halt! Der Säugling soll mit seiner „oralen Wut“ und seinem „oralen Neid“ – was immer das heißen möge – für die „Zerstörung“ der Eltern-Kind Beziehung verantwortlich sein? Ist das nicht eine völlige Verdrehung von sozialer Ursache und Wirkung? (Nebenbei: Dies ist das klassische Missverständnis, das in der „Psychoanalyse“ gerne Narziss und Ödipus entgegengebracht wird.)

Freilich ist die angemessenste Betrachtungsperspektive der Eltern-Kind Beziehung die einer Wechselwirkung. Aber wenn man schon quasi die „Hauptverantwortung“ für deren Qualität zuteilen möchte, dann doch bitte der maßgeblichen Stelle. Und das sind nun mal während der ersten Kindheitsjahre – wie ich meine – eindeutig die Erwachsenen.

Im Stichwortverzeichnis eines seiner Werke (Kernberg, 1993) sucht man übrigens vergeblich nach Hinweisen über traumatisierende Effekte aus dem sozialen Umfeld eines Klienten. Statt dessen findet man reichhaltig Begriffe wie diese: „Elektrokrampftherapie; Flucht in die Gesundheit; Honorar … für versäumte Termine; Schweigen … als Angriff auf den Behandlungsprozeß, … als Suizid-Äquivalent; versäumte Verabredungen; Zurückhalten von Information“ (a.a.O., S.187 ff).

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