Anti-Kernberg Kampagne (2001)

ANTI – KERNBERG – KAMPAGNE

Otto F. Kernberg – das Contergan der Psychotherapie

Den folgenden Text („Weisheit oder Wahnsinn“) hatte ich nach der Lektüre von Kernbergs Artikel “Persönlichkeitsebntwicklung und Trauma” (1999) verfasst, umfangreich daraus zitiert und kommentiert. Aus dem Internet hatte ich nach dem Zufallsprinzip Adressen von psychotherapeutischen Fachleuten herausgesucht (in der Summe ca. achthundert), i.d.R. per Email angeschrieben und den Text “Weisheit oder Wahnsinn” angehängt. Im ersten Teil meiner Aktion hatte ich Kernberg als Autor der Ungeheuerlichkeiten nicht benannt. Diesen „anonymisierten“ Text hatte ich an 566 Adressen verschickt. Darauf bekam ich Rückmeldung von 49 Personen (Quote: 8,7 %), die ihre Antwort auch zumeist mit der Anmerkung verbanden, dass sie es für unwissenschaftlich hielten, nicht auch die zitierte Quelle zu nennen. In aller Regel erfolgte nach der Quellenangabe keinerlei Reaktion mehr. Die erneute Versendung meiner Position unter sofortiger Nennung der Quelle an 208 weitere Kollegen und Kolleginnen führt zu sechs Rückläufen (Quote: 2,9 %). (Später hatte ich noch sehr gezielt 13 weitere „Prominente“ angeschrieben.) Unter den Antwortenden sind 22 Professoren.

Aus den Zahlen lässt sich zumindest eine Tendenz ablesen: Offenbar sinkt die Bereitschaft, irgendwelche Zitate kritisch zu diskutieren, wenn die Kollegen und Kolleginnen den Namen des Autors vor Augen haben. Wer legt sich denn schon gerne mit anerkannten Koryphäen an?

Im Laufe der mehrwöchigen Auseinandersetzung hatte ich meinen Text leicht verändert. Die wesentlichen Ausführungen sind dabei konstant geblieben. Hier die letzte Version. Die Adressenangaben am Ende des Textes sind aktualisiert.

Weisheit oder Wahnsinn?

Zusammenfassung: Bei der Erklärung schwerer psychischer Störungen steht dem Trauma-Modell das Trieb-Modell gegenüber. In einer jüngeren Veröffentlichung (1999) liegt nun eine besonders zugespitzte Position der Trieb-Theorie vor: Ein KZ-Opfer verhalte sich wie der Kommandant seines Lagers. Eine 10jährige erlebe die Vergewaltigung durch ihren Vater als sexuell erregenden Triumph über die Mutter. Der Suizid einer von ihrem Therapeuten sexuell mißbrauchten Frau, aus dem eine Anzeige des Therapeuten folgte, zeige die Transformation eines Opfers zur Täterin. PatientInnen müßten sich mit ihren Mißhandlern identifizieren, um Heilung zu finden. TherapeutInnen hätten Mitleid mit den Hilfesuchenden – als Ausdruck sublimierter Aggression – zu vermeiden, während es zu ihrer therapeutischen Kompetenz gehöre, sich in die sadistische Lust von KZ-Komman­dan­ten, Folterern und Kinder­schändern einzufühlen.
Mir persönlich ist es zunächst ein Bedürfnis, diesen Thesen entschieden zu widersprechen. Danach möchte ich jedoch auch eine Hypothese wagen über den psychodynamischen Hintergrund, auf dem ein solches Therapieverständnis entstanden sein mag.

 Trauma- oder Trieb-Modell?

Bis heute ist es in theoretischen Überlegungen zur Psychotherapie immer noch sehr umstritten, wie schwerste psychische und psychosomatische Störungen erklärt und geheilt werden können. Es werden zwei geradezu diametral entgegengesetzte Positionen vertreten, die eine alte Kontroverse spiegeln:

Die eine Position macht geltend, daß häufig die Erfahrung von schwerem Leid in der Kindheit zu entsprechenden Störungen führt oder führen kann (Trauma-Modell).

Die andere Position behauptet, daß nicht derartige Traumatisierungen, sondern im Kind selbst angelegte Triebe – z.B. Wut, Haß oder Neid in starker Ausprägung – für die späteren Störungen ausschlaggebend seien (Trieb-Modell).

Bereits 1997 hatte ich versucht, anhand dreier Werke von Otto F. Kernberg nachzuweisen, dass er, der Argumentationslogik seines Trieb-Modells folgend, systematisch Opfer- und Täter-Rolle vertauscht. In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen (1999), so meine ich, hat er dabei die Grenzen psychotherapeutischer Ethik grob verletzt.

Ich halte es für dringend erforderlich, dass möglichst viele KollegInnen zu diesen Punkten klar Stellung beziehen. Wenn Kernbergs Positionen unwidersprochen im Raum stehen bleiben, so schadet dies dem Ansehen der gesamten Psychotherapie!

Bei der Besprechung sah ich mich vor einem Dilemma: einerseits macht mich der Text fassungslos und wütend, andererseits sagt mir meine therapeutische Erfahrung, daß derart provozierende Positionen nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern auf dem Hintergrund der jeweiligen Psychodynamik des Autors zu verstehen sind. Ich möchte deshalb hier zunächst meine Kritik und Gegenposition formulieren, und danach eine Hypothese darüber entwickeln, was in dem Autor vorgegangen sein mag, als er seine Fallgeschichten und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen zu Papier gebracht hat. Den zur Debatte stehenden Text, der aus mehreren Falldarstellungen besteht, habe ich kursiv zitiert. Hervorhebungen dabei stammen jeweils von mir.

1. Fall

„Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Überlebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von 12 Jahren aus dem Konzentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde.“ (Kernberg, 1999, S. 9)

Hier stockt mir persönlich der Atem. Was für eine unglaubliche Leidensgeschichte? Kann ein Mensch, der in halbwegs normalen Verhältnissen aufgewachsen ist, diese Tortur auch nur bruchstückhaft mit-leidend nachempfinden?

Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell vergewaltigt hatte, verhinderte, daß sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte“. (ebd.)

Offensichtlich haben dieser Mann und seine Familie ein massives Problem. Für mich ist es erst mal nicht allzu verwunderlich, daß die Schrecken der Vergangenheit an diesem Menschen nicht spurlos vorübergegangen sind, daß diese Erfahrungen noch heute sein Leben überschatten und auch seine Familie in Mitleidenschaft ziehen. Erstaunlich fände ich, wenn es anders wäre. Höchste Zeit für alle Beteiligten, sich psychotherapeutische Unterstützung zu suchen, um diese massive Traumatisierung und ihre Folgen möglichst weitgehend bewältigen zu können. Aber wie sieht der Autor den Fall?

Kernberg schickt voraus, worin er das eigentliche Problem sieht: der Klient entwickelt im KZ nur deswegen ein so schweres Problem, weil er seinen inneren Haß bereits mit hineingebracht hat: „Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegenüber“ (S. 9). Bereits Säuglinge seien in der Lage, aufgrund ihrer „oralen Wut“ und ihrem „oralen Neid“ von sich aus jede Form von liebevoller Beziehung zu zerstören – so sein Credo an anderer Stelle. Hierin sieht er das zentrale Problem – auch bei diesem Klienten. Und er zieht folgendes Resümee:

Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wiedergebe, daß dieser Mann sich seiner Familie gegenüber verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentrationslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde.“ (ebd.)

Dieser Satz wirft mich beinahe um! Völlig unzutreffend wird hier affektlos eine Gleichsetzung vorgenommen! Dabei ist es das eine, ob jemand ohne Not einen Job in der Leitung eines Konzentrationslagers übernimmt und in dieser Rolle Gefallen daran findet, seine hilflosen Opfer zu quälen und zu töten. Seit dem Milgram-Experi­ment wissen wir, daß allein der Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen normale Bürger in Sadisten zu verwandeln vermag. Dagegen ist es m.E. etwas völlig anderes, wenn das kindliche Opfer einer solchen Behandlung im blinden Reflex darauf eine Überlebensstrategie entwickelt, die von geringem Respekt gegenüber anderen geprägt ist!

Der sexuelle Mißbrauch der eigenen Tochter ist ohne Frage durch nichts zu rechtfertigen. Aber diese Tatsache – gepaart mit so unkonkreten Behauptungen wie: dieser Mann sei ein „absoluter Diktator seiner Familie“ gewesen, habe „verhindert, daß sich die Söhne von ihm unabhängig machen konnten“ und habe „seine Frau wie eine Sklavin behandelt“ – kann niemals eine Begründung dafür abgeben, daß ein Opfer grausamster KZ-Quälerei charakterlich mit seinen Folterknechten gleichgesetzt wird! Es ließe sich nicht einmal behaupten, daß die zugrundeliegende Psychodynamik ähnlich sei, denn diejenige des Opfers wird nur sehr unvollständig geschildert, während uns über den Lagerkommandanten überhaupt keine Informationen vorliegen.

Abgesehen davon, daß diese Äußerungen also von der psychologischen Inkompetenz des Autors zeugen, stellen sie eine unerträgliche Verharmlosung des KZ-Terrors dar, der sich diesem Mann als hilfloses Kind im Bewußtsein eingebrannt haben muß!

2. Fall

Eine Frau wird von ihrem sadistischen Ehemann „sozusagen als Geschenk seinen Freunden an(geboten)“ (S. 13) (= Vergewaltigung?). Sie ist im Alter von weniger als 10 Jahren von ihrem Vater, einer „antisozialen Persönlichkeit“, mehrfach sexuell mißbraucht worden (ebd.).

Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, als verwirrenden Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu beiden Eltern, als zerstörenden Einfluß auf die Entwicklung ihres moralischen Gewissens und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ (ebd.).

Der sexuelle Mißbrauch wird hier sehr pauschal und unklar abgehandelt. Muß er denn tatsächlich vom Kind „in typischer Weise“ erlebt werden als „verwirrender Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu beiden Eltern“? Besteht nicht in solchen Fällen häufig schon zuvor eine starke Beeinträchtigung der Eltern-Kind Beziehung? Weshalb sollte zwangsläufig die Beziehung zu beiden Eltern darunter leiden? Und warum sollte sich die von außen kommende Gewalt „als zerstörender Einfluß auf die Entwicklung des moralischen Gewissens“ beim Kind auswirken?

Geradezu skandalös empfinde ich aber, daß Kernberg das Geschehen gar nicht ernsthaft in seiner Wirkung als „brutaler Eingriff“ zu erfassen versucht, sondern das wesentliche Problem darin sieht, daß das Mädchen den sexuellen Mißbrauch „in typischer Weise“ „als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebe!

Dieses letztere Element war natürlich vollkommen unbewußt und mit schweren Schuldgefühlen verbunden, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen mußte, konnte sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewußten und jetzt bewußten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren.“ (ebd.)

Daß die Frau den sexuellen Verkehr mit den Freunden ihres Mannes über sich ergehen läßt, wird nicht etwa so verstanden, daß sie von klein an daran gewöhnt worden war, derartige Grenzverletzungen zu ertragen. Vielmehr wird dies so gedeutet, daß die Patientin zum Ausdruck bringe, daß sie Sühne leisten müsse dafür, als Kind den „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ als Sieg gefeiert zu haben („ödipale Schuld“)! Sie müsse „ihre Schuld tolerieren“ (!) – erst dadurch finde sie Heilung.

Die suggestive Behauptung, dass dieser „Triumph natürlich vollkommen unbewußt“ sei, soll dabei jeden Einwand der Betroffenen gegen das beharrliche Einreden dieser abstrusen und entwertenden Deutung aushebeln.

Der Gesamt-Tenor des Textes: die Eltern sind – bis auf einzelne Entgleisungen – lieb zu ihrem Kind. Das Kind hat jedoch bei der Aufgabe versagt, die liebevolle Beziehung zu den Eltern weiter aufrechtzuerhalten, in seiner moralischen Entwicklung auf dem richtigen Weg zu bleiben, oder das Rivalisieren mit einem Elternteil auf sexueller Ebene zu vermeiden. Für die Heilung sei es erforderlich, diese Schuld einzugestehen.

Es kommt sicherlich nicht von ungefähr, daß ein Mensch, der bereits in der Kindheit mehrfach massive Grenzverletzungen erlebt hat, auch noch eine solche psychotherapeutische Vergewaltigung über sich ergehen läßt. Daß die Betroffene mit einer solchen „Therapie“ langfristig „geheilt“ werden kann, halte ich für ausgeschlossen.

3. Fall

Im dritten Fall wird eine junge Frau vorgestellt, die als Kind vom Vater vergewaltigt wurde. Sie wird in einer Klinik wegen ihrer Depressionen behandelt. Geplagt von Selbstmordgedanken telefoniert sie mit ihrem Therapeuten und bittet ihn um Hilfe. Der besucht sie in ihrer Unterkunft. Dabei kommt es zu einem sexuellen Kontakt zwischen Klientin und Therapeut. Dies wird zum Auslöser für ihren Selbstmord. (Über die genaueren Hintergründe erhalten wir keine Aufklärung.) Einer Freundin der Patientin fällt deren Tagebuch in die Hände, in der die Affäre beschrieben ist. Die Freundin verklagt daraufhin den Therapeuten und Kernbergs Klinik (a.a.O., S. 11).

Kernberg schildert diesen Fall nicht etwa unter der Rubrik: „Schwere Therapeuten- Fehler“, sondern er handelt ihn ab im Rahmen des Kapitels: „Störungen und Gefährdungen der therapeutischen Beziehung durch typische Syndrome“ – und zwar auf Seiten der KlientInnen, wohlgemerkt!

Unter der Zwischenüberschrift „Transformation eines Opfers in einen Täter“ wird dargelegt (ich zitiere den vollständigen Text unter dieser Zwischenüberschrift):

Ein drittes Syndrom, das auch sehr häufig vorkommt, ist die Transformation des Opfers in einen Täter.

Der schwerste uns bekannte Fall ist eine Patientin mit einer antisozialen Persönlichkeit, die, nachdem ihr Vater sie sexuell mißbraucht hatte, unter den Folgen des Inzests an schweren Depressionen und Selbstmordversuchen litt und die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn unter Androhung von Selbstmord zu sich nach Hause, empfing ihn im Negligé und gab ihm zu verstehen, daß nur er sie retten könne – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzißtischen Problemen. Sie schrieb ein Tagebuch, beging Selbstmord, sandte zuvor das Tagebuch mit einer genauen Beschreibung des sexuellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten ihrer homosexuellen Freundin, die ein Gerichtsverfahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete.

Wir sehen hier, wie die Patientin noch im Tode Opfer und Täter zugleich wurde. Ein tragischer Fall, der aber nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich ist, wie man erwarten würde. Wir sehen hier eine leichtere Ausprägung der Problematik der zuvor geschilderten Patientin, die ohne Slip kam und in Wut geriet, weil ich mich als ihr Therapeut weigerte, mit ihr eine sexuelle Beziehung aufzunehmen.“ (ebd.)

Die mehrstufige Diffamierung der Patientin im Detail:

Vorab wird die Betroffene als „Täter“ etikettiert.

Es folgt der Hinweis, es handle sich um den „schwerste(n) uns bekannte(n) Fall“. Damit wird die Betroffene massiv pathologisiert. Am Ende – nur um ein paar Zeilen weiter – wird diesem „Fall“ dagegen attestiert, er sei „nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich …, wie man erwarten würde“. Dieser völlige Widerspruch unterstreicht nur die maßlose Verwirrung im Denken Kernbergs.

Der Patientin wird eine „antisoziale Persönlichkeit“ angedichtet, die nicht einmal durch die geringste Konkretisierung begründet würde. Im selben Atemzug wird geschildert, daß die Patientin ihren Therapeuten „verführte“. Die Verantwortung für diesen Akt wird damit allein ihr angelastet.

Der Therapeut, dessen Verhalten von der Klientin wohl als erneute Traumatisierung erlebt wurde, und der damit offensichtlich einen Anstoß für den Suizid gegeben hat, ist bereits a priori indirekt zum „Opfer“ der „Täterin“ erklärt worden. Verstärkt durch den Hinweis, daß er sich noch „in Ausbildung“ befunden habe und an „schweren narzißtischen Problemen“ leide, wird an die LeserInnen appelliert, ihm gegenüber Mitleid und Verständnis aufzubringen.

Dagegen wird die Freundin, die die tödliche Therapie nicht klaglos hinnimmt, sondern gegen Klinik und Therapeuten ein Gerichtsverfahren anstrebt, in eindeutig diskreditierender Absicht als „homosexuell“ gebrandmarkt.

So wird eine völlig verfehlte „Psychotherapie“ der Patientin selbst angelastet.

Therapie – aber wie!

Anhand des zweiten geschilderten Falles erläutert der Autor sein therapeutisches Vorgehen: das Opfer solle sich mit dem Täter „identifizieren“ – dann gehe es ihm besser. In direktem Anschluß an das Zitat zum „2. Fall“ wird formuliert:

Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden (was immer das heißen möge; K.S.). Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.“ (a.a.O., S. 13)

Welchen Wert sollte es haben, daß sich ein Opfer sexuellen Mißbrauchs mit der „sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters“ „identifiziert“? Und ist es nicht geradezu zynisch, bei einem Opfer von anscheinend chronischer Vergewaltigung ein Erfolgskriterium darin zu sehen, daß es beim Sex mit dem sadistischen Partner einen Orgasmus erlebt? Vorrangig hätte die Klientin zu lernen gehabt, sich vor wiederholter Traumatisierung zu schützen, sich gegen die gewalttätige Zudringlichkeit ihres Partners zur Wehr zu setzen!

Im Kapitel „Behandlungsstrategien …“ wird die Aufgabe des Therapeuten bei dieser Prozedur erläutert: da KlientInnen zu lernen haben, sich mit ihren Mißhandlern zu identifizieren, muß der Therapeut mit gutem Beispiel vorangehen:

Die Toleranz der Aggression des Täters (des Vergewaltigers usw.; K.S.), die auf uns (die TherapeutInnen; K.S.) projiziert wird, ist unerhört entscheidend für den Erfolg der Therapie, indem wir zum Täter werden können und wir uns als Täter identifizieren und es so dem Patienten erleichtern, sich selbst als Täter zu identifizieren.“ (ebd.)

Warum sollte die Lösung für die inneren (und äußeren) Konflikte der Betroffenen darin liegen, sich mit ihren jeweiligen Mißhandler zu „identifizieren“, also deren Aggressionen zu tolerieren, während sie nirgends dazu ermuntert werden, die eigenen Aggressionen zur Gegenwehr gegen die Gewalt zu mobilisieren?

Tatsächlich werden („wir“) TherapeutInnen konkret aufgefordert:

Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten.“ (a.a.O., S. 14)

Noch nie habe ich eine derartige Ungeheuerlichkeit gelesen! Tatsächlich verspüre ich bei der Lektüre dieser Zeilen eine gewisse Lust, Brandbomben in bestimmte Schreibstuben zu werfen, in denen derartige Widerwärtigkeiten produziert werden! Aber ich weigere mich beharrlich, mir das Tagewerk eines KZ-Kommandanten, Folterers oder Kinderschänders plastisch auszumalen, mich mit diesen Menschen und ihrer Tätigkeit zu „identifizieren“, und darin eine Aufgabe zur Schulung meiner therapeutischen Kompetenz zu sehen! Und ich will mir auch nicht aufschwätzen lassen, daß „wir alle“ „die Bereitschaft dafür haben“ – angeblich in unserem „Unbewußten“, dem unerschöpflichen Reservoir für derartige – dort nicht mehr bestreitbare – Unterstellungen!

Jeder Mensch besitzt wohl – zumindest im tiefsten Inneren – die Fähigkeit zu Aggression und Selbstbehauptung. Wenn ich danach gefragt wäre, könnte ich vermutlich im Ausmaß meiner Aggression so weit kommen, einem politisch motivierten „Tyrannenmord“, Blauhelm­einsätzen gegen Völkermörder, womöglich sogar der Todesstrafe gegen Menschen wie Eichmann oder Mengele (wenn dieser je verhaftet worden wäre) zuzustimmen. Dabei würde ich jedoch auch die Überzeugung behalten, daß vorausschauende „gewaltfreie“ Konfliktlösungsmodelle auf jeden Fall zu bevorzugen sind. Aber ich hoffe inständig, daß ich niemals – nie, nie, nie, nie, nie – eine derartige Verwirrung der Sinne erleide, daß ich mich mit dem Vergewaltiger eines Kindes oder dem feigen Folterer und Schlächter hilfloser und unschuldiger Gefangener „identifizieren“ könnte!

Kernberg krönt seine Ausführungen mit folgenden „technischen“ Hinweisen:

Es ist wichtig – ich zitiere da Freud in einem Brief von 1916 an Pfister – daß wir uns vor Mitleid schützen. Wie Sie wissen, ist Mitleid sublimierte Aggression. … Wir müssen daher versuchen … den Patienten, die uns fragen ‚Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?‘ zu erwidern: ‚Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?‘“ (ebd.)

Das macht mich wirklich fassungslos, das ist vollkommen paradox! Während wir dazu aufgefordert werden, daß wir uns in die Situation des KZ-Kommandanten hineinversetzen oder der Lust des vergewaltigenden Vaters nachspüren, wird uns gleichzeitig dringend davon abgeraten, uns in das Leid unserer KlientInnen einzufühlen!

Das empfohlene Vorgehen läuft letztlich darauf hinaus, die Betroffenen in der weiteren Duldung alter Verletzungsmuster, Entwertungen und Gewalttätigkeiten zu bestärken. Dies mag sogar – zumindest kurz- und mittelfristig – relativ leicht sein. Therapieerfolge bestehen dann letztlich darin, daß die Opfer gegenüber der weiteren Mißhandlung resignieren und sich in ihr Schicksal fügen. Da mag es wohl möglich sein, daß eine Klientin erstmals bei der sexuellen Quälerei durch ihren Gatten ihren Orgasmus erlebt. Zweifellos trägt also eine solche „Behandlung“ zu einer gewissen Entspannung bei – als würden bei einem Beinbruch zur „Therapie“ diejenigen Nervenbahnen durchtrennt, die den Schmerz weiterleiten.

Ansätze meines Therapiekonzeptes

Das Problem meiner KlientInnen habe ich, anders als Kernberg, noch nie darin gesehen, daß sie als Kinder die in ihnen selbst gründende Boshaftigkeit quasi bei ihrem erwachsenen Gegenüber provoziert hätten – „Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegenüber“ (a.a.O., S. 9) ‑, und daß sie – „unbewußt“ – von dieser „Schuld“ geplagt würden. Aber ich erlebe häufig, daß sich Menschen mit psychischen oder psychosomatischen Problemen andere Gefühle nicht bewußt machen können, diese Gefühle unter die Schwelle der bewußten Aufmerksamkeit verdrängen, z.B. ihre völlig angemessene Aggression gegen Gewalt oder ihre Enttäuschung über fortwährende Entwertungen in Vergangenheit und Gegenwart.

Den zentralen Mechanismus dabei sehe ich (in Anlehnung an z.B. Sachsse, 1994, und Linehan, 1996) so: Kinder haben eine panische Angst vor dem Alleinsein, denn sie sind dann – auf längere Sicht – ganz real ziemlich hilflos und bedroht. Je kleiner sie sind, desto berechtigter und massiver ist ihre Angst. Es besteht damit eine plausible Tendenz bei Kindern, den Kontakt zu erwachsenen Bezugspersonen bedingungslos aufrecht zu erhalten. Wenn sie erleben, daß ihr elementares Kontaktbedürfnis in verletzender und mißachtender Art und Weise erfüllt wird, so ist dies für sie besser als nichts. Sie müssen ihre angemessenen Gefühle dieser Behandlung gegenüber – Wut, Ärger, Enttäuschung – beiseite schieben. Denn ein Zulassen dieser Selbstbehauptung bewirkt ja womöglich ein erneutes Abwenden der Bezugsperson, führt also erneut zu Verlassenheit und Panik.

Das Kind lernt in dieser Situation zweierlei: einerseits wird es die gewaltsame Behandlung als Entspannung erleben – weil die Mißhandlung das unerträgliche Alleinsein beendet. Andererseits wird das Kind lernen, die Gefühle von Gegenwehr zu vermeiden oder zu unterdrücken – die Abspaltung des Bedürfnisses nach Selbstbehauptung wird dadurch belohnt, daß die unerträgliche Angst vor einem erneuten Kontakt- und Zuwendungsverlust verringert wird. Im Laufe der Zeit wird die Ausblendung oder Abspaltung der berechtigten Selbstbehauptung immer schneller und nachhaltiger auftreten. Diese Kinder gelten nun als besonders „brav“. Sie weinen nicht mehr, wenn sie geprügelt werden und lassen Unerträgliches klaglos mit sich geschehen.

Es ist m.E. die zentrale Aufgabe einer Therapie, diese Konditionierung aufzuheben, nach und nach bei den nun erwachsenen – und damit nicht mehr real hilflosen – Betroffenen die Gefühle von Trauer, Wut, Enttäuschung, aber auch gegen die Bedrängnis gerichtete Aggression und Selbstbehauptung zu beleben. Eine zentrale Voraussetzung dafür, daß dies gelingt, ist das minutiöse Einfühlen in die Situation und das ausdrückliche Bestätigen der Wahrnehmungen der KlientInnen. Marsha Linehan hat hierfür den wunderbaren Begriff der „emotionalen Validierung“ geprägt. Auf dieser Grundlage kann gerade auch die gegenwärtig bestehende Bedrängnis aktiv bewältigt werden.

Daneben ist es natürlich überaus wichtig, Interesse, Lust und Spaß wieder in sich zu entdecken und zu lernen, dies in entsprechende Handlungen umzusetzen!

Mitleid zu haben bedeutet in diesem Rahmen – nach dem Motto: geteiltes Leid ist halbes Leid -, daß ich mich in die Situation der „PatientInnen“ (von lat. patiens = leidend, duldend) einfühle, meine Anteilnahme signalisiere, ohne mich dabei von dem Leid überwältigen und mitreißen zu lassen. Das Einfühlen in die PatientInnen bildet die Basis, auf der ich deren gesunde Selbstbehauptung stärke. So verkommt Mitleid nicht zur herablassenden Geste, zur „sublimierten Aggression“, sondern es zeigt sich darin ein wesentlicher Aspekt von Beziehung überhaupt. Die Erfahrung dieser Grundqualität von Beziehung kann den Betroffenen die Möglichkeit geben, lang Versäumtes nachzuholen, korrigierende emotionale und soziale Erfahrungen zu sammeln, auf diese Art wieder Vertrauen in sich selbst und andere aufzubauen, zu spüren, welche Formen von Kontakt ihnen eigentlich gut tun.

Daß unter dem Deckmantel des Mitleids auch eine eher gegenteilige Emotion zum Ausdruck kommen kann – nämlich entwertende Bevormundung – das gestehe ich zu. Aber dieses Faktum führt zu einem wichtigen Dilemma: ich bin überzeugt, daß sich gegenüber jeder „wahren“ Behauptung eine völlig entgegengesetzte Position beziehen läßt, in der auch ein mehr oder weniger großer Anteil an Wahrheit vorhanden ist. Das zwingt von Situation zu Situation zu der Entscheidung, welche Bedeutung jeweils zum Tragen kommt. Natürlich kann „Mitleid“ auch „Herablassung“, „sublimierte Aggression“ bedeuten. Aber es kommt darauf an, wie es zum Ausdruck gebracht wird. Normalerweise wird es wohl Einfühlung, Verständnis, emotionale Wärme und Zuwendung meinen – und nichts anderes.

Wenn TherapeutInnen – sobald es Ihnen ins Konzept paßt – bei beliebigen Lebensäußerungen eine „Verkehrung ins Gegenteil“ behaupten – Mitleid sei Aggression, Widerspruch meine Zustimmung, Zuneigung zeige Abneigung, Nein bedeute Ja -, dann liegt darin eine unerträgliche Form der Besserwisserei, die PatientInnen bloß verwirrt und im Grunde jede Kommunikation unmöglich macht.

Für eine erfolgreiche Therapie erscheint mir erforderlich, die „Wahrheit“ der Lebens- und Lerngeschichte der KlientInnen möglichst klar zu rekonstruieren. Damit soll einer von mehreren festen Standpunkten für die Wieder­an­eig­nung der verdrängten oder abgespaltenen Gefühle geschaffen werden. Die Debatte über ein fehlerhaftes Gedächtnis macht deutlich, daß diese Rekonstruktion ihre Tücken haben kann. Womöglich wird man in manchen Punkten auf ungewisse Spekulationen angewiesen bleiben, wird ein Rest von Unsicherheit über „erinnertes“ oder „empfundenes“ früheres Geschehen niemals auszuschließen sein. An die an sich triviale Feststellung, daß man allein aus einer Gesprächssituation heraus die Frage der historischen Wahrheit nicht zweifelsfrei beantworten kann, lassen sich dabei sehr unterschiedliche Positionen anschließen:
a) „Wir werden hier die historische Wahrheit nicht rekonstruieren können. Also lassen wir es sein. Bilden Sie sich doch Ihre eigene Meinung.“, oder aber
b) „Das, was geschehen ist, hat Ihr Leben entscheidend geprägt; wir werden uns gemeinsam bemühen, es möglichst realitätsgerecht zu rekonstruieren, damit Sie sich diesbezüglich Ihrer Gefühle sicherer sein können.“

Sophokles hätte dazu wohl eine klare Position bezogen (1995, V 110 f):
Was man erforscht, das läßt sich fangen, doch es entrinnt, was man versäumt.

Mutmaßungen über den Autor

Fällt Ihnen bei den drei zitierten Fallgeschichten nicht auch ins Auge, daß Kernberg es anscheinend vollkommen ausblenden muß, sich über die Handlung der Täter – des KZ-Kom­man­­dan­ten, des Vaters bzw. Partners, des „Therapeuten“ – Gedanken zu machen? Es bleibt zwar diffus spürbar, daß es irgendwie nicht in Ordnung ist, vor den Augen eines Kindes dessen ganze Familie umzubringen, die eigene Tochter zu vergewaltigen oder KlientInnen zu verführen und damit in den Suizid zu treiben, aber im Vordergrund steht allein die Kritik am Verhalten der Opfer! Und die „Therapie“ läuft darauf hinaus, daß das Opfer – gegen jede Vernunft – die eigene „Schuld“ selbst einzugestehen habe. Der Autor scheint also darauf getrimmt zu sein, unter allen Umständen die eigentlichen Gewalttäter aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld zu entlasten!

Wie kann es bei einem Menschen in der Wahrnehmung von Konflikten zu einer solch geradezu gewaltsamen Ausblendung der Täterseite kommen? Wie kann jemand die Entschuldung von Tätern zu einer allgemeinen Theorie erheben wollen? Würden Sie als geschulte PsychotherapeutInnen nicht auch vermuten, daß mit dieser idealisierenden Verkehrung der Wirklichkeit womöglich eigene Leidenserfahrungen kompensiert werden sollen? Spüren Sie nicht auch dahinter den Ausdruck einer kindlich-hilflosen Kapitulation gegenüber einem erdrückenden sozialen Umfeld?

Ich fühle mich hier an die Erzählungen von PatientInnen erinnert, die als Kinder wegen irgendeiner Kleinigkeit von einem Elternteil massiv geschlagen oder anderweitig bestraft worden sind, und dabei zu hören bekommen haben: „Wie kannst du nur so böse (gierig, schlimm) sein? Mußt du mir immer so viel Ärger (Arbeit) machen?“

Eine solche Erfahrung muß eine starke Verwirrung in einem Kind auslösen. Es kann in einer solchen Situation sehr deutlich spüren, daß es selbst eigentlich das Opfer ist, obwohl es massiven Druck erfährt, sich selbst als Täter zu bekennen. Die eigentliche Täterschaft des Elternteils (oder sonstigen Erwachsenen), der sich als Opfer ausgibt, ist ebenso zu spüren. Erpressung durch radikalen Entzug von Zuwendung kann hinzu kommen: „Bevor du dich nicht für dein Verhalten entschuldigst, rede ich kein einziges Wort mehr mit dir!“ Die Verkehrung der Tatsachen ist damit perfekt. Wiederholt sich eine solche Prozedur, kann ein Kind über kurz oder lang resignieren und immer leichter – wie im Reflex – die verinnerlichte, verkehrende Selbstbeschuldigung zum Ausdruck bringen.

In einem solch verrückten Erziehungssystem ist natürlich Mitleid mit dem Opfer tabu. „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!“ – und in der Umkehrung: „Wenn ich Mitleid mit dir hätte, anstatt dich zu bestrafen, dann läge mir ja dein Wohlergehen nicht am Herzen! Ich würde mich ja damit an dir versündigen!“ Ingmar Bergmann z.B. hat in „Fanny und Alexander“ diesen erzieherischen Sadismus sehr beklemmend dargestellt.

Den Täter zu idealisieren und zu entschulden, während das leidtragende Opfer an den Pranger gestellt wird („blaming the victim“), kann von einem früher selbst Betroffenen mit zunehmendem Alter dann in der umgekehrten Rolle neu inszeniert werden. Die unerträgliche Angst, noch einmal selbst Opfer einer solchen Behandlung zu werden, läßt sich durch die aktive Übernahme der Täterrolle besser kontrollieren. Als „Therapeut“ wird den KlientInnen eingeredet, daß sie selbst an ihrem Unglück schuld seien.

Natürlich vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen, was Herrn Kernberg dazu gebracht hat, so nachhaltig eine Einstellung zu vertreten, die das eigentliche Opfer zum Gegenstand von Vorhaltungen macht. Da diese Tendenz aber so massiv in dem Text zu Tage tritt, halte ich es für plausibel, dahinter eine Prägung aus einer eigenen (frühen) massiven Leidenserfahrung des Autors zu vermuten.

[Nachtrag 2010: In einer neueren Publikation von Kernberg („WIR – Psychotherapeuten über sich und ihren ‚unmöglichen’ Beruf.“ Schattauer, 2006, S. 251 f) gibt Kernberg an, ein Onkel von ihm, ein Dr. Sackel, habe die Insulinschock-„Therapie“ bei Schizophrenie „erfunden“. Der rücksichts- und mitleidlose, brutale Umgang mit Säuglingen, Kranken und Schwachen scheint also in dieser Familie irgendwie verbreitet und geradezu systematisiert gewesen zu sein.]

Mit der so offenkundigen Verkehrung der Wirklichkeit müsste der Autor geradezu vehementen Widerspruch provozieren. Verbindet er mit seiner Argumentation womöglich unterschwellig den Wunsch, dass es Menschen gibt, die sich durch derartige Verdrehungen nicht beeindrucken lassen? Hofft er vielleicht (unbewußt), dadurch einmal Modelle für die Bewältigung derartiger Wahrheitsverdrehungen – der unbewältigten eigenen Leidensgeschichte – zu finden?

Abschlußbemerkung

Sie konnten hoffentlich nachvollziehen, worin ich in dem kritisierten Text eine „Verkehrung“ der Wirklichkeit sehe, und warum ich es für nötig halte, dem vehement zu widersprechen. Auch wenn ich überzeugt bin, daß hier eine sehr persönliche Leidensgeschichte Kernbergs bei der Formulierung seiner Theorie Pate gestanden hat, mag ich seiner theoretischen Position nicht die heftige Kritik ersparen. Psychotherapeutisches Heilen ist zu wichtig, als daß es durch derartige Verdrehungen der Wirklichkeit in Mißkredit gebracht werden dürfte!

Möglicherweise bietet der Autor selbst ein gutes Beispiel dafür, daß eine Form der krankhaften Kompensation des eigenen Schicksals darin bestehen kann, die früher selbst schmerzhaft am eigene Leib erlebten Tätereigenschaften blind zu übernehmen. Die gegenteilige – ebenso krankhafte – Reaktion besteht im Verharren in der Opferrolle.

Zur Therapie für diese beiden Formen der Verarbeitung plädiere ich – in vehementer Abgrenzung zu der kritisierten Position – für eine Haltung der klaren Parteilichkeit für unsere KlientInnen, für ein Bemühen, mit den Betroffenen zusammen ihre Lebensgeschichte möglichst wahrheitsgetreu zu rekonstruieren. Die früh abgespaltenen Gefühle von Schmerzempfindung bzw. Selbstbehauptung müssen wieder belebt werden. Auf dieser Basis kann ein Verfall in blinde Täterschaft vermieden bzw. eine Gegenwehr gegen erneute Mißhandlung gestärkt werden.

Literatur:

Kernberg, Otto F. (1999): Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), Jg. 3, Heft 1, S. 5-15

Linehan, Marsha (1996): Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München

Sachsse, Ullrich (1994): Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik – Psychotherapie. Göttingen u.a.

Schlagmann, Klaus (1997): Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: die Lüge der Iokaste. Saarbrücken

Sophokles (1995): König Ödipus. Übersetzung und Anmerkungen von Dr. Kurt Steinmann, Stuttgart

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