Kernbergs Praxis

… – mit sadistischem Ernst

Fallbeispiel 1

Auf seiner „theoretischen“ Basis kommt Kernberg zu einem hohen Maß von Abwertung und Undifferenziertheit gegenüber seinen KlientInnen (Kernberg, 1991, S.421 f): „Frau W war von hoher Intelligenz und auffallender physischer Attraktivität. Sie behandelte Männer grausam und ertränkte sich in Alkohol, wenn ihr unerträgliches Verlangen nach Liebe an die Oberfläche kam.“ Wie mag eine solche Beschreibung einer Klientin gerecht werden?

Ihre Einschätzung des Therapeuten: „Manchmal hielt sie mich für einen authentisch freundlichen und netten, aber inkompetenten Therapeuten, der nicht in der Lage war, sich wirklich in ihr Leid einzufühlen.“  Streicht man das „… authentisch freundlichen und netten, aber …“ (von Kernberg womöglich hinzugedichtet), dann ist Frau W nur uneingeschränkt Recht zu geben. Es muss kaum wundern, dass die Frau während ihrer Therapie (offenbar bei Kernberg selbst) einen Selbstmordversuch unternimmt, bei dem sie nur knapp dem Tod entkommt. Diese Verzweiflungstat führt dann letztlich zu einem Verlassen der Stadt nebst einem Therapeutenwechsel. Kernberg nimmt dies nicht im Mindesten zum Anlass, über eventuelle Therapiefehler nachzudenken. Im Gegenteil! Dies entspreche der „chronisch eisigen, hochmütigen und distanzierten Haltung“ von Frau W gegenüber dem Therapeuten, der „komplexe(n) Natur ihrer selbstdestruktiven Tricks“. Sie habe damit die „Behandlung zu unterminieren versucht“! So einfach – oder vielleicht besser: so kompliziert – ist das! (Übrigens anscheinend eine Standardreaktion von Kernberg auf Missratene Therapien oder Selbstmorde in der Therapie – vgl. Fallbeispiel 3 u. Fallbeispiel 6.)

Eine einmalige Entgleisung Kernbergs?

Fallbeispiel 2

Aus einem anderen Werk des vielzitierten Autors (Kernberg, 1993, S.172 f): „Dreimal innerhalb eines Jahres beschuldigte ein Patient den Therapeuten, eine Sitzung berechnet zu haben, die nicht stattgefunden habe. Beim ersten Mal dachte der Therapeut, daß er einen Fehler gemacht haben könnte, und korrigierte die Rechnung. … sechs Monate später beschuldigte ihn der Patient zum dritten Mal desselben Vergehens … An diesem Punkt sagte der Therapeut, er glaube, daß der Patient von dem überzeugt sei, was er sage, aber er selbst sei genauso davon überzeugt, daß er nicht zuviel berechnet habe. Dies ließ zwei Möglichkeiten offen: (1) er log den Patienten an; oder (2) beide lebten in nicht zu vereinbarenden Realitäten – in der Realität des Patienten war der Patient ehrlich und im Recht mit dem, was er sagte; in der Realität des Therapeuten war dieser ehrlich und im Recht mit dem, was er dachte.“

Auf die naheliegende Lösung (3), dass im besten Falle unklar ist, wer eigentlich Recht hat, dass der Therapeut offensichtlich zu gewissen Schlampereien in seiner Terminführung neigt, er ansonsten schon bei dem ersten Termin nicht die Rechnung korrigiert hätte, dass es endlich an der Zeit wäre, einen Modus zu vereinbaren, wie eine korrekte Terminabrechnung sichergestellt werden könnte, darauf kommt Kernberg scheinbar nicht. Es kommt noch schlimmer:

„Der Therapeut fuhr fort und sagte, daß ihre mißliche Lage der Situation gleiche, in der ein normaler Mensch und ein Wahnsinniger im gleichen Raum zusammen waren – nur, daß in ihrem Fall niemand sagen könne, wer normal und wer verrückt sei, weil es in dieser Situation keine Zeugen gebe. Solch eine Konfrontation ist oft wie ein Schock für den Patienten. In diesem Falle wurde der Patient wütend, denn er glaubte nicht, daß der Therapeut gelogen hatte, und dachte, der Therapeut beschuldige ihn daher, verrückt zu sein. Als der Therapeut auch weiterhin darauf bestand, daß einer von ihnen wahnsinnig sein müsse, da ja keiner von beiden lüge, wurde der Patient depressiv.“

Der Therapeut hält sich scheinbar ganz „neutral“, quasi: „Also ich sag’ ja gar nichts dazu, wer von uns beiden verrückt ist, nur: einer von uns muss es sein, und einer nicht“. Dass er sich selbst nicht für wahnsinnig hält, dagegen den Klienten für ein „Ungeheuer“, das wird aus den weiter unten zitierten Zeilen deutlich werden.

Der Klient steckt hier in einer Zwickmühle: Entweder er bezahlt das Geld, dann muss er sich selbst für „verrückt“ halten, weil er eine Stunde bezahlt, die er seiner Erinnerung nach nicht wahrgenommen hat. Oder er bezahlt nicht und ist dann durch die deutlich herauszuhörende Zuschreibung seines scheinbar so freundlichen, ganz gewährenden Therapeuten, des angeblichen Fachmannes in diesen Fragen, „wahnsinnig“, „verrückt“. Eine unentrinnbare Falle!

Und wie wirkt sich das aus?

„Wird die eben beschriebene Technik angewendet, werden Patienten typischerweise depressiv, besorgt und ängstlich. Wenn sie das Bewußtsein darüber aushalten können, daß sie sich ‚verrückt’ benehmen, tolerieren sie im Grunde einen psychotischen Kern. Sie können dann weiter durcharbeiten, was es für Patient und Therapeut heißt, in zwei Welten zu leben, die keine Berührungspunkte haben: was mit menschlichen Beziehungen geschieht, wenn es unmöglich ist, einen Kontakt herzustellen; das Mißtrauen und die Angst, die durch das Gefühl hervorgerufen werden, mit einem Ungeheuer zusammenzusein; und den Wunsch, die Beziehung mit dem Ungeheuer menschlicher zu gestalten.“

Kernberg scheint sich regelrecht zu wundern, dass seine „Behandlung“ den Klienten „depressiv, besorgt und ängstlich“ macht. Und er scheint gar nicht zu merken, dass er selbst jeden Berührungspunkt zu seinem Klienten unterbricht, wenn er ihn insgeheim ja offenbar sehr wohl als „’verrückt’“, ja sogar als „Ungeheuer“ empfindet und tituliert!

Fallbeispiel 3

„Ein Borderline-Patient verkündete im dritten Jahr seiner Behandlung plötzlich, daß er seinen Therapeuten nicht länger sehen könne, weil er sein Stipendium wegen nachlassender Noten verloren habe. Diese Tatsache mache es ihm unmöglich, den Therapeuten weiterhin zu bezahlen. Erst da wurde dem Therapeuten klar, daß dieser Patient während der letzten Monate von Zeit zu Zeit berichtet hatte, daß er es nicht geschafft habe, Arbeiten rechtzeitig abzugeben oder den geforderten Stoff zu lesen. Wie es häufig bei solchen Patienten der Fall ist, hatte er diese Handlung fortwährend irgendeiner anderen Kraft zugeschrieben (oder wegerklärt), etwa den Schwierigkeiten sich zu konzentrieren oder einem übermäßig fordernden Professor. Nur im Rückblick erkannte der Therapeut das lebenslange Muster von Destruktivität, das nun in dem Bedürfnis des Patienten die Behandlung zu zerstören, seinen Höhepunkt erreichte.“ (Kernberg, 1993, S.158).

Nach drei Jahren, angesichts eines drohenden finanziellen Verlustes, merkt der Therapeut „plötzlich“, dass sein junger Klient ihm „seit Monaten“ von seinen Studienproblemen erzählt hat, ohne dass er es wohl bislang auch nur annähernd für nötig empfunden hatte, darauf einzugehen. Die Benennung seiner Probleme als Konzentrationsstörungen oder Überforderungen durch einen Professor wird als „Wegerklären“ diffamiert. Die finanziellen Nöte werden überhaupt nicht ernst genommen. Sollte der junge Mann etwa einen größeren Kredit aufnehmen, um weiter seinen begnadeten Therapeuten bezahlen zu können?

Hier offenbart sich die Unwilligkeit des Autors, die reale Situation des Klienten ernst zu nehmen. Weil er die „Therapie“ beendet, wird er von Kernberg in verachtender und entwertender Weise diffamiert: Er habe das „Bedürfnis, die Behandlung zu zerstören“, dies sei der „Höhepunkt“ seines „lebenslangen Musters von Destruktivität“.

Fallbeispiel 4

Ich spreche hier von einem Mann, der als einziger Überlebender seiner ganzen Familie als Kind im Alter von 12 Jahren aus dem Konzentrationslager befreit wurde, in dem seine ganze Familie vor seinen Augen ermordet wurde.“ (Kernberg, 1999, S. 9)

Jede/r, die/der sich für einen kleinen Moment in diese Leidensgeschichte hineinversetzt, und über einen Funken vonMenschlicheit verfügt, wird von dieser Geschichte zutiefst erschüttert sein.

Die Untersuchung dieses Patienten und seiner Familie ergab ein erschreckendes Bild eines Mannes, der ein absoluter Diktator seiner Familie war, seine Tochter in ihrer Kindheit sexuell vergewaltigt hatte, verhinderte, daß sich seine Söhne von ihm unabhängig machen konnten und seine Frau wie eine Sklavin behandelte“. (ebd.)

Offensichtlich haben dieser Mann und seine Familie ein massives Problem. Für mich ist es erst mal nicht allzu verwunderlich, dass die Schrecken der Vergangenheit an diesem Menschen nicht spurlos vorübergegangen sind, dass diese Erfahrungen noch heute sein Leben überschatten und auch seine Familie in Mitleidenschaft ziehen. Erstaunlich fände ich, wenn es anders wäre. Höchste Zeit für alle Beteiligten, sich gute Unterstützung zu suchen, um diese massive Traumatisierung und ihre Folgen möglichst weitgehend bewältigen zu können. Aber wie sieht der Autor den Fall?

Kernberg schickt voraus, worin er das eigentliche Problem sieht: der Klient entwickelt im KZ nur deswegen ein so schweres Problem, weil er seinen inneren Hass bereits mit hineingebracht hat: „Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegenüber“ (S. 9). Bereits Säuglinge seien in der Lage, aufgrund ihrer „oralen Wut“ und ihrem „oralen Neid“ von sich aus jede Form von liebevoller Beziehung zu zerstören – so sein Credo an anderer Stelle. Hierin sieht er das zentrale Problem – auch bei diesem Klienten.

Bei einem Menschen mit psychischen Problemen, der erlebt hat, wie man seine eigene Familie vor seinen Augen abgeschlachtet hat, bei dem wird das eigentliche Problem darin gesucht, dass er als Säugling seiner Mama gegenüber zuviel „orale Wut“ und „oralen Neid“ entwickelt hat.

Und Kernberg zieht folgendes Resümee: „Ich übertreibe nicht, wenn ich meinen Eindruck wiedergebe, daß dieser Mann sich seiner Familie gegenüber verhielt, als ob er der Kommandant des Konzentrationslagers sei, in dem seine ganze Familie ermordet wurde.“ (ebd.)

Völlig affektlos wird hier eine Gleichsetzung vorgenommen zwischen KZ-Opfer und KZ-Kommandant. Dabei ist es das eine, ob jemand ohne Not einen Job in der Leitung eines Konzentrationslagers übernimmt und in dieser Rolle Gefallen daran findet, seine hilflosen Opfer zu quälen und zu töten. Seit dem Milgram-Experi­ment wissen wir, dass allein der Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen normale Bürger in Sadisten zu verwandeln vermag. Dagegen ist es m.E. etwas völlig anderes, wenn das kindliche Opfer einer solchen Behandlung im blinden Reflex darauf eine problematisches Reaktionsmuster entwickelt, das von geringem Respekt gegenüber anderen geprägt ist.

Der sexuelle Missbrauch der eigenen Tochter ist ohne Frage durch nichts zu rechtfertigen. Aber diese Tatsache – gepaart mit so unkonkreten Behauptungen wie: dieser Mann sei ein „absoluter Diktator seiner Familie“ gewesen, habe „verhindert, daß sich die Söhne von ihm unabhängig machen konnten“ und habe „seine Frau wie eine Sklavin behandelt“ – kann niemals eine Begründung dafür abgeben, dass ein Opfer grausamster KZ-Quälerei charakterlich mit seinen Folterknechten gleichgesetzt wird. Es ließe sich nicht einmal behaupten, dass die zugrundeliegende Psychodynamik ähnlich sei, denn diejenige des Opfers wird nur sehr unvollständig geschildert, während uns über den Lagerkommandanten überhaupt keine Informationen vorliegen.

Abgesehen davon stellen diese Äußerungen eine unerträgliche Verharmlosung des KZ-Terrors dar, der sich diesem Mann als hilfloses Kind im Bewusstsein eingebrannt haben muss.

Fallbeispiel 5

Eine Frau wird von ihrem sadistischen Ehemann „sozusagen als Geschenk seinen Freunden an[geboten]“ (Kernberg 1999, S. 13) (= Vergewaltigung?). Sie ist im Alter von weniger als 10 Jahren von ihrem Vater, einer „antisozialen Persönlichkeit“, sexuell missbraucht worden (ebd.).

Sie hatte in typischer Weise das Verhalten des Vaters in vielfältiger Art erlebt, als brutalen Eingriff und Verletzung ihrer physischen Identität, als verwirrenden Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu beiden Eltern, als zerstörenden Einfluß auf die Entwicklung ihres moralischen Gewissens und als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ (ebd.).

Der sexuelle Missbrauch wird hier sehr pauschal und unklar abgehandelt. Muss er denn tatsächlich vom Kind „in typischer Weise“ erlebt werden als „verwirrender Einbruch und Zerstörung der liebevollen Beziehung zu beiden Eltern“? Besteht nicht in solchen Fällen häufig schon zuvor eine starke Beeinträchtigung der Eltern-Kind Beziehung? Weshalb sollte zwangsläufig die Beziehung zu beiden Eltern darunter leiden? Und warum sollte sich die von außen kommende Gewalt zwangsläufig „als zerstörender Einfluß auf die Entwicklung des moralischen Gewissens“ beim Kind auswirken? Es kann doch einem Kind geradezu helfen, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was „gut“ und was „böse“ ist!?

Dann aber versucht Kernberg das Geschehen gar nicht ernsthaft in seiner Wirkung als „brutalen Eingriff“ zu erfassen, sondern er sieht das wesentliche Problem darin, dass die Kleine ihre Vergewaltigung „in typischer Weise“ „als einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt habe.

Dieses letztere Element war natürlich vollkommen unbewußt und mit schweren Schuldgefühlen verbunden, die in ihrer masochistischen Persönlichkeit zum Ausdruck kamen und sie sich so ihr ganzes Leben wegen dieser ödipalen Schuld opfern ließ. Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen mußte, konnte sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewußten und jetzt bewußten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren.“ (ebd.)

Dass die Frau den sexuellen Verkehr mit den Freunden ihres Mannes über sich ergehen lässt, wird nicht etwa so verstanden, dass sie von klein an daran gewöhnt worden war, derartige Grenzverletzungen zu ertragen, sondern: Sie bringe damit zum Ausdruck, dass sie Sühne leisten müsse dafür, als Kind den „sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ als Sieg gefeiert zu haben („ödipale Schuld“). Sie müsse „ihre Schuld tolerieren“ – erst dadurch finde sie Heilung.

Die suggestive Behauptung, dass dieser „Triumph“ „natürlich vollkommen unbewußt“ sei, soll dabei wohl jeden Einwand der Betroffenen gegen das beharrliche Einreden dieser entwertenden Deutung aushebeln. Denn was im Unbewussten geschieht, darüber könne Laien ja gar nicht mitreden, da müssen schon ausgewiesene ExpertInnen beurteilen, was sich da so alles abspielt.

Der Gesamt-Tenor des Textes: Die Eltern sind – bis auf einzelne Entgleisungen – lieb zu ihrem Kind. Das Kind hat jedoch bei der Aufgabe versagt, die liebevolle Beziehung zu den Eltern weiter aufrechtzuerhalten, in seiner moralischen Entwicklung auf dem richtigen Weg zu bleiben, oder das Rivalisieren mit einem Elternteil auf sexueller Ebene zu vermeiden. Für die Heilung sei es erforderlich, diese Schuld einzugestehen.

Es kommt sicherlich nicht von ungefähr, dass ein Mensch, der bereits in der Kindheit mehrfach massive Grenzverletzungen erlebt hat und es toleriert, in einer sadistischen Beziehung zu leben, dass dieser Mensch auch noch eine solche psychotherapeutische Vergewaltigung über sich ergehen lässt. Dass die Betroffene mit einer solchen „Therapie“ langfristig „geheilt“ werden kann, halte ich für ausgeschlossen.

[Eine kleine Anregung für Herrn Kernberg, anders über die Entstehung von MASOCHISMUS bei dieser Klientin und KlientInnen allgemein nachzudenken – auch ohne Rückgriff auf ödipale Schuldgefühle:

Eine Kollegin von Herrn Pawlow hatte Hunden beigebracht, dass sie immer dann ihr Futter bekamen, wenn sie kurz vorher und währenddessen schmerzhaften Stromschlägen ausgesetzt waren. Die Tiere mussten ziemlich ausgehungert sein, bis sie irgendwann trotz der Stromschläge anfingen zu fressen. Dadurch dauerte es etwas länger, bis der Körper sich auf dieses Signal einstellte. Aber irgendwann begannen sie dann schon Speichel abzusondern, wenn sie Stromschläge erhielten, auch wenn weit und bereit kein Futter zu sehen war. Diese Tiere waren dann irgendwann übrigens relativ leicht aus der Fassung zu bringen.

Für kleine Kinder gibt es fast nichts Schlimmeres, als alleingelassen zu werden. Wenn man als Kleinkind das Pech hat, von gestressten, genervten, ablehnenden Eltern umgeben zu sein, dann kann es ihnen passieren, dass sie öfter für längere Zeit sich selbst überlassen bleiben. Die natürliche Reaktion von Kindern ist dann in der Regel: Geschrei. Das kann die Eltern dann noch mehr unter Stress setzen, so dass sie irgendwann zu dem Kind gehen und –  … es erst einmal kräftig verprügeln oder anderweitig misshandeln, um ihren Frust abzulassen. So verrückt das klingt: Für das Kind wird Schmerz, Misshandlung dann im Laufe der Zeit ein Signal für – … Entlastung und Entspannung: „Welch ein Glück! Das quälende Alleinsein hat jetzt ein Ende!“ Auf diese Weise wird das (wie wir wissen: lebenswichtige) Gefühl von Kontakt und Nähe gekoppelt mit Schmerzerfahrung. Diesen Prozess nennt man: „Klassisches Konditionieren“. Josef Breuer hatte – schon lange vor Pawlow – in der Behandlung von Bertha Pappenheim das Wirken der von Pawlow erforschten Prinzipien erkannt und verstanden!]

Fallbeispiel 6

In diesem Fall wird eine junge Frau vorgestellt, die als Kind vom Vater mehrfach vergewaltigt wurde. Sie wird in Kernbergs Klinik wegen ihrer Depressionen behandelt. Geplagt von Selbstmordgedanken telefoniert sie mit ihrem Therapeuten und bittet ihn um Hilfe. Der besucht sie in ihrer Unterkunft. Dabei kommt es zu einem sexuellen Kontakt zwischen Klientin und Therapeut, der zum Auslöser für ihren Selbstmord wird. (Über die genaueren Hintergründe erhalten wir keine Aufklärung.) Einer Freundin der Patientin fällt deren Tagebuch in die Hände, in der die Affäre beschrieben ist. Die Freundin verklagt daraufhin den Therapeuten und Kernbergs Klinik (Kernberg, 1999, S. 11).

Kernberg schildert diesen Fall nicht etwa unter der Rubrik: „Schwere Therapeuten-Fehler“, sondern er handelt ihn ab im Rahmen des Kapitels: „Störungen und Gefährdungen der therapeutischen Beziehung durch typische Syndrome“ – und zwar auf Seiten der KlientInnen.

Unter der Zwischenüberschrift „Transformation eines Opfers in einen Täter“ wird dargelegt (ich zitiere den vollständigen Text unter dieser Zwischenüberschrift):

Ein drittes Syndrom, das auch sehr häufig vorkommt, ist die Transformation des Opfers in einen Täter.

Der schwerste uns bekannte Fall ist eine Patientin mit einer antisozialen Persönlichkeit, die, nachdem ihr Vater sie sexuell mißbraucht hatte, unter den Folgen des Inzests an schweren Depressionen und Selbstmordversuchen litt und die ihren Therapeuten sexuell verführte. Sie rief ihn unter Androhung von Selbstmord zu sich nach Hause, empfing ihn im Negligé und gab ihm zu verstehen, daß nur er sie retten könne – ein junger Psychiater in Ausbildung mit schweren narzißtischen Problemen. Sie schrieb ein Tagebuch, beging Selbstmord, sandte zuvor das Tagebuch mit einer genauen Beschreibung des sexuellen Verkehrs mit ihrem männlichen Therapeuten ihrer homosexuellen Freundin, die ein Gerichtsverfahren gegen den Therapeuten und gegen unser Spital einleitete.

Wir sehen hier, wie die Patientin noch im Tode Opfer und Täter zugleich wurde. Ein tragischer Fall, der aber nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich ist, wie man erwarten würde. Wir sehen hier eine leichtere Ausprägung der Problematik der zuvor geschilderten Patientin, die ohne Slip kam und in Wut geriet, weil ich mich als ihr Therapeut weigerte, mit ihr eine sexuelle Beziehung aufzunehmen.“ (ebd.)

Die mehrstufige Diffamierung der Patientin im Detail:

  • Vorab wird die Betroffene als „Täter“ etikettiert.
  • Es folgt der Hinweis, es handle sich um den „schwerste[n] uns bekannte{n] Fall“. Damit wird die Betroffene massiv pathologisiert. Am Ende – nur um ein paar Zeilen weiter – wird dagegen festgestellt, der „Fall“ sei „nicht so außerordentlich oder ungewöhnlich …, wie man erwarten würde“. [Wobei uns Kernberg hier darüber im Unklaren lässt, was er ansonsten so erwartet.] Diese Ungereimtheit unterstreicht nur die maßlose Verwirrung in seinem Denken.
  • Der Patientin wird eine „antisoziale Persönlichkeit“ angedichtet, was nicht einmal durch die geringste Konkretisierung begründet würde. Im selben Atemzug wird geschildert, dass die Patientin ihren Therapeuten „verführte“. Die Verantwortung für diesen Akt wird damit allein ihr angelastet.
  • Der Therapeut, dessen Verhalten von der Klientin wohl als erneute Traumatisierung erlebt wurde, und der damit offensichtlich einen Anstoß für den Suizid gegeben hat, ist bereits vorab indirekt zum „Opfer“ der „Täterin“ erklärt worden. Verstärkt durch den Hinweis, dass er sich noch „in Ausbildung“ befunden habe und an „schweren narzißtischen Problemen“ leide, wird an die LeserInnen appelliert, ihm gegenüber Mitleid und Verständnis aufzubringen.
  • Dagegen wird die Freundin, die die tödliche Therapie nicht klaglos hinnimmt, sondern gegen Klinik und Therapeuten ein Gerichtsverfahren anstrebt, in eindeutig diskreditierender Absicht als „homosexuell“ gebrandmarkt.

So wird eine völlig verfehlte „Psychotherapie“ der Patientin selbst angelastet. Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche therapeutische Äußerungen Kernbergs: Die Opfer werden zu Tätern erklärt.

 

Hier zurück zur Übersicht, da geht’s weiter zu seinem ausdrücklichen Therapieverständnis.