Narzissmus

… – über die groteske Entstehung eines widersinnigen Begriffes

Eine Sprachverwirrung von babylonischem Ausmaß

Die Ideen dieses Artikels sind inzwischen auch publiziert: Klaus Schlagmann: Zur Rehabilitation von Narziss – Mythos und Begriff. In: Integrative Therapie – Zeitschrift für vergleichende Psychotherapie und Methodenintegration, Vol. 34, 2008, 443-464

Alfred Binet

Der Eintritt des Begriffes ‚Narzissmus‘ in die psychiatrische Terminologie (von der Sprachlogik her müsste es eigentlich ‚Narzissismus’ heißen, wie es auch beispielsweise im angloamerikanischen Bereich – ‚narcissism’ – übersetzt ist) beginnt wohl im Jahr 1887 mit einem Text von Alfred Binet, in dem das Verhalten des Narziss, seine (angebliche) Selbstverliebtheit, als eine Art Perversion etikettiert wird. Binet beschreibt den Fall eines Mannes, der einen Fetischismus in Bezug auf weiße Schürzen entwickelt hat (S. 264): „Das, was er liebt, sind die Schürzen an und für sich. Er kann sie nicht in der Sonne trocknen oder in einem Geschäft gestapelt sehen, ohne Lust zu haben, sie zu ergattern. Man hat bei ihm Stöße von gestohlenen weißen Schürzen entdeckt. In diesem letzten Fall hat der Fetischismus seine vollkommenste Entwicklung erreicht; es scheint unmöglich, noch darüber hinaus zu gehen; die Bewunderung erstreckt sich allein auf ein materielles Objekt. In keinem Moment ist die Frau dazwischengetreten.“ Dazu in einer Fußnote: „Bei diesem Kranken ist die Verknüpfung der Empfindungen durch ein persönliches, egoistisches Vergnügen bedingt. Es gibt ohne Zweifel Subjekte, bei denen der Fetischismus ihre eigene Person zum Gegenstand hat. Die Fabel des schönen Narziss ist ein poetisches Bild solch trister Perversionen. Übrigens findet man überall bei diesem Thema, dass die Poesie die pathologische Tatsache bemäntelt und versteckt.“ Narziss wird ganz auf den Aspekt Selbstverliebtheit reduziert, und zwar völlig einseitig im Sinne einer Perversion. (Binet kann also für sich reklamieren, als einer der ersten dem Narziss eine Perversion attestiert zu haben.) Der Aspekt ‚Selbstbewusstsein’, der in dem Mythos deutlich hervortritt, wird von Binet völlig übersehen, ebenso, dass das Betrachten und das vergebliche Umarmen-Wollen des eigenen Spiegelbildes wohl vor allem das Leiden an der Vergänglichkeit zum Ausdruck bringt.

Havelock Ellis (1898, 1900, …) – häufiges Phänomen bei Frauen 

Bedeutsam für die weitere (reichlich verwirrende) Begriffsgeschichte des ‚Narzissmus‘ ist zunächst Havelock Ellis (1898), der in einem Aufsatz über „Auto-Erotismus“ diesen umschreibt als „das Phänomen der spontanen ge­schlecht­lichen Erregung ohne irgend welche Anregung direkter oder indirekter Art seitens einer anderen Person“ (S. 260 ). Und (S. 280 f.): „Im weitesten Sinne gehören zum Auto-Erotismus nicht nur diejenigen Formen von umge­wan­del­ter niedergehaltener sexueller Energie, die einen Faktor so vieler krankhafter Zustände ausmachen, sondern es gehören hierher auch die normalen Äusserungen von Kunst und Poesie, die dem Leben erst mehr oder weniger Reiz verleihen“. Und dann: „Um diese Zusammenfassung des Hauptphänomens des Auto-Erotismus zu vervollständigen, darf ich kurz die Tendenz erwähnen, die manchmal, vielleicht besonders vermehrt bei Frauen, gefunden wird, daß nämlich sexuelle Gefühle in der Selbstbewunderung absorbiert werden und dabei oft gänzlich verloren gehen. Diese Narziss-artige Tendenz, deren normaler Keim bei den Frauen durch den Spiegel symbolisiert wird, wird in geringerem Grad bei manchen weiblich gesonnenen Männern gefunden, aber sie scheint sehr selten bei Männern gefunden zu werden, abgesehen davon, wenn es um sexuelle Anziehungskraft geht, dieser Anziehungskraft ist sie natürlich in normaler Weise dienlich. Aber gelegentlich scheint sie bei Frauen für sich selbst zu bestehen, unter Ausschluß irgendeiner Anziehungskraft für andere Personen. Ein typischer Fall ist der einer Dame von 28, von sehr großen und feinen Proportionen, aktiv und intelligent, jedoch ohne deutliche sexuelle Hinneigung zum anderen Geschlecht; gleichzeitig ist sie nicht invertiert, obwohl sie gerne ein Mann wäre, und sie weist einen gehörigen Grad von Verachtung gegenüber Frauen auf. Sie zeigt eine intensive Bewunderung für ihre eigene Person, besonders für ihre Schenkel; niemals ist sie glücklicher, als wenn sie sich alleine und nackt in ihrem Schlafzimmer befindet, und, soweit es möglich ist, kultiviert sie Nacktheit. … Sie ist frei und sicher in ihrem Benehmen, ohne sexuelle Scheu, und während sie bereitwillig die Aufmerksamkeit und Bewunderung anderer empfängt, unternimmt sie doch keinerlei Bemühungen, sie zu erhalten, und hat niemals zu irgendeiner Zeit irgendwelche Gefühle erfahren, die stärker sind als ihr eigenes Vergnügen an sich selbst.

Bei den „Narziss-artigen Tendenzen“ im Sinne von Ellis gehen also sexuelle Gefühle „oft gänzlich verloren“. Darüber hinaus existieren für Ellis durchaus „normale Keime“ dieser „Narziss-artigen Tendenz“ – sie dürften in seinen Augen also ziemlich verbreitet sein; sie zeigen sich vor allem bei Frauen, welche sich gerne im Spiegel betrachten. Diese Tendenz sei bei Männern einerseits sehr selten anzutreffen, andererseits sei sie auch ihnen „natürlich in normaler Weise dienlich“, wenn sie sich um ihre „sexuelle Anziehungskraft“ bemühten.

Ellis erläutert in einem Aufsatz von 1927, als er die Entstehung des inzwischen in bestimmten Fachkreisen höchst beliebten Begriffes ‚Narzissmus‘ rekapituliert, dass er um 1898 öfter in Kontakt gestanden habe mit Paul Näcke, der eine psychiatrische Anstalt in Hubertusberg bei Leipzig geleitet habe. Mit diesem habe er öfter Aufsätze ausgetauscht, die sie dann jeweils für Zeitschriften ihrer Heimatländer zusammenfassten. So habe dann Näcke in einem Artikel (1899 a) auch die Ideen von Ellis (1898) aufgegriffen.

Paul Näcke, Erfinder des “Narcismus” (1899 b) – seltene Perversion, v.a. bei Männern

Näcke schreibt (1899 b, S. 375): „Auf alle Fälle viel seltener als das Tagträumen ist der Narcismus, die Selbstverliebtheit. Hier ist die Grenze gegen blosse Eitelkeit zu ziehen und nur dort, wo das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist, kann mit Fug und Recht von Narcismus gesprochen werden. [*] Das wäre der klassischste Fall von ‚auto-erotism’ im Sinne von H. Ellis. Nach ihm soll Narcismus besonders bei Frauen sich finden, vielleicht weil der normale Keim dazu ‚is symbolized by the mirror.’ Auch hier giebt es noch viel zu forschen, vor Allem aber einwandfreies Material herbei­zu­schaf­fen.“ Näcke kann also die Urheberschaft des Begriffes „Narcismus“ für sich reklamieren, wobei er eine Idee aufgreift, die er bei Ellis gefunden hat. Er versteht darunter jedoch – geradezu im Gegensatz zu Ellis! – eine sehr seltene, spezielle Störung, bei der allein das Betrachten des eigenen Körpers sexuelle Erregung auslöst. Nach einer Untersuchung habe er dieses Symptom bei fünf von 1500 untersuchten „Irrsinnigen“ (vier Männern, einer Frau) gefunden (1899 b, zit. nach Ellis, 1907, S. 282) – also in achtzig Prozent seiner Fälle bei Männern.

Ellis zeigt sich im Jahr 1907 anscheinend mit der Übertragung von Näcke (1899 b) noch eher einverstanden (1907, S. 280 f.): „Die extremste Form des Auto-Erotismus besteht in der Neigung der sexuellen Erregung, sich ganz oder teilweise in Selbstbewunderung zu verlieren, die vielleicht hauptsächlich bei Frauen (obgleich das nicht feststeht) vorkommt. Diese narzissähnliche Tendenz, deren normaler Ausdruck bei Frauen das Sich im Spiegel Bewundern ist, findet man in geringerem Grade auch beim Manne“. Und dann (S. 282): „Seit ich die Aufmerksamkeit auf diese Form des Auto-Erotismus gelenkt habe, haben verschieden Schriftsteller diesen Zustand besprochen, besonders Näcke, der dem Winke folgend, diesen Zustand Narzissmus nennt.“ Einerseits vollzieht Ellis selbst zunächst noch die Ausgestaltung dieses Begriffes in Richtung einer „extremsten Form des Auto-Erotismus“ mit, er schränkt auch seine ursprüngliche Position ein wenig ein, bei der er den Narzissmus vor allem den Frauen attestiert hatte, wobei er hier seine alte Behauptung wiederholt, ihr jedoch in Klammern die Bemerkung „obgleich das nicht feststeht“ beifügt. Andererseits wiederholt Ellis, dass sich die sexuelle Erregung dabei ganz oder teilweise in der Selbstbewunderung „verliert“.

Näcke schreibt im Jahr 1906 (S. 125) – etwas im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Sichtweise: „So berichtete ich einmal von einer periodisch erregten Frau, die, wenn sie im Sturme war, sich Arm und Hand küßte und dabei ganz verliebt aussah. Diesen Fall rechnete ich zu den so überaus seltenen echten Fällen von Narzißmus. Es ist überhaupt der einzige Fall, der mir bisher aus einer Irrenanstalt bekannt wurde. Sexuell bedingt ist die Sache wahrscheinlich.“ Und (S. 127): „Bezüglich des Narzißmus sah ich unterdes einen zweiten Fall. Ein junger Mann (dem[entia]. Praec[ox]. paranoides), den 29. Juni 1905 in Hubertusburg aufgenommen, spiegelte sich den 19. August in einer Fensterscheibe ab und küßte sein eigenes Spiegelbild. Am 11. Oktober bemerkt die Krankengeschichte: ‚Bespiegelt sich in den Fensterscheiben und lacht sein Bild an.’ Wahrscheinlich liegt hier ein sexueller Hintergrund vor. Man könnte solche Fälle auch Auto-Erotismus nennen, welche Bezeichnung H. Ellis aber für Onanie gebraucht, was weniger zweckdienlich erscheint.

Im Jahr 1906 fasst Näcke also den „Narzißmus“ weiterhin als ein sehr seltenes Phänomen auf. Während er 1899 den Narzissmus zunächst strikt auf „das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile“ beschränkt, spricht er in dem ersten Fall von 1906 ausdrücklich vom Küssen der eigenen Arme und Hände. In dem Artikel von 1906 wird dann weder beim ersten Fall, noch beim zweiten Fall deutlich, ob es hier zum Orgasmus kommt – ein Aspekt, dem er 1899 noch ganz zentrale Bedeutung beimisst: „nur dort, wo das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist, kann mit Fug und Recht von Narcismus gesprochen werden“ (Näcke, 1899 b, S. 375).

In seinem rückblickenden Kommentar von 1927 referiert Ellis die oben zitierte Passage von Näcke (1899 a) und kommentiert dabei an der von mir mit [*] bezeichneten Stelle, als Näcke zu den Bestimmungsstücken des echten Narzissmus den Orgasmus beim Betrachten des eigenen Körpers zählt: „Ich hatte das nicht gesagt und kann diese Aussage nicht akzeptieren.“ Diesen deutlichen und berechtigten Widerspruch hatte er im Jahr 1907 noch nicht erhoben.

Für die Psychoanalyse: Isidor Sadger (1910) – Narzismus und Homosexualität

Innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft taucht der Begriff des ‚Narzissmus ‘ spätestens ab dem Jahr 1909 auf. Damals bemüht sich Isidor Sadger um ein Verständnis der Homosexualität. Sie tritt – laut Sadger (S. 111 f.) – „in der Regel und jedenfalls am stärksten in der Pubertät zutage, für unsere Breiten also mit 10 oder 11 Jahren. … Ausgelöst wird das ständige homosexuelle Empfinden gewöhnlich durch ein bedeutsames Ereignis, das die Mutter von ihrer bisherigen Rolle der idealen Helferin, Lehrerin und Erzieherin für immer oder mindestens lange verdrängte. … Bezeichnend ist auch, daß in den homosexuellen Idealen neben den Zügen der bisher hetero- wie homosexuell Geliebten auch die eigene Person ganz deutlich in den Vordergrund tritt und in einer Reihe von Eigentümlichkeiten unzweifelhaft Verwendung findet. … Wir sind hier bei einem ganz neuen Punkte, der für das Ganze der Inversion mir entscheidend dünkt: der Weg zur Homosexualität führt nämlich stets über den Narzismus, d.h. die Liebe zum eigenen Ich. Das konnte ich in all’ meinen Fällen nachweisen und auch Freud hat mir dies über meine Frage von seinen Urningen bestätigen können. Der Narzismus ist nun nicht etwa ein vereinzeltes Phänomen, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe beim Übergang vom Autoerotismus zur späteren Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person, hinter welcher sich die in die eigenen Genitalien verbirgt, ist ein nie zu fehlendes Entwicklungsstadium. Von da erst geht man später zu ähnlichen Objekten über. … Der Urning kommt von sich selber nicht los, das ist sein Verhängnis.

Schon beim Treffen der Mittwochsgesellschaft vom 10.11.1909 hat Freud sich anerkennend über diesen Gedanken von Sadger geäußert (Nunberg & Federn, Protokoll v. 10.11.1909): „Neu und wertvoll scheine die Bemerkung Sadgers, die sich auf den Narzissmus beziehe. Dieser sei keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe. Die Verliebtheit in die eigene Person (= in die eigenen Genitalien) sei ein notwendiges Entwicklungsstadium. Von da gehe man zu ähnlichen Objekten über. Der Mensch hat allgemein zwei ursprüngliche Sexualobjekte, und sein weiteres Leben hängt davon ab, bei welchem er fixiert bleibe. Diese beiden Sexualobjekte sind für jeden das Weib (die Mutter, Pflegerin etc.) und die eigene Person. Und es komme darauf an, beide loszuwerden und bei beiden nicht zu lang zu verweilen. Die eigene Person ist es dann meist, die sich durch den Vater ersetzt, der jedoch bald in die feindliche Position tritt. Die Homosexualität zweigt an der Stelle ab. Er kommt von sich nicht so bald los, wie dieser Fall sehr schön zeigt.

Otto Rank (1911) – Verschleierung des Mythos

Ein Beitrag zum Narzissismus (1911) von Otto Rank ist der erste Versuch, diesen Begriff ganz für die Psychoanalyse zu besetzen. Zunächst umreißt Rank relativ differenziert dessen Entstehungsgeschichte, hebt dabei die Bedeutung von Ellis hervor (S. 401): „Seitdem Havelock Ellis zuerst die Aufmerksamkeit auf den pathologischen [Endnote 1] Zustand der Verliebtheit in die eigene Person als einer besonderen Form des Autoerotismus gelenkt hat, wurde diese Erscheinung, die Näcke einem Winke von Ellis folgend ‚Narzissismus’ nannte, von einzelnen Forschern gelegentlich gestreift. Doch ist außer ein paar recht interessanten kasuistischen und literarischen Hinweisen, insbesondere bei Ellis, nichts über Ursprung und den tieferen Sinn bekannt geworden.“ Es trifft allerdings nicht zu, dass Näcke von „Narzissismus“ gesprochen hätte, wie es von der Begriffslogik her tatsächlich heißen müsste. Näcke schreibt jedoch „Narcismus“ (1899 a, S. 375) oder „Narzißmus“ (1906, S. 125, 127).

Auf diese Einführung in die Entstehung des Begriffes und die Mitteilung, dass „nichts über Ursprung und den tieferen Sinn bekannt geworden“ sei, folgt dann eine etwas vollmundige Ankündigung (ebd.): „Der psychoanalyti­schen Forschung war es auch hier vorbehalten, ein erstes Licht auf die Genese und die vermutlichen psychosexuellen Zusammenhänge dieser eigenartigen Libidoeinstellung zu werfen, ohne daß es jedoch damit gelungen wäre, deren Bedeutung für das Seelen‑ und Liebesleben der Menschen ihrem vollen Umfang nach würdigen zu lernen.“ Hier verweist Rank dann auf die angeblich Untersuchungen zum „Narzissismus“ = „Verliebtheit in die eigene Person“ als „ein normales Entwicklungsstadium“, als ein „notwendige[r] Übergang vom reinen Auto­erotismus zur Objektliebe“, wie es Sadger zuvor dargestellt hatte.

Rank lässt sich immerhin etwas näher auf den dazugehörigen griechischen Mythos ein (Rank, 1911, S. 407): „Diese Verliebtheit in das eigene unerkannte Ebenbild, welche den narzissistischen Einschlag in der Wahl des homosexuellen Liebesobjektes deutlich verrät, liegt auch der euboiisch‑boiotischen Sage von Narkissos zugrunde, der sich nach Ovid (Metam. III 402‑510) in sein eigenes, im Wasser geschautes Spiegelbild, das er für einen schönen Knaben hält, dermaßen verliebt, daß er dahinsi[e]cht. Der römische Dichter stellt diese quälende Selbstliebe, wie es scheint in freier Erfindung, als Strafe für die verschmähte Liebe der Echo dar, während Wieseler (Narkissos, Göttingen 1856) den Mythus auf die kalte Selbstliebe bezieht. Doch weist der Mythus auch homosexuelle Züge auf: Ameinias entleibt sich vor der Tür des Narkissos, als dieser ihm ein Schwert als Antwort auf seine Werbung schickt.

Rank fixiert sich hier ganz auf die angebliche „Selbstliebe“ des Narziss. Er entstellt dabei grob die Sichtweise von Wieseler. Dieser hatte referiert (1856, S. 74): „Den Alten im Allgemeinen gilt Narkissos als Repräsentant harter Sprödigkeit, eitler oder kalter Selbstliebe, aber auch lobenswerther Enthaltsamkeit.“ Er weist in seiner Arbeit vor allem akribisch den Bezug des Narkissos zu Vergänglichkeit und Tod nach und betont dies als den zentralen Aspekt des Mythos. Dem Eros gesehen „als die in Liebe ver­einigende Kraft, welche in der Natur Leben hervorbringt“ (S. 90) – stehe Narkissos als „Gegenpart“ gegenüber, und zwar wegen seines Be­zugs zu dem „in kalter Gleichgültigkeit erstarren­­ma­chen­den oder auflösenden Tod in der Natur“ (ebd.). Rank hat dies geflissentlich verschwiegen.

Rank verschleiert auch die deutliche Darstellung der Ablehnung von Homosexualität durch Narziss. Seine Aussage – „Ameinias entleibt sich vor der Tür des Narkissos, als dieser ihm ein Schwert als Antwort auf seine Werbung schickt“ – lässt ja nun alle möglichen Wege zur Deutung offen. Ist Narziss vielleicht ein Rowdy, ein rüpelhafter Bursche, der harmlose Bewerbungen um eine Beziehung gleich mit symbolischen Morddrohungen quittiert? Oder war das Schwert vielleicht als Geschenk gedacht, das Ameinias tragisch missverstanden hat? Oder sollte das vielleicht sogar zum Ausdruck bringen, wie spitz der geile Narkissos auf Ameinias war? Keine Details. Keine Rede davon, dass mehrere verliebte Männer erwähnt werden, deren Bewerbung Narziss ablehnt. Keine Auskunft darüber, dass Ameinias die klare Absage mit dem Schwert deshalb bekommt, weil er den Narziss so beharrlich umwirbt – und ihm damit auf die Nerven geht. Und auch keine Mitteilung von der überdeutlichen Reaktion des Ellops, der den Narziss bewusst tötet, weil er ihm nicht willfährig ist. Dieser ins Auge springende Charakterzug des Narziss, dass er wiederholt das homosexuelle Begehren anderer zurückweist, diese Ablehnung sogar mit dem Leben bezahlt, das passt den psychoanalytischen ‚Wissenschaftlern’ natürlich überhaupt nicht ins Konzept – zu ihren neuesten Entdeckungen zählt es ja, dass gerade die Homosexuellen typische Vertreter des Narzissmus sind. Da wird halt das Ganze schön zurecht gebogen: „Doch weist der Mythos auch homosexuelle Züge auf“. Narziss hat was mit Homosexualität zu tun. Dagegen lässt sich nichts sagen. Jedoch verschleiert diese schwammige Erläuterung, dass es hier um Selbstbehauptung gegen homosexuelle Bedrängnis geht. Zug um Zug wird der Boden bereitet für die Verdrehung der Wirklichkeit des Mythos.

Sigmund Freud (1914) – Verkehrung ins Gegenteil

Drei Jahre nach seinem Schüler betritt Meister Freud selbst die Arena und widmet dem Thema ‚Narzissmus‘ eine erste größere Abhandlung. Er selbst bezieht sich an keiner Stelle mehr auf den Gehalt des Mythos. So muss er sich erst gar nicht mit irgendwelchen Ungereimtheiten herumschlagen. Seine epochalen Ausführungen leitet er wie folgt ein (Freud, 1914/1924, S. 3): „Der Terminus Narzißmus entstammt der klinischen Deskription und ist von P. Näcke 1899 zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis er durch diese Vornahmen zur völligen Befriedigung gelangt. In dieser Ausbildung hat der Narzißmus die Bedeutung einer Perversion, welche das gesamte Sexualleben der Person aufgesogen hat, und unterliegt darum auch den Erwartungen, mit denen wir an das Studium aller Perversionen herantreten.

Freud tut so, als existierte in der psychiatrischen Fachwelt bereits die Übereinstimmung, dass bestimmte klinische Phänomene sich mit dem Begriff „Narzißmus“ klar beschreiben ließen. Er bezieht sich dabei auf den reichlich verwirrten Näcke, der – wie oben dargestellt – in der Übersetzung einer Passage von Ellis aus der „Narziss-artigen Tendenz“ den Begriff des „Narcismus“ schöpft, den er dann jedoch ganz anders ausgestaltet hat, als Ellis offenbar verstanden sein wollte. Freud selbst wiederum setzt diese Verdrehungen fort, indem er beim „Narzißmus“ von Streicheln und Liebkosungen redet, was Näcke (übrigens ebenso wie Ellis, 1898) – jedenfalls bei seiner Definition von 1899, auf die sich Freud angeblich bezieht – ja geradezu ausgeschlossen hatte. Freud bleibt wiederum unklar, wenn er von „völliger Befriedigung“ spricht, zu der der Narzisst bei den angeblichen Liebkosungen seines Körpers gelange, womit er wohl den Orgasmus umschreiben möchte, den Näcke (1899 a) noch als zwingend notwendige Zutat benannt hatte, um „mit Fug und Recht von Narcismus“ sprechen zu können. Ellis, der den ursprünglichen Anstoß für diesen Begriff gegeben hatte, hatte dagegen gerade nicht gemeint, dass es bei „Narziss-artigen Tendenzen“ zum Orgasmus kommen müsse, vielmehr, dass dabei die sexuelle Erregung in der Selbstbewunderung verloren gehe, wobei auch Näcke in seiner späteren Betrachtung von 1906 den Orgasmus gar nicht mehr erwähnt.

Mittlerweile wird unter dem Begriff Narzissmus eine Vielzahl von Phänomenen subsumiert. Beispielhaft seien hier einige Aussagen zitiert, bezogen auf den angeblichen Narzissmus in der menschlichen Entwicklung, der Persönlichkeit und der Beziehungsaufnahme.

Der primäre Narzissmus – Heinz Müller-Pozzi (1995)

„Das Konzept des primären Narzißmus versucht, unter dem Gesichtspunkt des Selbst zu erfassen, wie wir uns das Erleben des Kindes … sinnvollerweise vorstellen können. Als Teil der bedürfnisbefriedigenden Mutter lebt das Kind (während „der ersten Lebensphase“; K.S.) noch weitgehend in der Illusion der automatischen Versorgung und totalen Befriedigung. Es glaubt, aus unerschöpflichen Quellen zu leben, ohne Bedürfnis, Mangel und Versagung, ohne Angst, Schmerz und Not. Die Psychoanalyse stellt sich den primären Narzißmus nach dem Vorbild der intrauterinen Existenz als spannungslosen, ausgeglichenen Zustand fraglosen Wohlbefindens und Behagens außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität vor“ (Müller-Pozzi, 1995, S.140).

Primärer Narzissmus wird hier verstanden als „spannungsloser, ausgeglichener Zustand fraglosen Wohlbefindens“. Aber warum sollte sich ein Kleinkind der Illusion hingeben, dass es „automatisch versorgt“ würde und „totale Befriedigung“ fände? Es wird doch wohl oft genug die gegenteilige Erfahrung machen, deshalb kaum glauben können, „aus unerschöpflichen Quellen zu leben“, unabhängig von den realen Verhältnissen. Müller-Pozzi attestiert dabei dem hilflosen Säugling regelrechten Größenwahn: „Der Säugling … ist absolut abhängig und erlebt sich omnipotent (Winnicott 1978). Es gibt noch nichts außerhalb seiner selbst. Was einmal die Mutter werden wird, gehört noch in den Umkreis seiner Omnipotenz. Die ‘omnipotente Abhängigkeit’ prägt auch die frühesten Phantasien. Es sind Phantasien der Unerschöpflichkeit, der Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit(Müller-Pozzi, 1995, S. 126).

Warum sollte sich ein Säugling allmächtig fühlen, glauben, dass es außer ihm selbst nichts gäbe auf der Welt? Warum sollte er die Mutter als ein einfaches Anhängsel seiner selbst betrachten, von Unerschöpflichkeit, Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit phantasieren? Säuglinge empfinden ihre Situation vermutlich wesentlich differenzierter (vgl. Dornes, 1995)!

Hinter der angeblichen Fassade von Allmächtigkeit und „fraglosem Wohlbefinden“ werden jedoch gleichzeitig die bizarrsten triebhaften Abgründe vermutet: „An die Stelle der automatischen und totalen Versorgung tritt das orale Triebgeschehen … Die ‚wunschlose Befriedigung‘ des intrauterinen Lebens differenziert sich in eine grenzenlose Befriedigung mit hoher sinnlicher und coenästhetischer Qualität auf der einen, Gier, Ungeduld, Unersättlichkeit und Neid auf der anderen Seite. … Die Mutter ist in dieser prekären Situation nicht allein Triebobjekt. Sie übernimmt auch Ich-Funktion für ihr Baby. … Indem sich die Mutter auffressen läßt, ohne sich für die Zerstörung zu rächen, bindet sie mit ihrer reifen Liebe den destruktiven Anteil im primitiven Liebesimpuls des Kindes und macht Intensität möglich, eine Intensität, die wohl mit Gier am besten kennzeichnen läßt. Läßt sich die Mutter von ihrem Baby gierig lieben, kann das Kind rasch die primitive Aggressivität für Haßgefühle mobilisieren, die Abgrenzung und Trennung ermöglichen“ (Müller-Pozzi, a.a.O., S. 126 f).

Die unterstellten narzisstischen Züge des Kleinkindes setzen sich angeblich über die Phase des „primären Narzißmus“ hinaus fort:

„Das Kind, das der Dyade entschlüpft und erste Objektbesetzungen aufbaut, begehrt nicht allein Triebbefriedigung, sondern auch Erfüllung seiner narzißtischen Wünsche. Es verlangt nach Bewunderung und Bestätigung seiner Phantasien von Unabhängigkeit, Kompetenz, Erhabenheit und Größe. … Es will von den Menschen, die es liebt, idealisiert werden“ (a.a.O., S.137 f).

Die „narzißtischen Wünsche“ des Kleinkindes werden als eine Art von Rücksichtslosigkeit gefasst: Als ungehemmter Drang, die Eltern (oder andere) für die eigene Selbstbestätigung quasi zu missbrauchen. (Dabei besteht das eigentliche Problem doch nur allzu oft darin, dass gestörte Eltern von dem Kind erwarten, dass sie in ihrer Allmacht idealisiert werden.)

Müller-Pozzi umschreibt mit dem primären Narzissmus eine Entwicklungsphase des Kleinkindes, in der dieses allein aus Gründen des Überlebens darauf angewiesen ist, deutlich auf sich aufmerksam zu machen. Das so selbstverständliche Sich-Einsetzen des Kindes für seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kontakt oder Körperpflege wird diffamiert als Omnipotenzgebärde, Allmachtsphantasie oder Anspruch auf Bewunderung, begleitet von Gier und Unersättlichkeit. Dies schafft ein Zerrbild vom Kleinkind als triebgesteuertem Monster, das eventuell seine seelische und körperliche Misshandlung durch Erwachsene rechtfertigt.

Kleiner Exkurs über „Objekte“

Gerade im Zusammenhang mit kindlicher Entwicklung und Narzissmus (s.o.) ist immer wieder die Rede von: Objekt, Triebobjekt, Objektbesetzung, Objektbeziehung, narzisstisches Objekt u.s.w., wobei das „Objekt“ jeweils auf einen Mitmenschen verweisen soll.

Ein „Objekt“, so mein etymologisches Wörterbuch, ist ein „Gegenstand oder Ziel des Denkens und Handelns, Sache von besonderem Interesse, Vertragsgegenstand“ (EwdD, „Objekt“), abgeleitet von „lat. obicere (obiectum) ‚entgegenwerfen, -stellen, vorsetzen, darbieten, vorwerfen‘“ (a.a.O.), also ein Etwas (Neutrum), das entgegengeworfen, entgegengestellt, vorgesetzt, dargeboten, oder vorgeworfen wird. Der Begriff ist ursprünglich ganz der Welt der Gegenstände vorbehalten.

Er wird jedoch von Psychologen darauf übertragen, wie angeblich Kleinkinder ihre mitmenschlichen Beziehungen entwickeln und Erwachsene sie pflegen. Damit wird den Angesprochenen unterstellt, dass sie ihr Gegenüber als willenloses Ding betrachteten, und nicht in der Lage wären, dessen Eigenständigkeit anzuerkennen. Höchste Zeit, diese implizite Diffamierung derjenigen zu beenden, von denen die angeblichen „Objektbeziehungen“ ausgehen, und das „Objekt“ aus dem psychologischen „Sprachschatz“ zu streichen, und z.B. von einem Menschen zu reden, wenn ein Mensch gemeint ist.

Narzisstische Persönlichkeiten – Otto F. Kernberg und Kathrin Asper

Otto F. Kernberg (ihm ist auf dieser Seite ein ausführliches Kapitel gewidmet) definiert: Narzißtische Persönlichkeiten fallen auf durch ein ungewöhnliches Maß an Selbstbezogenheit im Umgang mit anderen Menschen, durch ihr starkes Bedürfnis, von anderen geliebt und bewundert zu werden, und durch den eigenartigen (wenn auch nur scheinbaren) Widerspruch zwischen einem aufgeblähten Selbstkonzept und gleichzeitig einem maßlosen Bedürfnis nach Bestätigung durch andere. Ihr Gefühlsleben ist seicht; sie empfinden wenig Empathie für die Gefühle anderer und haben – mit Ausnahme von Selbstbestätigungen durch andere Menschen oder eigene Größenphantasien – im Grunde sehr wenig Freude am Leben; sie werden rastlos und leiden unter Langeweile, sobald die äußere Fassade ihren Glanz verliert und momentan keine neuen Quellen der Selbstbestätigung mehr zur Verfügung stehen.“ (1990, S. 261).

Kathrin Asper sieht als „Wesenszüge des narzißtischen Menschen: „Angst vor Verlassenheit … Gefühlsdefizienz … Grandiosität und Depression … Gestörte Sexualität … Mangelndes Symbolverständnis … Unzureichende Wahrnehmung … Mangelndes biografisches Bewußtsein … Übermäßige Angst … Unproportionierte Wut … Unausgewogene Nähe und Ferne … Konzentrationsmangel … Übermäßige Scham … Unklare Bedürfnisse“ (Asper, 1994, S. 69-72).

Die Autorin verwendet ihre Begriffe widersprüchlich: Narzißmus bedeutet Selbstliebe im Sinne des Bibelwortes ‘Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst’ (Mt. 19,19). Kurz gefaßt kann die narzißtische Störung als eine Beeinträchtigung der Selbstliebe verstanden werden, bedingt durch emotionale Verlassenheit des Kindes“ (a.a.O., S.63). Dann, zwei Seiten weiter: „Das Selbstwertgefühl des Narzißten ist demnach nicht stabil, arglos und selbstverständlich, sondern schwankt. Es schwankt zwischen Grandiosität und Depressivität“ (a.a.O., S.65). „Narzißmus“ wird als eindeutig positive Eigenschaft gesehen, aber der „Narzißt“ soll durch seine emotionale Störung gekennzeichnet sein? Das passt nicht zusammen.

Kernberg und Asper attestieren der „narzißtischen Persönlichkeit“ bzw. dem „narzißtischen Menschen“ unzählige problematische Eigenschaften, deren innere Zusammenhänge unklar bleiben, und die – wie ich zeigen werde – eher den genauen Gegentyp zu der Figur des Narkissos bilden.

Narzisstische Beziehungen – Otto F. Kernberg und Kathrin Asper

In punkto mitmenschlicher Beziehung ist Kernberg bei der narzisstischen Persönlichkeit aufgefallen: „Man beobachtet auch starken Neid auf andere … Die mitmenschlichen Beziehungen solcher Patienten haben im allgemeinen einen eindeutig ausbeuterischen und zuweilen sogar parasitären Charakter; narzißtische Persönlichkeiten nehmen gewissermaßen für sich das Recht in Anspruch, über andere Menschen ohne Schuldgefühle zu verfügen, sie zu beherrschen und auszunutzen; hinter einer oft recht charmanten und gewinnenden Fassade spürt man etwas Kaltes, Unerbittliches.“ (1990, S. 261f)

Kathrin Asper ergänzt: „Daneben läßt sich bei narzißtisch beeinträchtigten Persönlichkeiten eine stete Suche nach idealen Menschen und Verhältnissen beobachten. Sie ist verbunden mit einer ausgeprägten Idealisierungstendenz und einem Kontrollverhalten, wonach der Gegenüber die Erwartungen des narzißtisch verwundeten Menschen vollständig erfüllen muß“ (Asper, 1994, S.64).

Es ist interessant, dass auch hier das Ausbeuterische, Parasitäre, das Idealisierende oder Kontrollierende, das Kernberg und Asper der „narzißtischen Persönlichkeit“ zuschreiben, mit dem Mythos von Narkissos nur insoweit etwas zu tun hat, als es die Beziehungen kennzeichnet, denen der junge Mann ausgeliefert ist. Ihn selbst einer solchen Beziehungsgestaltung zu bezichtigen, stellt eine glatte Verkehrung ins Gegenteil dar.

Bei Kathrin Asper wird an manchen Stellen das Unverständnis des Mythos geradezu lächerlich. Sie sei hier noch einmal stellvertretend zitiert als Beispiel für das bizarre Missverständnis, das psychologische „Fachleute“ Mythen und Geschichten, also auch Lebensgeschichten von KlientInnen, entgegenbringen können. Sie schreibt:

„Tatsächlich erscheint der narzißtisch gestörte Mensch als in sich selbst verliebt, egozentrisch und egoistisch. … Die Gier nach Echo ist als Versuch eines Menschen zu werten, der sich in der Tiefe nicht annehmen kann und bestrebt ist, durch Kompensation diesen Mangel auszugleichen“ (Asper, 1994, S.85, ähnlich S. 64).

Wie in den Ausführungen zum Mythos von Narziss ausführlich dargelegt, stellt es eine völlige Verdrehung der Tatsachen dar, Narkissos eine „Gier nach Echo“ zu unterstellen. Er möchte mit Echo nichts – aber auch gar nichts – zu tun haben! Weiter missversteht Asper:

„Die mangelnde Beziehungsfähigkeit zu einem Du zeigt sich ebenfalls im Narzissus-Mythus. Der schöne Jüngling ist von ‘sprödester Härte’ (354). Obgleich er Sehnsucht und Liebe bei anderen erweckt, kann er nicht lieben, kennt er kein Du. Selbst mit der Nymphe Echo kommt es zu keiner Beziehung, wie Echo sich nähert, ruft er: ‘(…)Fort! mit den Händen und Armen! Eher würde ich sterben’ (390/1). Echo, Bewunderung ersehnt sich der narzißtische Mensch und ist bereit, dafür manchen Kompromiß einzugehen. Im Gedicht Ovids jedoch kann Narzissus nicht einmal Echo lieben. Dies weist auf die tiefliegende Unfähigkeit (nicht im moralischen Sinne gemeint!) narzißtisch beeinträchtigter Menschen hin, echtes Echo, wahre Anerkennung wirklich auch auf emotionaler Ebene anzunehmen(a.a.O., S. 99).

Dass Narkissos von ‚sprödester Härte‘ sei, das ist lediglich das, was die anderen, der aufdringliche Ameinios und die geistlose Echo, über ihn fälschlich behaupten. Und: Von „Liebe“ kann doch bei der Nymphe gar keine Rede sein. Sie ist auf der Suche nach jemandem, dem sie nachplappern kann. Wenn sie den jungen Mann wirklich „geliebt“ hätte, dann hätte sie ihn mit ihrem hohlen Geplapper verschont. Narkissos dagegen ist keineswegs unfähig zu lieben, sondern er will und möchte zu Echo keine „Liebesbeziehung“ aufbauen. Es gibt da nichts, auf das Narkissos sich beziehen wollte und könnte. Sie ist kein richtiges Gegenüber, kein „Du“, sie ist halt nur Echo. Es fiele Narziss nicht im Traume ein, „Echo“ zu „ersehnen“ oder „auf emotionaler Ebene annehmen“ zu wollen.

Und dann: „echtes Echo“ – das ist zwar eine schöne Alliteration, aber ansonsten genauso unsinnig, als würde man von einer „echten Kopie“ reden.

Babels Turmbauruine

Siegfried Zepf und Bernd Nitzschke (1985) zum Begriff des „Narzißmus“: „man (ist) zunächst erstaunt über die Vielfalt der klinischen Phänomene, die von verschiedenen Autoren als „narzißtisch“ bezeichnet werden. Der Schlaf, das Daumenlutschen des Kindes, das strahlende junge Mädchen vor dem Spiegel, welches sich schön macht, der Wissenschaftler, der über die Verleihung des Nobelpreises stolz ist, gelten ebenso als „narzißtisch“ wie die höchste Sublimierung und die tiefste psychotische Regression. In manchen Fällen wird der Narzißmus für eine Erhöhung der männlichen Potenz verantwortlich gemacht, in anderen für ihre Abnahme. Man erkennt den Narzißmus in der Frigidität ebenso wie in der weiblichen Anziehungskraft. Man meint, er könne destruktive Impulse neutralisieren und gleichzeitig aber auch zu einer Angstquelle für das Ich werden. Einerseits wird er für den Aufbau einer Abwehr gegen Homosexualität verantwortlich gemacht, andererseits aber gelten gerade die Homosexuellen als besonders narzißtisch; und sowohl eine extreme Objektunabhängigkeit wie auch eine extreme Objektabhängigkeit werden gleichermaßen mit diesem Etikett versehen. … Vielfach wurde versucht, das Konzept von Verwirrung und Konfusion zu reinigen. In den verschiedenen theoretischen Bemühungen gelang es jedoch nicht, die im klinischen Alltag als „narzißtisch“ bezeichneten Phänomene konsistent mit der Empirie und innerhalb der psychoanalytischen Metapsychologie widerspruchsfrei, d.h. auch in Übereinstimmung mit anderen psychoanalytischen Konzepten, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen“ (Zepf & Nitzschke, 1985, S.865 f).

Die Verwirrung scheint sich bis heute noch nicht gelegt zu haben: Im Internet-Reader des Psychologischen Instituts der Universität des Saarlandes zum Thema Narzissmus (betreut von Joachim Wutke) war noch kürzlich zu lesen: „das Konzept des Narzißmus ist heute innerhalb der Psychoanalyse (und auch außerhalb) weniger denn je eindeutig bestimmt, es wird gelegentlich sogar höchst mißverständlich benutzt, es ist theoretisch nicht eindeutig geklärt und es werden viel zu viele Phänomene unter diesen Begriff subsumiert. … Die Unbestimmtheiten erstrecken sich sowohl auf den theoretischen wie deskriptiven oder auch metaphorischen Gebrauch“ (Wutke, Download vom 18.08.98).

Der Begriff Narzissmus erweist sich also insgesamt als völlig diffus, was ihn als Sammelbecken für alle möglichen ungeprüften Unterstellungen bestens qualifiziert.

Auch rein begriffslogisch ist der Narzissmus höchst fragwürdig. Ursula und Rebekka Orlowsky (1992, S. 19) stellen hierzu fest: „Neologismen wie … Narzißmus sind heute in aller Munde, ohne daß noch gefragt würde, was der neue Begriff subsumiert hat. Nicht immer ist den Sprechenden oder Schreibenden auch bewußt, daß die Ableitungssilbe ismus durch ihre abwertende Implikation ursprünglich auf Gegenstandslosigkeit und intellektuelle Substanzlosigkeit verweisen sollte. … Ungeprüft geblieben ist, ob Freuds Ableitung aus Ovids Text zulässig ist, d.h. ob die Verschmelzung Narziß = Narzißmus begründet werden kann und die negative Konnotation des Begriffs Narzißmus überhaupt Substanz hat. Im Deutschen ist zudem die Silbe is(mus) verschwunden; korrekt müßte es – wie im Englischen und Französischen narcissism(e) – Narzißismus heißen“.

Zepf & Nitzschke, Wutke sowie Orlowsky & Orlowsky erheben – aus der breiten Übersicht der psychologischen Fachliteratur – gegen den Gebrauch des Begriffes Narzissmus schwerwiegende Einwände. Dies unterstreicht die von mir beispielhaft erhobene Kritik an Müller-Pozzi, Kernberg und Asper. Das Konzept des Narzissmus erweist sich als babylonisches Turmbau-Projekt mit einer gewaltigen Sprachverwirrung.

Es empfiehlt sich in der Regel, auf Bauruinen mit brüchigen Fundamenten keine weiteren Aufbauten draufzusetzen, statt dessen zu prüfen, was sich von den Bauelementen noch als verwertbar erweist, ansonsten baldmöglichst den Abriss vorzunehmen. Der Boden des Ganzen – der ursprüngliche Mythos – ist auf jeden Fall nach wie vor zu gebrauchen

Endnote

[Endnote 1] pathologisch = krankhaft. Dabei hatte Ellis die „Narziss-artige Tendenz“ gerade NICHT zum krankhaften Zustand erklärt.