Elsässische Geschichte

Eine alte elsässische Geschichte

‚Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu.’ [1]

Ein Jüngling und ein Mädchen, beide jung
Und lebensfrischen Sinn’s, wie im Gedicht
Schön an Gestalt und Angesicht,
Durchpulst von reger Forderung
Des jugendlichen Blutes – ihre Namen
Thun weiter nichts zur Sache – kamen
Zusammen für geraume Zeit
In ländlich stiller Abgeschiedenheit.
Selbander [2] gingen sie durch Feld und Wald,
Bald Blumen suchend, rastend bald
An moosigem Hang, draus Silberquellen brachen,
Und Lieder singend, die von Liebe sprachen,
Gar oft ein Wandern war es und ein Liegen
An Stätten, jedem Blick und Ohr verschwiegen;
Am heißen Mittag und im Mondenschein
In dunklen Lauben saßen sie allein;
Sie lasen auf dasselbe Buch gebückt
Und Haar und Schläfen warm sich nahgerückt,
Und so geschah’s, dass manchmal Hand in Hand
Und Aug’ in Auge sich zusammenfand,
Und kam es, dass sich auch die Lippen fanden,
In Sehnsucht eng die Arme sich umwanden.
Es währte lang-holdselige Sommerzeit,
Ein Doppelherzschlag höchster Seligkeit.
Doch als der Herbst kam, trennten sich die Beiden,
Zunächst in herbem Leid. Warum dies Scheiden?
Schon oftmals so geschah’s, und keinen Grund
Für andre thaten klaren Wort’s sie kund.

So war’s einmal, und lange Zeit verrann.
Da kam zur Welt ein grundgescheiter Mann,
Zwar in den Windeln noch nicht grundgelehrt,
Doch für so hohes Ziel der Welt beschert.
Er ward ein Mann, der allzeit forschen musste,
Das zu ergründen, wovon niemand wusste.
So kam er auch an kärgliche Berichte
Von jener jungen Herzensbund-Geschichte,
Die einst in fernentschwundnen Sommertagen
Verschwiegen-duftumhüllt sich zugetragen.
Doch keinen Schleier gab’s für seine Augen;
Ihm ward die Kraft, wie Bienen Honig saugen,
Geheimstes zu erspähn, und sonnenklar
Ihm jeder Tag der beiden offenbar.
Ja, jeder Stunde Wanderung und Rast,
Mit Sehergabe hielt er sie erfasst
Und gab der Mitwelt drauf getreu zu lesen,
Wie alles war, geworden und gewesen.
Und eine Feierhymne sang er drein,
Wie unschuldslicht, ätherisch, engelrein
Der Beiden Neigung, irdisches Verlangen
Nicht kennend, sich geschwisterlich umfangen.
Vergeblich, als sein Buch zur Hand mir kam,
Sann ich, woher er all’ die Einsicht nahm,
Die ihn zu solchem Hymnus in den Stand
Versetzt gehabt, bis ich den Aufschluss fand:
Vermuthlich sang der brave Mann Discant [3].

In: Vom Morgen zum Abend (2. Aufl. [1907]), 402 ff.

[zu 1] Das vorausgeschickte zweizeilige Zitat verweist auf das unten stehende Gedicht von Heinrich Heine. (Den Hinweis verdanke ich Wolfgang v. Ungern-Sternberg.)

Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.

[zu 2] selbander = zu zweit

[zu 3] Discant = hohe Stimmlage, Sopran