Kernberg-Artikel 1999

Persönlichkeitsentwicklung und Trauma

(In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), 1999, Jg. 3, Heft 1, S. 5-15)

Beim Thema Trauma und Persönlichkeitsentwicklung und insbesondere Trauma und Persönlichkeits­störung möchte ich hervorheben, daß sich meine eigene Anschauung nicht notwendigerweise mit den offiziellen Klassifizierungen, vor allem der amerikanischen Psychiatrie decken. Einleitend möchte ich darauf hin­weisen, daß ich die von Rainer Krause (s. in diesem Heft) angesprochenen Probleme der Wirklichkeit der Erinnerung und des Syndroms der falschen Erinnerung für sehr wichtig halte, auch vor dem Hintergrund seiner Ergebnisse der Affektforschung und ihrer Bedeutung für das Verständnis von Übertragung und Gegenübertra­gung.

Trauma, Aggression und Persönlichkeitsentwicklung

Zuerst möchte ich aber auf einige allgemeine Kon­zepte eingehen. Erstens muß man unterscheiden zwischen dem Syndrom der posttraumatischen Belastungsstörung und dem Trauma als ätiologischer Faktor von Persönlichkeitsstörungen. Zweitens ist es wichtig, zwischen Trauma und chronischer Aggression zu differenzieren. Trauma ist als eine einmalige inten­sive überwältigende und desorganisierende Erfahrung beziehungsweise als ein Erleben zu sehen, das von der Psyche nicht absorbiert und »metabolisiert« werden kann und das von einer chronischen Auseinanderset­zung mit aggressiven Einflüssen unterschieden werden muß. Diese Unterscheidung ist mir wichtig, da sonst das Spezifische des Traumabegriffs verlorengeht. Chro­nische Aggressionen sind für die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen ein wichtiges ätiologisches Element, und wir denken dabei zum einen an die ange­borenen Fähigkeiten oder Dispositionen zur Entstehung von Wut als einem Grundaffekt und an die abgeleiteten aggressiven Affekte wie Haß und Neid, andererseits an die Folgen schmerzlicher Erlebnisse und schwerer Krankheiten im ersten Lebensjahr, weiterhin an die Auswirkungen von chronisch‑aggressivem mißhandeln­den Verhalten von Müttern oder beiden Eltern, weiter­hin an physischen und sexuellen Mißbrauch. Alles sind Beispiele für intensive schmerzhafte Erlebnisse, die eine reaktive Aggression auslösen und somit insgesamt das Vorherrschen primitiver Aggressivität als den ätio­logischen Faktor in der Entwicklung von schweren Persönlichkeitsstörungen darstellen. Als problematisch sehe ich es also, daß häufig die Konzepte von Aggression und Trauma nicht klar differenziert werden und somit das Spezifische der Traumapathologie ver­wischt wird, da in einem breiten Verständnis Trauma als ätiologischer Faktor von sehr vielen Störungen und Krankheitserscheinungen von Bedeutung sein kann. Wenn schon das Kleinkind chronisch Aggressionen ausgesetzt ist, die später auch zur Aggressionsbesetzung des Erwachsenen führen und Folgen für die Entwick­lung der psychischen Strukturen haben, so können wir davon ausgehen, daß das Vorherrschen von Aggression eine Hauptursache von schweren Persönlichkeitsstörun­gen ist (Kemberg 1992).

Das Vorherrschen schwerer chronischer aggressiver Affekte und aggressiver primitiver Objektbeziehungen verhindert eine normale Integration von idealisierten und verfolgenden internalisierten Objektbeziehungen. Liebe und Aggression können nicht integriert werden mit der Konsequenz, daß das Selbstkonzept zwischen den idealisierten und entwerteten, den guten und bösen Aspekten des Selbst gespalten bleibt und das Konzept der Objektrepräsentanzen ebenfalls in idealisierte und verfolgende Objektrepräsentanzen gespalten ist. Bei einer Persönlichkeitsstruktur, die durch Spaltung der Selbst‑ und Objektrepräsentanzen charakterisiert ist, finden wir klinisch eine Identitätsdiffusion als das grundlegende Syndrom, das alle schweren Persönlich­keitsstörungen charakterisiert. Wichtig ist also die Unterscheidung zwischen chronischer Aggression einerseits und dem Trauma andererseits als einem ein­zigen oder zeitlich beschränkten Erlebnis. Die Verwi­schung von Trauma und chronischer Aggression als ätiologischem Element findet sich typisch in der Traumaliteratur, in den Tendenzen vieler Autoren der Traumadiagnostik, die vom Trauma ausgehend auf das Konzept des komplexen Traumas und des chronischen Traumas gekommen sind und vorgeschlagen haben, daß man die zehn wichtigsten pathologischen Erscheinun­gen, in denen Traumen einen wichtigen ätiologischen Faktor bilden, als chronische posttraumatische Stö­rung zusammenfaßt. In dem Konzept von Judith Hermann und Bessel van der Kolk (1989) zum Beispiel sind alle diese Erscheinungen sehr gut synthetisiert, und zwar in dem kleinen Satz: »Bad fears« ‑ also böse Ängste ‑ in dem jeder dieser Buchstaben für eine dieser zehn »Plagen« steht; es sind (van der Kolk et al. 1996):

0 die Borderline‑Persönlichkeitsstörung
0 die affektiven Störungen
0 schwere Depressionen
0 dissoziative Syndrome einschließlich der multiplen Persönlichkeit
0 flash‑backs
0 schwere Essstörungen
0 antisoziale Persönlichkeitsstörungen
0 chronische Opferbereitschaft (Readiness to make sacrifices)
0 Somatisierung
0 chronische Suizidalität

Traumakonzepte

Bei der Frage, ob Trauma noch ein hilfreiches Konzept ist, gilt es zu berücksichtigen, daß es in den Vereinigten Staaten zwei Richtungen gibt: Während die Vertreter der einen Schulrichtung das Konzept des komplexen oder chronischen Traumas als hilfreich ansehen, wird diese Ansicht von den Vertretern der anderen Schulrichtung absolut verneint. Nach Ansicht der Befürworter wird dieses Konzept der Anerkennung und dem Respekt der Überlebenden schwerer Traumen gerecht, begegnet Tendenzen, die Opfer selbst zu beschuldigen und einer Verleugnung häuslicher familiärer und sozialer Gewalt, also insgesamt eine Verleug­nung traumatischer Ursachen. Mit dieser Verallgemei­nerung des Traumakonzeptes in der Traumaliteratur verbinden sich einerseits Respekt und Anerkennung gegenüber den Opfern und Überlebenden schwerer Traumatisierung sowie die Zurückhaltung, die Opfer zu belasten, andererseits aber auch eine Kritik der Verleugnung der traumatischen Ursachen.

Diese Einstellung, die ich direkt aus einem Buch von Judith Hermann (1992), einer führenden Expertin in der Traumaliteratur, entnehme, wird von anderen als zu sehr ideologisch begründet angesehen, da sie die spezifi­schen und unterschiedlichen psychopathologischen Folgeerscheinungen der verschiedenen Krankheiten, der zehn »Plagen«, die ich Ihnen nannte, unterschätzt, auch in bezug auf die unterschiedlichen Behandlungs­möglichkeiten für Patienten, die an den Folgen chroni­scher Aggression leiden. Die Gegner dieser Vermi­schung von ideologischen Einstellungen und behand­lungstechnischen Konzepten vertreten die Position, daß diese Verknüpfung auch verhindert, adäquate Behand­lungsmethoden für diese Patienten einzusetzen (Kernberg 1994). Ich schließe mich dieser Position an, da ich meine, daß es aus klinischer und therapeutischer Sicht hilfreich ist, die posttraumatische Neurose als sol­che von den psychopathologischen Folgen langwieriger Aggressionen zu unterscheiden.

Zum Posttraumatischen Streßsyndrom

Auf das posttraumatische Streßsyndrom (PTSD), das weithin bekannt ist, möchte ich hier nur kurz ein­gehen (Davidson u. Foa 1993). Dieses akute Erschei­nungsbild tritt in ähnlicher Form auf als Folge schwerer Traumen durch Konzentrationslager, Krieg, Unfälle, Vergewaltigung, Geiselnahme, Terror, politischen Terror, Folter und anderer Formen schwerer körperli­cher und sexueller Mißhandlung, besonders in der frühen Kindheit und in den ersten 10 bis 15 Lebens­jahren. Die klinischen Charakteristika dieses Syndroms, das 2 bis 3 Jahre lang anhalten kann, sind akute Angstzustände, Einschränkung der Ich­-Funktionen, Wutausbrüche, wiederkehrende Alpträume und Flash‑backs. In typischer Weise entwickeln sich aufgrund schwerer traumatischer Einwirkungen auch Einschränkungen in zwischenmenschlichen Beziehun­gen, in den Bereichen der Arbeit und des sozialen und sexuellen Lebens. Schwere Traumen können somit langwierige psychopathologische Folgen haben, die aber von typischen Persönlichkeitsstörungen zu unter­scheiden sind. Bei der Behandlung dieses Syndroms steht eine Kombination von anxiolytischer Medikation und supportiver Psychotherapie mit einer stützenden und empathischen Einstellung des Therapeuten gegen­über dem Patienten im Vordergrund, verbunden mit dem Ermutigen, sich mit Situationen wieder auseinander­zusetzen, die aufgrund der Traumatisierung phobisch vermieden wurden. Es ist interessant, daß durch Wiedererinnern im Verlauf einer Behandlung, zum Beispiel an das verdrängte Erleben an körperliche oder sexuelle Gewalt, ein akutes posttraumatisches Streßsyndrom auftreten kann, das genau die gleichen typischen Charakteristika aufweist und dessen Behand­lung auch den genannten allgemeinen Prinzipien folgt.

Chronische Aggression als ätiologischer Faktor in der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen

Im folgenden möchte ich auf Persönlichkeitsstörun­gen eingehen, bei denen das Erleben von schwerer chronischer Aggression ein wichtiges ätiologisches Element ist. Hierbei geht es besonders um die Borderline‑Persönlichkeitsstörung im engen Sinn, aber auch um die antisoziale Persönlichkeitsstörung sowie einige andere Formen schwerer Persönlichkeitsstörun­gen. Die drei entscheidenden ätiologischen Faktoren sind (Kroll 1993):

0 körperliche Mißhandlung
0 sexueller Mißbrauch
0 das Miterleben körperlicher und sexueller Gewalt

Auch wenn in den Vereinigten Staaten die Datenlage über die Häufigkeit physischen Mißbrauchs nicht sehr zuverlässig ist können wir davon ausgehen, daß unge­fähr 30% aller Kinder chronisch schweren körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt sind. Unsere klinischen Kenntnisse über sexuellen Mißbrauch sind viel detail­lierter. Aber die statistischen Daten sind noch sehr unzulänglich, da sie von einer Spanne der Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs zwischen 10 und 80% ausge­hen, und was die hohen Werte betrifft, sehr stark ideo­logisch gefärbt sind, während die Vertreter einer mehr kritischen und skeptischen Position nur eine Häufigkeit von 20 bis 30% annehmen. Irgendwie wird die Wahrheit dazwischen liegen. Mich persönlich haben die Befunde von Michael Stone (1987, 1990) sehr beeindruckt, die er schon vor vielen Jahren bei 500 Borderline‑Patienten in einem Projekt am Columbia‑Institut erhoben hat ‑ noch bevor wir je ahnten, daß sexueller Mißbrauch ein so bedeutender ätiologischer Faktor ist. Michael Stone konnte nachweisen, daß in 20 bis 30% dieser 500 Borderline‑Fälle schwerer sexueller Mißbrauch vorlag, im Vergleich zu einer Häufigkeit von 10% in der Allgemeinbevölkerung. Inzwischen gibt es zahlreiche weitere Untersuchungen zu dieser Problematik, und ich meine, daß die besten statistischen Befunde von der Arbeitsgruppe von Joel Paris (Paris 1993; Paris er al. 1994) stammen, die ideologisch vollkommen neutral ganz klar nachgewiesen hat, daß bei Borderline­-Persönlichkeitsstörungen sexueller Mißbrauch wesent­lich häufiger vorliegt als bei allen anderen Persönlich­keitsstörungen. Andererseits wurde auch festgestellt, daß sich bei 80% aller Personen, die sexuellem Mißbrauch ausgesetzt waren, keine Hinweise für post­traumatische Störungen fanden, was darauf hinweist, daß nicht alle Personen, die physischem oder sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind, auch eine posttraumatische Störung entwickeln.

Ich möchte jetzt auf die Psychopathologie der Auswirkung von chronischer Aggression bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen näher eingehen. Zu den wichtigsten Elementen gehört das Überwiegen von aggressiven internalisierten Objektbeziehungen, die eine normale Verschmelzung von idealisierten und ver­folgenden internalisierten Objektbeziehungen verhin­dern und eine Identitätsdiffusion bewirken, dem funda­mentalen Syndrom der schweren Persönlichkeits­störung, das dadurch charakterisiert ist, daß der Patient nicht über die Fähigkeit verfügt ein einheitliches Bild von sich und den wichtigsten anderen Personen in seinem Leben zu haben. Daraus resultiert auch seine Unfähigkeit, sich selbst wirklich in der Tiefe zu ver­stehen und zu entdecken und zu entwickeln, was er im Leben will. Dadurch fällt es ihm auch schwer, sich in andere Personen einzufühlen, einen Lebenspartner zu finden und mit Problemen umzugehen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen, in Paarbeziehun­gen, im sexuellen Kontakt und in Arbeit und Beruf auftreten.

Der Einfluß von Wut als Grundaffekt auf die Entwicklung von Selbst‑ und Objektrepräsentanzen

Wie sieht das im einzelnen aus? Ich greife hier auf die Affekttheorie zurück, die von den Affekten als psychophysiologisch und genetisch bestimmten, konstitutionell angeborenen Affektentladungen ausgeht und denen eine basale kommunikative Funktion zwischen Kleinkind und Mutter zukommt. Affekte sind subjektives Empfinden und psychomotorische und vegetative Entladungen, die vor allem Ausdruck eines emotionalen Zustandes sind. Das Kleinkind bringt von Geburt an eine Fähigkeit zur affektiven Kommunikation mit der Mutter mit, die sich in psychomotorischen, hauptsäch­lich spezifischen Gesichtsausdrücken manifestiert und die auch darin besteht, aus dem Gesichtsausdruck der Mutter etwas zu lesen, ohne das je vorher gelernt zu haben. Diese Grundaffekte verbinden sich mit den Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen, die als basale dyadische Selbst‑ und Objektrepräsentanzen internalisiert werden und den affektiven Rahmen der frühen Mutter‑Kind‑Beziehung herstellen (Kemberg 1992).

Schmerzhafte Empfindungen lösen Wut aus, die der Grundaffekt der Aggression ist, und ich gehe davon aus, daß praktisch von Beginn des Lebens an die Fähigkeit besteht, Wut zu entwickeln. Die Wut des Kindes hat dabei zunächst einmal die Funktion, zu zeigen, daß etwas nicht stimmt, sozusagen, daß die Welt nicht in Ordnung ist und die Mutter etwas tun muß, um das störende Element zu entfernen oder gar zu ver­nichten. Somit ist Wut zunächst ein Signal, diesen mit Verletzung einhergehenden Reiz auszuschalten, im wei­teren kann Wut ein Signal dafür werden, ein verletzen­des Objekt zu zerstören, und schließlich kann sich aus der Wut eine chronische Disposition zu einer internali­sierten Objektbeziehung entwickeln, in der eine wüten­de Selbstrepräsentanz eine wuterregende Objektreprä­sentanz aus dem Wege schaffen will. Bei dieser Verbindung einer chronischen wuterregenden Selbst­repräsentanz mit einer wuterregenden Objektrepräsen­tanz werden dann weitere Entwicklungen in Gang gesetzt: Durch die Projektion der Wut auf die Objektrepräsentanz und auf ein äußeres Objekt wird dieses als wütend und aggressiv und sadistisch gesehen, und es folgt daraus der Wunsch, dieses Objekt zu zer­stören. Wenn die Zerstörung des Objektes zum Hauptmotiv dieser chronischen Wut wird, sprechen wir von Haß. Haß verstehen wir somit als eine strukturierte chronische internalisierte Objektbeziehung, in der es zum einen um den Versuch geht das Objekt zu zer­stören, zum anderen aber auch um den Wunsch dem Objekt etwas heimzuzahlen, das Objekt leiden zu lassen und schließlich Kontrolle über das Objekt auszuüben. Mit dem Haß verbindet sich also der Wunsch zu zer­stören, Leid zuzufügen und zu kontrollieren. Während in der Zerstörung reiner Haß und reine Aggression zum Ausdruck kommen, vermischen sich Haßgefühl mit der Lust Schmerz zuzufügen, und wir sprechen von Sadismus oder einer sadistischen Einstellung gegenüber dem Objekt, die sich aus Haß entwickelt und schließlich mit dem Wunsch einhergeht, Kontrolle über das Objekt auszuüben. Die Wünsche zu zerstören, sich zu rächen, sadistisch Leid zuzufügen und zu kontrollie­ren sind also Ausdruck haßerfüllter internalisierter Objektbeziehun­gen.

Nun müssen wir allerdings davon ausgehen, daß wir alle grundsätzlich diese Fähigkeiten besitzen, denn es ist praktisch ja unmöglich, unser Leben so zu gestalten, aß wir nicht irgendwie und irgendwann gegenüber einem haßerregenden Objekt auch ein gewisses Maß von Haß empfinden, das sich allerdings im allgemeinen in Grenzen hält und auch sublimiert werden kann. So hassen wir das Böse, hassen das, was gegen unser Gewissen geht, und wir hassen die Täter und Untäter, die im allgemeinen haßerfüllte Reaktionen in uns aus­lösen. Im Falle schwerer Persönlichkeitsstörungen wird Haß jedoch zur wichtigsten unbewußten Motivation der Persönlichkeit, die abgespalten von dem Verlangen nach Liebe und idealisierten Vorstellungen ist. Die Tragödie besteht darin, daß Patienten, die in ihrer frühen Kindheit chronischen Aggressionen ausgesetzt waren, mit chro­nischem Haß reagieren.

Die besondere Funktion von Haß und Neid für die Psychopathologie schwerer Persönlichkeitsstörungen

Ich möchte jetzt noch auf eine besondere Komplikation bei der Entstehung von Haß eingehen, und zwar auf den Haß, der sich gegenüber einem Objekt entwickelt, das einerseits als schmerzauslösend und böse, zerstörerisch und leiderregend gesehen wird und das andererseits auch potentiell gute Seiten aufweist und sogar Liebe erweckt. Ich meine hiermit das Neidgefühl, das sich mit der Vorstellung verbindet, daß das gute Objekt etwas besitzt oder einem wegnimmt oder einem vorenthält, was man selbst haben möchte. Dieses Neidgefühl, das für mich eine Sonderform des Hasses ist, ist in gewisser Weise sogar auf eine gefährlichere Art pathologisch als der Haß selbst, da wir das beneiden oder neiden, was wir uns selbst wünschen und was uns veranlaßt die Hand zu beißen, die uns füttert. Diese Unfähigkeit, eine Abhängigkeit zuzulassen, weil man beneidet, was man eigentlich braucht, führt zu schweren zwischenmenschlichen Konflikten und findet Ausdruck in einer narzißtischen Psychopathologie, die sich bis hin zu den schwersten Formen des Narzißmus, nämlich dem malignen Narzißmus, und bis zur antisozialen Persönlichkeit entwickeln kann.

Diese so stark unter der Kontrolle von Haß stehenden Persönlichkeitsstörungen sind im Rahmen der Borderline-Persönlichkeitsorganisation auf einem sehr niedrigen Niveau angesiedelt, mit einer Entwicklungslinie, die von der narzißtischen Persönlichkeitsstörung zum malignen Narzißmus und zur antisozialen Persönlichkeit reicht. Von malignem oder bösartigem Narzißmus bei narzißtischen Persönlichkeitsstörungen sprechen wir, wenn ein grandioses Selbst von Haß infiltriert ist, wenn diese Persönlichkeiten antisoziale und paranoide Züge aufweisen und Aggression und Sadismus vorherrschen. Die schwerste Ausprägungsform kommt in der antisozialen Persönlichkeit zum Ausdruck, die durch eine schwere Über‑Ich‑Pathologie gekennzeichnet ist, mit einem Überwiegen von Haß in jeder Beziehung und der Unmöglichkeit, Liebe zu empfinden und Liebe zu äußern, bei einem Vorherrschen von Haß und Neid gegenüber den anderen (Kernberg 1992). Klinisch sehen wir Persönlichkeitsstörungen, in denen Haß eine dominierende Funktion hat, in gewissen typischen Konstellationen und typischen Syndromen, auf die ich im folgenden noch näher eingehen möchte. Wie ich schon ausgeführt habe, sind Haß und Neid immer in einer internalisierten Objektbeziehung fest verankert, die aus einer Selbst‑ und einer Objektrepräsentanz und einem fest damit verbundenen Affekt besteht.

Zur unbewußten dyadischen Struktur der Täter‑Opfer‑Rollen

Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegen­über. Es besteht eine gegenseitige haßerfüllte Bezie­hung zwischen Täter und Opfer, wobei ein haßerfüllter Täter ein machtloses Objekt zerstören will, ihm Leid zufügen und es kontrollieren will. Diese unbewußte dyadische Struktur stellt eines der Hauptprobleme in der Behandlung dieser Patienten dar, da sie sich sofort in der Übertragung/Gegenübertragung manifestiert. Dazu drei Fallbeispiele:

Ich möchte diese Problematik an einem ersten Beispiel praktisch und klinisch näher erläutern: Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Über­lebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von zwölf Jahren aus dem Konzentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde. Dieser Mann entwickelte später in seinem Leben große organisatorische Fähigkeiten, mit denen er in eine führende politische Position kam, Macht erlangte und eine Frau heirate­te, mit der er mehrere Kinder hatte. Viele Jahre spä­ter wandte er sich an mich, weil seine Tochter schwer suizidal war, seine Söhne beruflich nicht mehr zurecht kamen, seine Frau sich chronisch aggressiv ihm gegenüber verhielt und er selbst auf­grund dieser unglücklichen Entwicklung in seiner Familie unter dauernden Selbstmordphantasien litt. Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell verge­waltigt hatte, verhinderte, daß sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte und mir gegenüber als Therapeut mit dem Gefühl und Anspruch auftrat, daß er mich durch enorme Geldsummen zu seinem Agenten machen könnte.

Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wie­dergebe, daß dieser Mann sich seiner Familie gegenüber so verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentra­tionslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde. Sie sehen an diesem Beispiel, wie aus dem Opfer ein Täter wird, aber nicht nur ein Täter, sondern wiederum ein Opfer. Dieser Mann litt unter schweren Depressionen, und er verübte schwere Selbstmordver­suche. Sie sehen also, wie Opfer und Täter in derselben Person vorhanden sind und so dyadische Situationen aktivieren, das heißt mit anderen Worten, daß die inter­nalisierten Objektbeziehungen immer dyadisch reprä­sentiert sind. Und ich komme hier zu der Schlußfolge­rung, daß sich chronische Aggression, wenn sie wirklich psychopathologische Folgen hat, in einer doppelten Identifizierung mit Opfer und Täter äußert.

Als zweites Beispiel berichte ich über die Behand­lung einer Krankenschwester, die bereits zwei Therapien abgebrochen hatte, in denen es zu sexuel­len Beziehungen mit den Therapeuten gekommen war. Schon in ihrer frühesten Kindheit mußte sie erleben, daß die Eltern mit ihr und den Brüdern Gruppensex hatten, indem alle während der Kindheit und Adoleszenz der Patientin in einer riesigen Badewanne sexuelle Kontakte miteinander hatten. Sie wuchs in einer fast psychotischen Familie auf, in der der Vater immer zuerst sein Essen dem Hund gab, um sich zu versichern, daß seine Frau ihn nicht vergiften wollte. Diese Patientin ‑ eine hochintelli­gente Krankenschwester ‑ litt an Fettsucht, Alkoho­lismus, Abhängigkeit von verschiedenen Drogen, sowie an homosexueller und heterosexueller Promis­kuität und an einer schweren Borderline‑Störung. Nach der 10. oder 12. Stunde entdeckte ich bereits, daß sie immer zu den Stunden ohne Slip kam und sich so hinsetzte und die Beine spreizte, daß ich ihre Genitalien sehen konnte [statt dessen im Originalton (1997): „so dass ich bis ins Tiefste ihrer Seele sehen konnte“ – fröhliches Gelächter im Publikum], und sie wurde dann ent­setzlich wütend darüber, daß ich mich weigerte, mit ihr Sex zu haben.

Wir sehen an diesem Fall, wie aus einem früh trau­matisierten Kind und verführten Jugendlichen später eine psychisch schwer gestörte, verführende Persönlich­keit wurde, die sowohl Opfer wie Täter war.

Als drittes Beispiel wähle ich eine Patientin aus unserer Forschung, die von ihrer Stiefmutter schwer körperlich mißhandelt worden war. Jedesmal, wenn sie der Stiefmutter nicht vollkommen gehorchte, nahm sie die Stiefmutter beim Arm, schwang sie mehrmals durch die Luft und schleuderte sie gegen die Wand, so dass dieses Mädchen im Alter von 5 bis 11 Jahren ständig schwarze und blaue Flecken hatte und sich nicht traute, in der Schule bei der Gymnastik mitzumachen, damit man die Folgen der Mißhandlungen an ihr nicht entdecken konnte. Diese Patientin, die über 30 Suizidversuche mit schwer komatösen Zuständen im Laufe der letzten Jahre gemacht hatte, die nur noch aus glücklichen Zufällen am Leben war, provozierte mich massiv in der Therapie, indem sie mich dauernd verspottete, angriff und versuchte, Gegenstände meines Büros zu zerstören und sich weigerte, meine Praxis, am Ende der Stunde zu verlassen. Ich mußte sie mit der Polizei des Spitals aus meinem Therapieraum herausschleppen lassen. Sie rief mich Tag und Nacht an, verfolgte mich unter falschen Vorwänden und kam schließlich sogar unbemerkt zu einem Familienfest, um mich zu bespitzeln. Hier wird die Intensität der Aggression deutlich, in der die Patientin in Identifikation mit ihrer sadistischen Stiefmutter mich einmal als ihr Opfer behandelte und in anderen Momenten sich von mir wie ein Opfer sadistisch behandelt fühlte. Wenn ich ihr, nachdem sie mich die ganze Stunde über verspottet hatte sagte: »So, jetzt ist die Stunde zu Ende«, erwiderte sie: »Einen Moment, ich muß nur noch was berichten, es ist etwas sehr Wichtiges.« Und wenn ich dann klarstellte: »Die Zeit ist zu Ende, Sie müssen jetzt gehen«, ging sie weinend und schluchzend weg, so daß meine Sekretärinnen mich so ansahen, als ob ich ein Sadist wäre.

Die Versuchung für Therapeuten, in den Opfern schwerer Traumatisierungen nur das Opfer zu sehen

Ich könnte viele Fälle beschreiben, in denen sich diese Problematik stets wiederholt hat. Allerdings tritt in den meisten Behandlungsfällen dieses Problem gar nicht in Erscheinung, weil viele Therapeuten der Versuchung nicht widerstehen können, in diesen Opfern schwerer Traumatisierung eben nur das Opfer zu sehen. Und natürlich versuchen die Patienten die Situation so zu konstellieren, daß der Therapeut sie nur als Opfer sieht, und sie spalten das aggressive Verhalten auf das Verhalten gegenüber anderen Personen ab. Ich führe zur Erläuterung noch ein weiteres Beispiel aus unserem Forschungsprojekt an und berichte über eine Patientin, die von einer unserer erfahrensten Therapeutinnen behandelt wurde.

Bei dieser Patientin, die an einer schweren Borderline‑Störung litt, bestand ein Zustandsbild, das ‑ wie sich am Ende herausstellte ‑ als eine falsche Erinnerung, als ein »false memory syndrome«, zu bezeichnen ist. Sie war zuvor in einer Klinik, die sich mit dem Erinnern von sexuellen Traumata beschäftigte. Da bei ihr ausgeprägte Somatisierungen bestanden und sie über Bauch­schmerzen, Übelkeit und Brechreiz klagte, wurde ihr in der Therapie langsam suggeriert, daß sie sicherlich Fellatio mit ihrem Vater betrieben habe, wovon sie dann auch überzeugt war. Im Verlauf der Behandlung bei unserer Therapeutin schickte sie Briefe an alle Verwandte, um ihnen mitzuteilen, daß ihr Vater sie in der Kindheit sexuell mißbraucht hatte, wobei sie jedoch darum bat, dem Vater nichts davon zu erzählen. Natürlich haben sich alle sofort an den Vater gewandt, der uns im Spital wütend beschul­digte, daß wir seiner Tochter diese Idee eingegeben hätten, und er drohte sofort mit einem Gerichtsver­fahren. Somit mußten wir uns sowohl mit dem Problem eines möglichen Gerichtsverfahrens als auch mit der Frage der Patientin an die Therapeutin befassen: »Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht?« Die Therapeutin klärte die Patientin darüber auf, daß es nicht ihre Aufgabe sei, ihre Erinnerungen zu bestätigen oder nicht zu bestätigen. Vielmehr könne sie ihr dabei helfen, zu erkennen, inwieweit ihre Vergangenheit ihre jetzige Realität beeinflußt habe, und sie könne ihr durch Lösung ihrer Probleme im Hier und Jetzt ermöglichen, sich objektiv ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen und eine eigene Einstellung zu ihren Erinnerungen und zu ihrer Familie zu finden. Die Patientin reagierte auf diese Intervention sofort mit der Feststellung: »Aha, Sie sind also auf seiner Seite« und begann mit schweren Angriffen auf unsere Therapeutin. Die erfolglos abgebrochenen früheren Behandlungen dieser Pa­tientin waren immer von Therapeutinnen durchge­führt worden. Allerdings wurde die Patientin immer in ihrer Rolle als Opfer unterstützt, und andere Personen wurden als Täter betrachtet, wodurch zwar eine Stabilisierung in der Behandlung, aber keine wirkliche Besserung erzielt wurde. Da sie nie von einem Mann behandelt werden wollte, hatten auch wir sie im Rahmen unseres Projektes an eine Therapeutin vermittelt. Unsere Therapeutin gab der Patientin die Deutung, daß sie den Eindruck habe, daß sie sofort für sie zur Täterin werde, wenn sie nicht die Rolle ihrer Verbündeten übernähme.

Es geht hier um die typische Spaltung der Borderline‑Patienten nach dem Muster: Entweder bist du auf meiner Seite, oder du bist mein Feind. Unsere Therapeutin hatte zunächst von der Patientin die Rolle einer Verbündeten des Vaters bekommen, einer Sklaventreiberin. Es dauerte viele Monate, bis diese Patientin in der Therapie verstand, daß sie in ihrer inneren Vorstellung gleichzeitig das Opfer dieses sadistischen realen oder imaginären Täters war und sich in ihrer Einstellung gegenüber der Therapeutin wie auch dem Vater mit so einem Täter konfrontiert sah und sich in diesen Beziehungen auch unbewußt mit dem Täter identifiziert hatte. Es fanden sich keine Hinweise für wirkliche Erinnerungen an einen Mißbrauch, und auch alle ande­ren objektiven Untersuchungen führten immer wieder zu dem Ergebnis, daß es sich hier um eine suggerierte Annahme von Mißbrauch gehandelt hat. Psychopatho­logisch hoch relevant war jedoch diese intensive inter­nalisierte Objektbeziehung von Opfer und Täter.

Störungen und Gefährdungen der therapeutischen Beziehung durch typische Syndrome

Arroganz, Neugierde und Pseudostupidität

 Die wichtigste Voraussetzung für die Behandlung ist die Kenntnis der typischen Syndrome, in denen sich diese dyadische Einstellung zeigt. Vielleicht das schwerste Syndrom, das wir kennen, ist das Syndrom der Arroganz, das Bion (1968) beschrieben hat. Es han­delt sich um Patienten mit schweren Persönlichkeits­störungen, die massive aggressive Arroganz dem Therapeuten gegenüber zeigen, eine starke Neugierde für sein Privatleben entwickeln, während sie ihre eige­nen Probleme nicht sehen, verbunden mit einer Pseudostupidität an sich hochintelligenter Personen, die innerhalb der Behandlung nicht einmal mehr das Ein­fachste, das man ihnen sagt, verstehen können. Diese drei Symptome Arroganz, Neugierde und Pseudostupi­dität zielen im Grunde darauf ab, jede Kommunikation zu verhindern, um sich nicht den eigenen Haß eingeste­hen zu müssen, das heißt der Haß wird agiert, ohne wirklich als Affekt empfunden zu werden, was zu einer schwierigen psychologischen Aufgabe innerhalb der Behandlung wird.

Absolute Spaltung

Ein zweites häufig beobachtetes Syndrom ist das einer absoluten Spaltung zwischen idealisierten Beschützern und paranoid verfolgenden, sadistischen Tätern. Vielleicht die schwerste Form findet sich bei Patienten, die sich von einem Therapeuten verfolgt fühlen, diesen Therapeuten unter irgendeinem Grund dann anzeigen und ein Gerichtsverfahren einleiten, sich dann einen neuen Therapeuten suchen, den sie idealisie­ren und von dem sie Hilfe gegen den ersten erwarten. Wenn das Gerichtsverfahren für sie gut ausgeht und sie befriedigt den ersten Therapeuten zerstören, dann beginnen sie ein Verfahren gegen den zweiten und suchen dann wieder einen neuen Therapeuten auf, der dann idealisiert wird gegenüber der Enttäuschung an dem zweiten. Wir kennen mehrere solcher Fälle, die natürlich die Instabilität des idealisierten und verfolgen­den Segmentes und gleichzeitig auch die dauernde Spaltung anzeigen.

Transformation des Opfers in einen Täter

Ein drittes Syndrom, das auch sehr häufig vorkommt, ist die Transformation des Opfers in einen Täter.

Der schwerste uns bekannte Fall ist eine Patientin mit einer antisozialen Persönlichkeit, die, nachdem ihr Vater sie sexuell mißbraucht hatte, unter den Folgen des Inzests an schweren Depressionen und Selbstmordversuchen litt und die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn unter Androhung von Selbstmord zu sich nach Hause, empfing ihn im Negligé und gab ihm zu verstehen, daß nur er sie retten könnte ‑ ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzißtischen Problemen. [Originalton: Gelächter im Publikum. Erheiterte Nachfrage von Kernberg: „Ist das hier ungewöhnlich?“ Erneutes Gelächter im Publikum.] Sie schrieb ein Tagebuch, beging Selbstmord, sandte zuvor das Tagebuch mit einer genauen Beschreibung des sexu­ellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten ihrer homosexuellen Freundin, die ein Gerichtsver­fahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete.

Wir sehen hier, wie die Patientin noch im Tode Opfer und Täter zugleich wurde. [Originalton: „Sie sehen, wie sie im Tode sich noch r…[ächte], wie sie Opfer und Täter zugleich wurde.“] Ein tragischer Fall, der aber nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich ist, wie man erwarten würde. Wir sehen hier eine leichtere Ausprägung der Problematik der zuvor geschilderten Patientin, die ohne Slip kam und in Wut geriet, weil ich mich als ihr Therapeut weigerte, mit ihr eine sexuelle Beziehung aufzunehmen.

Dissoziationen

Als eine andere häufige problematische Situation sind Dissoziationen anzusehen, schwere primitive Spaltungen, die manchmal leider von Therapeuten unterstützt und verstärkt werden. Dissoziative Tenden­zen kommen gehäuft bei Borderline‑Patienten vor und sind nicht selten Folgen von sexuellem Mißbrauch, obwohl Dissoziationen auch als eigenständiges Phäno­men auftreten können.

Eine Patientin dissoziierte plötzlich während der Therapiesitzungen bei mir. Sie schaute mit einem etwas ängstlichen und verzückten Gesicht in die Luft und weigerte sich, mit mir in dieser Situation zu sprechen. Nach etwa, 5 bis 15 Minuten zeigte sich wieder ihr normales vernünftiges Selbst. Bei mei­nem Versuch, sie auf diesen dissoziativen Zustand anzusprechen, behauptete sie, nichts davon zu wis­sen, beziehungsweise nicht diese Person gewesen zu sein, wobei sie mich dabei freundlich anlächelte. Es war ganz klar, daß da eine absolute Spaltung zwischen diesen dissoziativen Zuständen und dem nor­malen Befinden bestand und daß jeder Versuch von mir, ihre Aufmerksamkeit auf den dissoziierten Zustand zu lenken, sofort mit intensiver Wut und Mißtrauen beantwortet wurde, das heißt also, daß sie mit großem Mißtrauen auf jeden Versuch von mir reagierte, sie mit ihrem dissoziierten Zustand in Verbindung zu bringen.

Typisch für diese Patienten ist, daß sie versuchen, diese dissoziativen Zustände zu behalten und die Spaltung zu bewahren. Jeder Versuch, diese Spaltung zu lösen und die Einstellung des Beschützens dieser Spaltung zu deuten, führt in der Übertragung zu einer paranoiden Einstellung, in der der Therapeut sofort zum Täter und der Patient zum Opfer wird, das heißt also der Versuch, die Spaltung zu überbrücken, führt zur Reaktivierung der primitiven dyadischen Beziehung, die ich zuvor beschrieb.

Behandlungsstrategien und die besondere Bedeutung der Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse bei schwer traumatisierten Patienten und schweren Persönlichkeitsstörungen

Nun komme ich zur Behandlung und dabei auch wieder auf die Stellungnahme von R. Krause (s. Beitrag in diesem Heft) zurück und die fundamentale Bedeutung von Übertragungs‑ und Gegenübertragungsanalyse bei diesen Fällen. Ganz kurz zusammengefaßt besteht die Behandlung darin, daß man sich das pathologische Introjekt, die pathologische Beziehung in der Über­tragung aktivieren läßt, sie den Patienten in der Über­tragung voll erleben läßt und ihm hilft, sie durch Deutung zu überwinden. Das bedeutet praktisch eine Behandlungsform, die mit der psychoanalytischen Psychotherapie schwerer Persönlichkeitsstörungen übereinstimmt, und zwar eine Behandlung, die sich auf die hauptsächliche dominante Übertragung in der Behandlung konzentriert. Wir entdecken diese dominante Übertragung, indem wir gleichzeitig über die drei Kanäle unserer therapeutischen Wahrneh­mung untersuchen:

  • Was sagt uns der Patient, was also ist sein subjekti­ves Empfinden?
  • Was zeigt der Patient in seinem Verhalten?
  • Was spüren wir in unserer Gegenübertragung?

Dabei kann unsere Gegenübertragung auf zwei Arten erfolgen: erstens eine Identifizierung mit dem, was der Patient spürt, also eine konkordante Identifi­kation mit dem Erlebnis des Patienten, die uns hilft, uns mit dem Patienten empathisch zu fühlen, uns in den Patienten einzufühlen, und zweitens eine komplementä­re Identifikation in der Gegenübertragung, das heißt uns mit dem zu identifizieren, was der Patient in sich nicht toleriert. Typisch für diese Patienten ist, daß die kom­plementäre Gegenübertragung bei weitem vorherrscht. Ich erinnere an meine Patientin, die sich weigerte, von meiner Ordination wegzugehen und die mich dauernd anrief, so daß ich mich wie ein paralysiertes Opfer fühl­te, während sie sich mit einem sadistischen Objekt iden­tifizierte. Als sie dann wie eine weinende Madonna von meiner Ordination wegging, nahm sich diese Patientin wieder in einer umgekehrten Rolle wahr, und zwar als mein Opfer und mich als sadistischen Täter. Die Analyse der Übertragung und der Gegenübertragung erlaubt uns also, diese verfolgende internalisierte Beziehung herauszuschälen und die Identifizierung des Patienten sowohl mit dem Opfer als auch mit dem Täter zu deuten (Clarkin et al. 1999).

Täter‑Opfer‑Rollen und ihre Integration in der Therapie

Wenn der Patient es im Laufe der Therapie toleriert, sich gleichzeitig als Opfer und Täter zu sehen, dann verliert diese pathologische Identifizierung ihre Stärke und führt zu der Möglichkeit einer neuen Integration, eines Erkennens, Liebe und Haß vereinbaren zu können, Gegensätze, die der Patient früher nicht integrieren konnte, und es kommt damit zu einer Befreiung von dieser Problematik. Wenn man dagegen in der Therapie dem Patienten nur hilft, sich als Opfer zu identifizieren und der Täter irgendwie nach außen projiziert wird, dann kann die Beziehung zwar als eine gute erscheinen, der Patient sich gestützt fühlen, aber diese Problematik wird im Grunde genommen doch nicht gelöst. Aggres­sionen, die nicht anerkannt wurden, die von Rachege­fühlen erfüllt sind, diese haßerfüllten Aggressionen zeigen sich dann immer in paranoiden Einstellungen, die das Leben dieser Menschen beherrschen, und das gilt genauso für sexuellen Mißbrauch und andere schwere Traumatisierung. Nehmen wir als Beispiel einen extremen Fall von Inzest:

Eine meiner Patientinnen mit einer masochistischen Persönlichkeit war die Geliebte eines Bandenfüh­rers, der sie so behandelte wie die Frau in der Novelle »0«. Er bot sie sozusagen als Geschenk seinen Freunden an, so daß sie Sex mit der ganzen Bande hatte, in masochistischer Unterwerfung und gleichzeitig mit einer schweren sexuellen Hem­mung. Bei dieser Patientin mit einer masochisti­schen Persönlichkeitsstörung ist in meiner Behand­lung dieses Inzesterlebnis doppelt aufgetaucht: als Opfer und als Versucher in intensiven sexuellen Phantasien mit mir, die ich wiederum als eine Reaktion auf den sexuellen Mißbrauch durch ihren Vater zurückführen konnte.

Wie wir wissen, ist direkter Inzest die schwerste Form ‑ das heißt ich spreche von intergenerationalem Inzest, besonders vom Vater mit der Tochter unter einem Alter von 10 Jahren. Das galt auch für diese Patientin, deren Vater eine antisoziale Persönlichkeit war. Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, als verwirrenden Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu ihm und zu beiden Eltern, als zerstörenden Einfluß auf die Entwicklung ihres moralischen Gewissens und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter. Dieses letzte Element war natürlich vollkommen unbewußt und mit schweren Schuldgefühlen verbun­den, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen mußte, konnte sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewußten und jetzt bewußten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren. Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.

Was ich hier dargestellt habe, ist zunächst nicht die ideale Lösung des Problems dieser Patientin, das noch lange weiter bestand, bis sie sich aus diesem entsetzli­chen Kreis entfernen konnte. Aber es soll zeigen, daß nur diese doppelte Lösung den Opfern die Möglichkeit erschließt, sich nicht nur mit Haß, Aggression und Ambivalenz zurechtzufinden, sondern auch das eigene sexuelle Leben zu bereichern und das sadomasochisti­sche Element der normalen sexuellen Befriedigung und Erotik aus der Charakterpathologie zurück in die nor­male Sexualität zu retten und so die eigene Sexualität zu befreien und weiter zu entwickeln. Diese Behandlungen erfordern vorn Therapeuten zuerst die Festsetzung eines festen Rahmens der Beziehung, so daß die Aggression des Patienten toleriert werden kann, ohne daß die Beziehung zerstört wird und ohne daß der Therapeut oder sein Raum verletzt oder zerstört werden.

Aggression in der Gegenübertragung

Es ist wichtig, in der Gegenübertragung trotz aller Provokationen das Interesse und die objektive Besorgnis für die Patienten zu behalten, sich den aggressiven Gegenübertragungen auszusetzen, denn es gibt Momente, in denen wir sie am liebsten aus dem Fenster werfen würden. [Originalton: „Wenn alles gut geht, dann gibt es Momente, in denen wir sie am liebsten aus dem Fenster werfen würden, besonders wenn unser Büro im 80. Stock liegt, und dann langsam und freudevoll lauschen, bis wir unten ein leises ‚Plopp’ hören.“ – Gelächter im Publikum – „Ich meine das ganz ernst!“] Die Toleranz der Aggression des Täters, die auf uns projiziert wird, ist unerhört entscheidend für den Erfolg der Therapie, indem wir zum Täter werden können und wir uns als Täter identifizieren und es so dem Patienten erleichtern, sich selbst als Täter zu identifizie­ren. Ich glaube, daß hier der schwerste Teil der Therapie liegt, denn natürlich richtet sich das gegen unsere ver­traute therapeutische Überzeugung. Aber wenn ‑ ich glaube, ich übertreibe nicht ‑ Sie sich nicht bewußt in der Gegenübertragung mit dem identifizieren kön­nen, was der Patient Ihnen auferlegt, dann ist es dem Patienten auch nicht möglich, von dieser Introjektion frei zu kommen. Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit ­der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten. Als Therapeuten dieser Patienten können wir es uns also nicht leisten, nicht auch in uns selbst mit diesen Gefühlen und Affekten in Kontakt zu kommen. Genauso wie wir bereit sein müssen, uns mit den sexuellen Gefühlen der Patientin oder des Patienten zu identifizieren, um dem Patienten zu ermöglichen, sich dieser Problematik zu bemächtigen. Das bedeutet also, sexuelle erotische Gefühle dem Patienten gegenüber zu tolerieren, ohne natürlich diese zu agieren, aber sie in unsere Deutungen einzubauen, genauso wie wir natürlich nicht unsere Aggressionen agieren, sondern sie in unsere Deutungen einbauen. Das heißt auch, eine objektive besorgte, aber nicht verfüh­rende Einstellung dem Patienten gegenüber einzunehmen.

Technische Neutralität

Es bedeutet weiterhin Einhalten der technischen Neutralität, aber technische Neutralität bedeutet nicht verdrossene Indifferenz. Es ist wichtig, ‑ ich zitiere da Freud in einem Brief von 1916 an Pfister ‑ daß wir uns vor Mitleid schützen. Wie Sie wissen, ist Mitleid eine sublimierte Aggression. Wenn wir Mitleid mit Patienten innerhalb einer Behandlung empfinden, ich will das nicht zu sehr verallgemeinern, bedeutet das, daß wir den Patienten herabsetzen und nicht als vollwertige, norma­le Person respektieren. Das ist bereits eine Folge der Verführung durch den Patienten, in die Spaltung zwi­schen idealisiertem und verfolgendem Objekt einzutre­ten, das heißt wir müssen also direkt sein, wir müssen uns trauen zu fragen, warum, wieso, und wir müssen uns trauen, den Patienten nicht in seiner Mythologie zu bestätigen. Wir müssen daher versuchen, seine Übertra­gung zu lösen und den Patienten, die uns fragen »Glauben Sie mir nicht? Sind Sie nicht meiner Meinung? War das nicht entsetzlich?« zu erwidern: »Warum brauchen Sie meine Meinung, anstatt eine eigene zu haben?« Das bedeutet, daß ich hier meiner Arbeit treu bleibe, anstatt den Wünschen der Patienten zu entsprechen, und natürlich ist das nur der Anfang einer Übertragung, in der wir als sadistisches Objekt behandelt werden. Es ist schwer für einen Therapeuten, zu tolerieren, daß man so ein sadistisches Objekt wird. Aber ich glaube, daß diese Toleranz im Grunde genom­men eine Vorbedingung für eine gelingende Lösung von Gegenübertragung wie auch Übertragung ist.

Fazit

Für die Behandlung von Patienten, die unter schweren chronischen Traumatisierungen, unter schweren chro­nischen Aggressionsaussetzungen leiden, gilt es in der Übertragung, diese fundamentalen dyadischen inter­nalisierten Objektbeziehungen zu aktivieren, sie syste­matisch zu deuten, Liebe und Haß zu integrieren. Es gilt, dem Patienten zu helfen, sich von psychopathischen und paranoiden Einstellungen langsam zu lösen und ihn in seiner depressiven Trauer zu führen, und ihm zu helfen, sich von seiner Vergangenheit zu befreien, die sadoma­sochistischen Elemente, die Teil normaler Liebe sind, zurück ins Sexuelle zu retten, anstatt ins Charakter­pathologische und Selbstzerstörende einzubauen, ohne daß wir unsere objektive Einstellung als Therapeuten verlassen müssen. Das bedeutet nicht, daß wir indifferent, apolitisch, unberührt von allen sozial verursachten chronischen Traumatisierungen sind, die mit allen konkreten Beispielen, die ich Ihnen gab, verbunden sind, Terror, politische Verfolgung, Konzentrations­lager, sexueller Mißbrauch, physischer Mißbrauch. Es bedeutet jedoch, daß wir unsere ideologische und politische Einstellung nicht dazu verwenden, mit dem Patienten eine Allianz herzustellen, die uns daran hindert, die Übertragung voll zu analysieren und zu lösen. Als Bürger können wir unsere Ideologie ausdrücken, als Therapeuten müssen wir erschreckend neutral bleiben, neutral nicht im Sinne der Indifferenz, aber in dem Widerstand gegen die Identifikation mit den inneren pathologischen Mächten, gegen die der Patient anzukämpfen hat.

Literatur

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