Bertha Pappenheim

 

(27.02.1859 – 28.05.1936)

… und ihre Behandlung durch Josef Breuer

Biografisches zu Bertha Pappenheim

Josef Breuer ist im Zeitraum von November 1880 bis Juni 1881 maßgeblich für die Behandlung von Bertha Pappenheim zuständig. Für eine tiefergehende Rekonstruktion seiner Sichtweise dieses Falles ist es unerlässlich, die in den Studien über Hysterie (1895) unter dem Pseudonym „Anna O.“ aus Diskretionsgründen wohl weniger detailreich publizierte Krankengeschichte durch die Ausführungen zu ergänzen, die er 1882 an den weiterbehandelnde Klinik in Kreuzlingen übermittelt hatte (348 ff.). Daneben hat Albrecht Hirschmüller etliche biografische Daten recherchiert.

Bertha Pappenheim wurde am 27.02.1859 als Kind sehr wohlhabender Eltern geboren. Die Eltern hatten 1848 geheiratet. Von den drei Geschwistern – Henriette (+10), Flora (+7) und Wilhelm (-1) – stirbt Flora bereits im Alter von zwei Jahren, fünf Jahre vor Berthas Geburt. Henriette stirbt in ihrem achtzehnten Lebensjahr an der „galoppierenden Schwindsucht“ (136) – als Bertha acht Jahre alt ist. Der einzige Sohn des Hauses hat an­schei­nend eine gewisse Sonderstellung inne. Ein Cousin, Fritz Homberger, schreibt über ihn am 23.07.1882 (372): „derselbe glaubte näm­lich häufig, sie [Bertha] beherrschen zu dürfen, und hat sie oft durch rücksichtsloses Benehmen gereizt.

Berthas Vater (+35) ist offenbar ein sehr religiöser Mensch. Ein Bruder des Vaters „gehörte zu den Gründern … einer Synagoge mit streng orthodoxem Ritus“ (135). Dem Vater zuliebe hält sich Bertha streng an die religiösen Vorschriften, denen sie selbst befremdet gegenübersteht. Die jüdische Religion verlangt beispielsweise die Unter­wei­sung der Mädchen in genauen Küchenvorschriften (Speisegesetze, entsprechende Re­zep­te), ebenso die besondere Beachtung der Menstruationshygiene.

Die Mutter (+29) wird als „tyrannisch“ und als „sehr ernst“ geschildert; die Lustigkeit ihrer Tochter habe ihr nicht behagt. Fritz Homberger kommentiert im Zusammenhang mit seiner Schilderung der Mutter-Tochter-Beziehung (372): „Bertha [weiß] recht gut, wie verfehlt ihre Erziehung gewesen ist.“ In einem Brief an den leitenden Arzt des Sanatoriums in Kreuzlingen, in dem sich die 23jährige Tochter aufhält, mahnt die Mutter an (375): „Ob der Ablauf der Periode diese Woche pünktlich war, haben Sie nicht erwähnt!?“ – woraus ein geradezu zwanghaftes Bedürfnis spricht, die eigene Tochter lückenlos zu kontrollieren.

Breuer attestiert der jungen Frau einen glänzenden Intellekt („Intelligenz bedeutend; ausgezeichnetes Gedächtniß, erstaunlich scharfsinnige Combination und scharfsichtige Intuition“; 348), dass sie stärkere intellektuelle Herausforderungen nicht nur vertragen, sondern geradezu brauchen würde. Sie wird jedoch ab ihrem sechzehnten Lebensjahr vor allem auf häusliche Dienste und stupide Geselligkeiten eingeengt. In späteren Jahren bedauert sie, dass sie an einem Mangel an „realistischer Bildung“ leide, und polemisiert heftig gegen das Leben einer Tochter aus höherem Stande (137). Während sie selbst in ihrer geistigen Entwicklung gebremst wird, stehen ihrem um ein Jahr jün­ge­ren Bruder alle Wege offen. Dieser darf sich auch der Schwester ge­gen­über ungestraft tyrannisch und gewalttätig verhalten. Eigene Aggressionen muss Bertha als junge Frau generell unterdrücken. Ebenso verlangt ihre Erziehung wohl, erotische Wünsche zu verdrängen. Zeitweilig ist ihre Tätigkeit in starkem Maß auf die Pflege ihres schwer erkrankten Vaters beschränkt. Vor allem in dieser Zeit wird ihr die Lust an Theater, Tanz und Spaß systematisch verdorben.

Berthas Symptome

Die Liste von Berthas Symptomen, die sie im Laufe des Jahres 1880 entwickelt, die Breuer teilweise aus der Rückschau rekonstruiert, ist beachtlich:

Zunächst tauchen im Frühjahr 1880 – also ungefähr zu Berthas 21. Geburtstag – un­ge­klärte Ge­sichtsschmerzen mit Zuckungen auf (349 f.) (ein „Schlag ins Gesicht“?). Da Breuer dies im Zusammenhang mit der Krankengeschichte erwähnt, mag er auch hierin mit aller Vorsicht eine hysterische = psychosomatische Symptomatik ­sehen. Er konstatiert, dass die entsprechende Störung „ohne bekannte Ursache“ sei.

In einer angespannten Situation – als sie in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1880 beim Vater voller Angst Wache hält, an dem ein dringender medizinischer Eingriff vorgenommen werden soll – halluziniert sie im Halbschlaf („Absence“) eine Schlange, die sie abwehren möchte. Ihr eingeschlafener Arm (Drucklähmung) versagt seinen Dienst. Seither lösen Angst oder schlangenähnliche Gebilde Lähmungen des Armes aus.

In ebendieser Situation ist sie stumm vor Schreck, dann fällt ihr erst mühsam ein englischer Spruch ein. In angespannten Situationen kann sie nun oft nur noch Englisch reden oder verstehen.

Als sie am nächsten Tag angestrengt lauscht, ob sie den Doktor kommen hört, gerät sie erneut in eine Absence und bemerkt nicht, wie er das Zimmer betritt. Seither löst ängstliches Horchen Taubheit aus.

An Stelle des Vaters wird eventuell ein Totenkopf oder ein Skelett gesehen. Gehörs­halluzinationen treten auf, dass der Vater etwas sagt oder ruft, nachdem sie den Vater einmal überhört hatte. Seitdem tritt häufiger Nicht-Erkennen und Nicht-Verstehen von Menschen auf.

Bisweilen werden einzelne Gegenstände sehr groß und undeutlich gesehen. Dieses Symptom geht hervor aus einer Situation, in der Tränen das Gesehene deformieren: Sie soll eigentlich zu Hause den Vater pflegen, geht jedoch trotzdem ins Theater; in dem Pro­gramm­heft, das sie dort liest, sind einzelne Stellen durch die Tränen im Auge vergrößert, so dass das Lesen erschwert ist.

Weitere Sehstörungen treten auf: Einwärtsschielen mit Doppelbildern. Gemeinsames Ab­weichen beider Augen nach rechts, so dass die Hand immer links daneben greift. Gesichtsfeldeinschränkung, dass beispielsweise nur einzelne Blumen aus einem Strauß, einzelne Stellen in einem Gesicht gesehen werden können.

Ein Stimmritzenkrampf besteht nach unterdrückter Widerrede in einem Streit, danach wiederholt in ähnli­chen Situationen.

Zeitweilige Streck-Kontraktur (Gelenkversteifung) des rechten Armes und des rechten Beines – der Anlass sei Breuer nicht mehr er­innerlich.

Husten setzt ein, nachdem bei der Krankenwache Musik von draußen gehört wurde. Die leidenschaftliche Tänzerin wäre gerne auf der Veranstaltung, macht sich dann aber selbst Vorwürfe wegen dieses Wunsches. Dann tritt Husten wiederholt bei stark rhythmischer Musik auf.

Einmal lauscht sie nachts an der Tür des Vaters, ob sie ein Lebenszeichen von ihm vernimmt. Ihr Bruder überrascht sie und schüttelt sie heftig, worauf Taubheit eintritt. Danach lösen auch andere Formen von Geschüttelt-Werden (beispielsweise bei einer Kutsch­fahrt) Taubheit aus.

Sie sieht einmal den Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Glas trinken, wovor sie sich ekelt. Sie unterdrückt einen Kommentar, um nicht grob zu werden. In der Folge bringt sie – in der heißesten Zeit des Jahres – keinen Tropfen Wasser mehr über die Lippen, sondern stillt den Durst sechs Wochen lang nur durch saftiges Obst. (Von dieser Situation herrührend ist die Vorstellung des Trinkens offenbar mit einem starken Ekelgefühl verbunden.)

Zu den Symptomen bemerkt Breuer: „All diese Dinge wiederholten sich einzeln, immer häufiger, aber immer noch vorübergehend und immer vor allen anderen Menschen vollständig verborgen“ (352).

Ende November 1880 wird Breuer wegen des Hustens erstmals konsultiert. Im Dezember 1880 fällt das Schielen auf. Der Patientin wird ab dem 11. Dezember Bettruhe verordnet. Daraufhin brechen einzelne Störungen deutlicher hervor, andere treten erst­mals auf:

Linksseitiger Hinterkopfschmerz, Schielen.

Sie sieht Wände auf sich einstürzen, sonstige Sehstörungen.

Lähmung des vorderen Halsmuskels, so dass der Kopf nur mit dem ganzen Rumpf bewegt werden kann.

Gelenkunbeweglichkeit und Schmerzunempfindlichkeit von rechtem Arm und Bein – Streckung, Bewegungsunfähigkeit, Drehung nach innen –, gleiche Erscheinung später am linken Bein und am linken Arm, wobei links die Finger beweglich bleiben.

Rapidester Stimmungswechsel in Extremen – Heiterkeit (selten), Angst­ge­fühl, Sehnsucht nach dem Vater, Opposition gegen (gefürchtete) thera­peutische Maßnahmen.

Halluzination von Schlangen aus Haaren, Schnüren oder ähnlichem.

Ungezo­genheiten“: Werfen von Polstern auf ihre Umgebung, Abreißen ihrer Knöpfe, Schimpfen.

Dazwischen klare Zeiten, Klagen über zwei Ichs: In dem einen Zustand ist sie trau­rig, launisch, aber relativ normal, im anderen Zustand halluzinierend, un­gezogen. Hat sich während des Wechsels von dem normalen Zustand in den anderen etwas im Zimmer verändert, so klagt sie, dass ihr die Zeit fehle, dass eine Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellung bestehe. Dies wird ihr, wenn möglich, von ihrem Umfeld abgeleugnet. Ihre Klagen, sie werde ver­rückt, versucht man zu beruhigen. (Absencen wurden erstmals beobachtet, als sie, noch außer Bett, mitten im Sprechen stecken bleibt, die letzten Worte wiederholt, um nach kurzer Zeit wieder fortzufahren.)

Es fehlen ihr Worte. Typische grammatikalische Veränderung von Patienten mit Sprachstörungen (Aphasikern) treten auf.

Das Ge­kränkt-Sein durch den Vater (Ursache unklar) führt zu dem Entschluss, nicht mehr nach ihm zu fragen – in dieser Zeit bestehen zwei Wochen lang völlige Sprachlosigkeit. Breuer schreibt, er habe Bertha „gezwungen“ (354; mittels Hypnose?), von ihm zu sprechen. Daraufhin kehrt die Sprache wieder, aber nur Englisch.

Sie zeigt Ekel vor dem Essen, nachdem Appetitlo­sigkeit aufgrund von Angstgefühlen eingetreten war. Das Essen reduziert sie auf ein Minimum.

Nachmittags tritt ein schläfriger Zustand auf. Abends klagt sie dann: „Quälen, quä­len“. Durch Wiederholung eines Stichwortes durch Breuer, das sie tagsüber selbst hatte fallen lassen (zum Beispiel „Sandwüste“), wird dann von ihr eine Ge­schichte erzählt, die ersten Sätze noch in ihrem aphasischen Jargon, im weiteren Verlauf immer besser, bis sie schließlich ganz korrekt spricht. Die Geschichten sind alle tragisch, teilweise sehr hübsch, drehen sich meist um ein Mädchen, das in Angst bei einem Kranken sitzt. Aber auch ganz andere Geschichten kommen vor. Kurz nach dem Ende der Geschichte erwacht sie und ist „gehäglich“ (behaglich), gut aufgelegt, bis sie gegen morgen, nach zwei Stunden Schlaf, in einem anderen Vorstellungskreis gefangen ist. Ist das Geschichten-Erzählen einmal nicht möglich, fehlt die Beru­higung, und am nächsten Abend müssen mehr Geschichten erzählt werden.

In dieser Zeit ist das „Beobachterhirn“ der Patientin bei allem anwesend.

Die Erscheinungen gehen bis März 1881 deutlich zurück: Die Sprachlosigkeit weicht, wobei sie vor allem Englisch redet. Abends spricht sie Fran­zösisch oder Italienisch. Für alles in Englisch Gesprochene besteht keine Er­innerung. Die Kontrakturen schwinden, das Schielen nimmt ab. Der Kopf wird wieder getragen. Am 1. April kann sie aufstehen.

Breuers Störungsmodell

Breuer erkennt einfühlsam in Berthas Lebenssituation permanente Einengungen, Unterdrückungen, Missachtungen und Entwertungen – Traumatisierung in unterschiedlichen Graden. Diese führen bei ihr zu nachhaltiger Verwirrung und innerer Anspannung. Sie wird hin und her gerissen zwischen den einerseits in sich verspürten gesunden Impulsen nach Bildung, Selbstbehauptung, Lebensfreude und Offenheit beziehungsweise Gegenwehr gegen ihre Unterdrückung und Entwertung, und den andererseits an sie gerichteten Erwartungen, sich wie eine wohl erzogene junge Frau jüdischen Glaubens zu benehmen. In diesen Momenten unerträglichen inneren Zwiespalts gewöhnt sie sich an, Tagträume zu entwickeln, ihr „Privattheater“ aufzusuchen, wie sie es nennt – also gewissermaßen geistig die Flucht anzutreten. Es ist eine Art Trance-Zustand, von Breuer auch Hypnoid-Zustand genannt, weil mit der Situation einer hypnotisierten Person vergleichbar. In Trance lassen sich die realen, kränkenden Szenen ausblenden – so, wie sich unter Hypnose zum Beispiel Schmerzen bei einer Zahnbehandlung kontrollieren lassen. Allerdings ergibt sich aus dieser Trance eventuell auch ein Problem: Seelische oder körperliche Symptome, die in solchen Situationen auftreten, bleiben mit einzelnen Elementen der Situation hartnäckig verbunden. Wenn Bertha durch entsprechende Hinweisreize an die problematische Situation erinnert wird, treten dann auch automatisch – wie im Reflex – die entsprechenden Symptome wieder auf. Breuer meinte, dass die Symptome eine Möglichkeit schaffen, die Spannung abzuführen, die in der real kränkenden Situation entsteht. Bei einem Hinweisreiz auf die Ursprungssituation wird statt des eigentlichen spannungsvollen Gefühls, das, quasi unausgelebt, mit der emotional bewegenden Situation verbunden bleibt, die konditionierte psychische beziehungsweise psychosomatische Reaktionsweise ausgelöst.

Breuer beschreibt hier im Grunde einen Mechanismus, den später Iwan Petrowitsch Pawlow an Hunden beobachtet und als ‚klassisches Konditionieren’ bekannt gemacht hat. Womöglich ist Pawlow, der einige Zeit an der deutschen Universität von Breslau studiert hat, sogar mit von Breuers Überlegungen inspiriert; ich habe jedoch keine Stelle gefunden, an der er Breuer zitiert hätte.

In bestimmten Punkten dürfte sich Iwan Pawlow von Josef Breuer deutlich distanziert haben wollen: Breuer berichtet, er habe es bei Hysterikerinnen vor allem mit besonders feinfühligen und intelligenten jungen Frauen zu tun, während Pawlow davon ausgeht, dass ‚Hysterie‘ ein Anzeichen für eine Gehirnschwäche darstelle. Breuer macht sich auch fast ein wenig lustig über pseudoobjektive Formulierungen, die beispielsweise aus „Vorstellungen“ „Rindenerregungen“ machen, was Herrn Pawlow wiederum ziemlich geärgert haben dürfte, der sich gerade um eine solche objektivierende Sprache bemüht hatte.

Bertha Pappenheim entwickelt selbst den Ansatz zu ihrer Heilung, als sie sich teilweise mit ursprünglich symptomauslösenden Situationen erneut konfrontiert (Breuer & Freud, 1991, S. 57 f & S. 60). Sie führt also gewissermaßen eine „Konfrontation in vivo“ durch, um konditionierte Verbindungen zu lösen. Außerdem entlastet sie sich durch das Erzählen von Märchen. Es stellt Josef Breuers herausragendes Verdienst dar, durch einfühlsames Beobachten die heilsame Wirkung dieser Maßnahme erkannt und sie durch sein aufmerksames Zuhören gefördert zu haben. Die Erzählungen schaffen offenbar ein Ventil, um die Affekte zum Ausdruck zu bringen, die sie einerseits als übergewaltig empfindet, die sie andererseits als ‚gut erzogenes Mädchen’ nicht unbefangen aussprechen kann. Vergleichbar ist dieser Mechanismus mit einem Dampfkochtopf, der sich problemlos öffnen lässt, wenn durch ein Ventil der Druck kontrolliert abgelassen worden ist. Nach einer ersten Reduktion ihrer inneren Spannung gelingt es Bertha, die zugrundeliegenden Situationen zu berichten – dass ihr Bruder sie geschüttelt hatte, dass der Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Wasserglas getrunken hatte, dass sie eine vermeintliche Schlange am Bett des Vaters gesehen hatte, usw. Sie kann nun unbefangener ihre eigentlichen Gefühle bezüglich dieser Situationen – Ärger, Ekel, Wut, Abneigung, Angst – zum Ausdruck bringen. Daraufhin verschwinden offenbar die entsprechenden Symptome – die Taubheit, der unüberwindliche Ekel gegen Getränke, die Lähmung. Zum Teil wird wohl von Breuer gezielt Hypnose eingesetzt, um die Erinnerung an die dem Symptom jeweils zugrunde liegende reale Situation zu beleben und sie damit bearbeiten zu können. Bertha selbst nennt diese Art der Behandlung „talking cure“. Das Heilungsprinzip, das dabei wirksam wurde, nennt Breuer „Katharsis“.

Schon die alten Griechen hatten um die therapeutische Wirkung des Erzählens gewusst. Aristoteles, Sohn eines Arztes, der selbst eine Zeitlang diesen Beruf praktiziert hatte, hatte in seinen Überlegungen zur Wirkung des Tragödien-Spiels auf das Publikum den Begriff der „Katharsis“ geprägt. Jacob Bernays, ein Onkel von Freuds Gattin Martha, hatte erst im Jahre 1857 in einer Aufsehen erregenden Abhandlung frühere Übersetzungen dieses Begriffes durch Lessing und Goethe als unzutreffend zurückgewiesen. Er hatte „Katharsis“ – abgeleitet aus dem medizinischen Sprachgebrauch – als einen Vorgang verstanden, bei dem bei einem „Beklommenen“ durch das „Hervortreiben“ entsprechender Gefühle eine „Erleichterung“ bewirkt werden sollte, nicht etwa durch ein „Verwandeln“ oder „Zurückdrängen“ dieser Emotionen (Bernays, 1857/1968, 16). Aristoteles, der also das Ausleben von Gefühlen als heilsam erachtet, steht mit seiner Sicht in scharfem Gegensatz zu anderen philosophischen Richtungen, beispielsweise der Stoa, die die Gefühle durch die Vernunft kontrolliert sehen möchte. (Seneca ist ein typischer Vertreter dieser Philosophie.)

Die von Bertha Pappenheim und Josef Breuer entwickelte Methode der Heilung weist eine große Übereinstimmung mit dem Drama von Sophokles auf: Die Verstrickung des Kindes in die familiären und gesellschaftlichen Konflikte seines sozialen Umfeldes führt zu der rätselhaften Seuche (Hysterie). Zur Heilung müssen die verleugneten Wahrheiten ausgesprochen, die realen Traumatisierungen aufgedec­kt und die damit verbundenen Gefühle offen zum Ausdruck gebracht werden, damit der Mensch auf diese Weise zu seiner eigentlichen Identität, zu einem gesunden Selbst-Bewusstsein zurückfindet. So, wie durch eine solche ‚Analyse’ die Heilung des thebanischen Gemeinwesens gelungen ist, so ist dadurch auch die Heilung Bertha Pappenheims möglich geworden.

Gerade in neueren Ansätzen zur psychotherapeutischen Behandlung von schweren Störungen (bei der geschilderten Problematik von Bertha Pappenheim würde man heute von einer ‚dissoziativen Störung’ sprechen) wird die zentrale Bedeutung der Gefühle betont. Die Bestätigung (Validierung) der Betroffenen in ihren eigenen und eigentlichen Gefühlen, die in deren Kindheit von Erziehungspersonen als unpassend abgesprochen und entwertet worden sind, ist ein zentrales Ziel der Behandlung (beispielsweise im Konzept der dialektisch-behavioralen Therapie Marsha Linehans).

Innerhalb von weniger als vier Monaten hat Josef Breuer durch sein einfühlsames und geduldiges Zuhören, durch die damit verbundene Validierung der Erzählerin, bereits eine wesentliche Besserung der massiven Krankheitserscheinungen seiner Patientin herbeigeführt. Aber dieser Erfolg wird dann rasch durch die Ereignisse beim Tod des Vaters zunichte gemacht.

Im Arztbericht von 1882 erläutert Breuer detailliert diese Umstände, von denen er allerdings 13 Jahre später in den Studien (wohl aus Gründen der Diskretion) keine Silbe erwähnt (355 f.): „Am 5. April starb ihr Vater. … das Angstgefühl für ihn [war] immer gewachsen und nur in den letzten Wochen beruhigt; man log sie immer an. Am 5. mag sie aus vielem äußerlichen entnommen haben, daß etwas vorgehe. Sicher ist, daß sie im Augenblike, wo ihr Vater starb, ent­setzt nach der Mutter rief und sie beschwor, ihr die Wahrheit zu sa­gen. Beschwichtigt, versuchte sie die Wahrheit zu erfahren, indem sie zu essen verlangte und dem Vater zu schreiben versuchte in der Mei­nung, wenn er wirklich todt sei, würde man sie beides nicht thun lassen; wenn aber doch, wenn man sie dem Todten schreiben lasse und essen lasse, während eben ihr Vater gestorben sei, den sie so lange nicht gesehen und um dessen Anblick und letztes Wort sie ‚betrogen’ worden sei, dann wolle sie auch nichts mehr mit ihren Leuten gemein haben. (Dieß ist der Ursprung ihres gestörten Verhältnisses zu ihrer Mutter.)

Diese eindringliche Schilderung lässt den Schmerz von Bertha Pappenheim gut nachvollziehen: Die Mutter verwehrt ihr selbstherrlich mit einer Lüge den letzten Abschied vom Vater! Ohne dass es von Breuer ausgeführt ist, kann man aus seiner Darstellung den Schluss ziehen, dass Bertha Pappenheim von der Mutter in der geschilderten Situation etwas zu essen erhält. (Später verweigert sie eine Zeitlang das Essen und lässt sich nur noch von Breuer füttern.) Erst von Breuer erfährt sie dann am übernächsten Tag indirekt vom Tod des Vaters. Breuer (356): „Ich hielt mich ohne eine positive Versicherung; nächsten Abend fand ich sie nach mir rufend und in ärgster Aufregung mit den andern bal­gend. Als ich eintrat, ließ sie sich ruhig in’s Bett legen und sagte endlich: Lügen Sie nicht mehr, ich weiß, mein Vater ist todt. Nächsten Tag stuporöser Zustand, Abends nach längerem englisch spre­chen plötzliches Erwachen. ‚Buona sera, dottore!’ – plötzlich auf­schnellend – ‚E Vero il mio padre è morto?’ Als ich nun behauptete, sie wisse es schon lange, sagte sie endlich, ja, es müsse wohl so sein, sie habe die Empfindung, als müßte sie es schon gewußt haben, es sei nicht so in ihr, als wäre sie jetzt erst darauf gekommen.

Welch eine vortreffliche Antwort von Breuer! Damit bestätigte er Bertha Pappenheim in ihrer sensiblen Wahrnehmung, dass sie es „schon lange“, also schon im aktuellen Moment erkannt hatte. Er selbst weigert sich, die Lüge der Mutter mitzumachen, steht auf der Seite seiner Patientin, der er die Aufklärung über den Tod des Vaters zugesteht. Vielleicht führt Breuers Unterlaufen der mütterlichen Informationsverweigerung dazu, dass Berthas Mutter ihn später offenbar ziemlich herablassend behandelt.

Mit dem Tod des Vaters und den entsprechenden Umständen verschlechtert sich Berthas Zustand deutlich. Immer mehr versinkt sie in Absencen, hat Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen. Ihr soziales Umfeld erscheint ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Mut­ter und Bruder sind ihr unangenehm. Breuer ist der einzige, den sie immer erkennt und zu dem sie Zutrauen hat. Die Geschichten, die sie erzählt, werden trauriger und ängstlicher. Nach dem Erzäh­len ist sie ruhig, heiter, verrichtet Arbeit, zeichnet, schreibt, geht dann um vier Uhr zu Bett.

Breuer fasst zusammen, dass der somatische Höhepunkt (Kontraktur, Sehstörungen, Aphasie) im Winter 1880/81 überschri­tten wurde, der psychische Höhepunkt im Juni 1881. Einzelne Verschlimmerungen, Aufregungszustände und Selbstmordversuche werden jedoch als Gründe angeführt für eine Verlegung Berthas nach Inzersdorf am 7. Juni 1881. Ab diesem Zeitpunkt scheint Josef Breuer in der maßgeblichen Verantwortung für die Behandlung Bertha Pappenheims abgelöst zu sein, auch wenn er sich weiterhin engagiert um Bertha bemüht. Die Vorgänge um bspw. ihre Unterbringung in der Klinik in Kreuzlingen zeigt, dass Breuer hier eindeutig in eine zweitrangige Position gesetzt ist, z.B. gegenüber Dr. Breslauer. Bis zum Juni 1881 hatte er jedoch schon entscheidend dazu beigetragen, den Ge­sund­heits­zustand seiner Patientin nachhaltig zu verbessern.

 

 

Hier befindet sich der Ausgangspunkt des Beitrages zu Josef Breuer, Bertha Pappenheim und Iwan Pawlow.

Hier geht es zu den Ausführungen zu Leben und Werk von Josef Breuer.

Hier findet sich ein Exkurs zu dem russischen Physiologen Iwan Pawlow, dessen Überlegungen zum klassischen Konditionieren im Grunde spiegeln, was Breuer vorweggenommen hatte.

Hier finden sich Ausführungen zu den Diffamierungen, denen Breuers Behandlung ausgesetzt war. Vor allem gehe ich hier der Frage nach, wer Bertha Pappenheim Chloral und Morphin verordnet hatte.

Hier gehe ich kurz auf einige zentrale Zusammenhänge zwischen Josef Breuer und Sigmund Freud ein.

Und schließlich werfe ich hier noch einmal die Frage auf, ob Josef Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim als erfolgreich gelten kann.