Reaktionen I

… auf meine ANTI-KERNBERG-KAMPAGNE: “Weisheit oder Wahnsinn?”

Die interessantesten schriftlichen Reaktionen (per Email oder Brief), die ich auf meine Anschrift hin bekommen hatte, sind in den folgenden Kapiteln wiedergegeben. Die Rückmeldungen erfolgten auf meine Email-Anschreiben. Rund 560 Anschreiben erfolgten, ohne dass ich Kernbergs Namen genannt hatte (49 Antworten). In späteren rund 210 Anschreiben hatte ich den Namen von Kernberg direkt genannt (6 Antworten). In 11 weiteren direkten Anschreiben an ausgewählte Adressaten hatte ich 6 mal Kernbergs Namen direkt genannt, in 5 Fällen nicht (11 Antworten). Auch Herrn Kernberg selbst hatte ich – vergeblich – per Mail angeschrieben.

Widergegeben sind jeweils meine Antwortschreiben, aus denen sich z.T. weitere Diskussionen ergeben hatten. (Die übrigen Antworten finden sich in Teil II.) Teilweise hatte ich die erhaltenen Schreiben auch kommentiert.

Die verschiedenen Reaktionen habe ich in 5 Kategorien eingeteilt: Ablehnung meiner Kritik (A), tendenzielle Ablehnung (TA), Neutralität bzw. Nichtreaktion (NR), tendenzielle Zustimmung zu meiner Kritik (TZ) und Zustimmung (Z). (Die hier angelegten Links führen zu den entsprechenden Kapiteln.) Diese Zuordnung ist natürlich recht grob. Wenn in einer sehr knappen Antwort in einem Halbsatz eine gewisse Zustimmung signalisiert wurde, dann auf Mitteilung der genauen Quelle keine Reaktion mehr erfolgt ist, dann habe ich das bereits als „tendenzielle Zustimmung“ gefasst. Die Zustimmungen erfolgten auch teilweise auf dem Hintergrund, dass den Antwortenden der Name des kritisierten Autors nicht bekannt war. Auf eine Mitteilung des Namens erfolgte in der Regel keinerlei Reaktion mehr.

Ablehnende Reaktionen gegenüber meiner Kritik hatte ich wahrgenommen bei Prof. A1, A2, Dr. med. Mathias Hirsch, Dr. med. Ulrich Bahrke, Prof. Dr. Eckhard Giese, A6 und A7.

Eine teilweise ablehnende Reaktionen gegenüber meiner Kritik hatte ich wahrgenommen bei Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma, Dr. med. TA2 und Prof. Dr. med. Gerd Rudolf.

Neutral bzw. ausdrücklich nicht reagiert hatten Dr. NR1, Prof. Dr. NR2, Prof. Dr. NR3, NR4, Prof. NR5, Prof. Dr. Phil. NR6, Prof. Dr. phil. NR7 und  Prof. Dr. Otto F. Kernberg.

Teilweise meiner Kritik zugestimmt hatten Prof. Dr. TZ1, TZ2, Prof. Dr. TZ3, Prof. Dr. TZ4, Prof. TZ5, Prof. TZ6, Prof. Dr. Dr. TZ7, PD Dr. med. Dr. phil. TZ8,  Prof. Dr. med. TZ9 und TZ10.

Meiner Kritik zugestimmt hatten Prof. Raymond Battegay, Prof. Sophie Freud, Hoffmann, Prof. Dr. Sven-Olaf, Prof. Dr. Z1, Prof. Dr. Z2, Dr. med. Z3 sowie Prof. Dr. Wolfgang Schulz.

(Angeschriebene Ethikkommissionen, Ministerien u.a.: Berufsethische Kommission der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP, BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT, Ethikkommission der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Prof. Dr. Dr. P. Netter, Ethik-Kommission des Bundesgesundheitsministeriums, Frau Dr. Reiter-Theil, Die Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau, Petra Meier to Bernd-Seidl, die Organisatoren der Lindauer Psychotherapie-Wochen, Forum Berufsethik Psychotherapie, Frau Dr. Hutterer-Kirsch, Gespräch mit Herrn Ingwardt Tauchert vom saarländischen Gesundheitsministerium, Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, Vereinigung der Kassenpsychotherapeuten.)

ABLEHNUNG meiner Kritik

Beispiel-Formulierungen vorab:

„Ihre Überreaktion lässt mich vermuten, dass scheinbar auch bei Ihnen die Täter-Opfer-Polarität nicht ganz aufgearbeitet ist.“
„nicht besser im Stil als der kritisierte Autor, der mit vielen unbegründeten Zuschreibungen arbeitet.“
„Welch schreckliches Mißverständnis! …
Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt, wenn sie sich einmal ihre Motivation für Ihre Aktion klar machen würden.“
„auch ich bin nach Ihrer Mail sehr besorgt – allerdings nicht über Herrn Kernberg, sondern über Sie, der Sie – völlig aus dem Zusammenhang gerissen – offensichtlich wenig von Täter-Opfer-Dynamiken verstehen.“
„Ich kann sowohl Ihre Empörung nicht teilen und empfinde auch Ihre Zitierweise tendenziös und unfair.“
„(ich) bin aber auch erschrocken über so viel Oberflächlichkeit“
„Ich kann Ihre Kritik in keiner Weise teilen.“

Prof. A1

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

auch ich bin nach Ihrer Mail sehr besorgt – allerdings nicht über Herrn Kernberg, sondern über Sie, der Sie – völlig aus dem Zusammenhang gerissen – offensichtlich wenig von Täter-Opfer-Dynamiken verstehen. Ich kann das an dieser Stelle nicht näher ausführen, weil es völlig den Rahmen einer mail sprengen würde, bin aber auch erschrocken über so viel Oberflächlichkeit.

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. A1

 

Sehr geehrter Herr Prof. A1,

schade, daß Sie Ihrer besorgten Anteilnahme an meinem Unverständnis von Täter-Opfer-Dynamik nicht etwas mehr Raum geben konnten, so daß ich Ihrer tiefgründigen Ausführungen dazu verlustig gehe. Daß ich mich in meinem Schreiben – und womöglich auch in meinem Leben? – so schrecklicher Oberflächlichkeit befleißige – wie ich Ihrer profunden Deutung wohl zu entnehmen habe -, das hat mich nun sehr betroffen und nachdenklich gemacht, und werde nun wohl zu eruieren haben, aus welchem Quell präödipaler Konfliktsituationen sich dieses Verhängnis speist. Mit Ihrer tiefgehenden Analyse haben Sie mir jedenfalls etliche Stunden Lehranalyse erspart!

Dafür herzlichen Dank – Ihr Klaus Schlagmann

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

schade, dass meine Reaktion auf Ihren Rundumschlag nurmehr dazu führt, dass Sie sich in Ihrem Urteil über Psychoanalyse bestätigt fühlen. Dass Sie es nur ironisieren können, anstatt sich auseinanderzusetzen und die Tiefgründigkeit Ihrer Aktion vielleicht noch einmal zu begründen, bestätigt mich in meinem Eindruck. Aber vielleicht wollen Sie das ja revidieren.

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. Dr. A1

(Ich wollte nicht, weil ich bei diesem Adressaten jeden Versuch für zwecklos hielt. Darüber hinaus ist es ein wenig seltsam, wenn jemand, der meine mehrseitigen Ausführungen nur mit einem Halbsatz abfertigt, meint, ich wolle mich wohl nicht auseinandersetzen. Den Eindruck des Herrn Prof. A2 da in irgendeiner Art und Weise revidieren zu wollen, hätte nur Energieverschwendung bedeutet.)

A2

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

anbei übersende ich als Anlage eine sehr kritische Stellungnahme zu dem Artikel, den Herr Schlagmann verfasst hat. Ich kann mich seiner Sichtweise in keinem Punkt anschließen. [Eine deutliche Stellungnahme!!! K.S.]

Mit freundlichen Grüßen A2

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

hiermit möchte ich zu Ihrem Artikel Stellung nehmen, für dessen Übersendung ich Ihnen zunächst einmal danke.

Es ist sehr schade, dass Sie ein so großes Geheimnis um die Bibliographie machen. Ich vermute, dass es sich um eine Arbeit von Kernberg handelt, da mir einige zitierte Beispiele aus einem Vortrag von ihm bekannt vorkommen. Auch wenn Kernberg eine Autorität ist, hätte ich kein Problem damit, ihn zu kritisieren. Beispielsweise fand ich seine Vorlesung über “Liebe und Aggression” im April 2000 auf den Lindauer Psychotherapiewochen ziemlich langweilig und einseitig, worüber ich mit zahlreichen Kollegen gesprochen habe, ohne bei irgend jemand übermäßigen Respekt vor dem großen IPA-Vorsitzenden zu bemerken. Deshalb hat mich Ihre Geheimniskrämerei befremdet, und die Vermutung, wir würden vielleicht nicht so ehrlich unsere Meinung kund tun, wenn wir wüssten, von wem der Artikel ist. Ihre Mutmaßungen über den Autor fand ich abenteuerlich und sehr spekulativ. Da ich nicht die Möglichkeit habe, den kritisierten Artikel im Original zu studieren, bin ich ausschließlich auf Ihren Artikel angewiesen. Aber selbst aus dieser Quelle heraus vermag ich Ihre Spekulationen nicht nachzuvollziehen. [Sollte es aus meinen umfangreichen Zitaten wirklich nicht nachvollziehbar sein, daß der kritisierte Autor systematisch die Täter-Rolle des Täters ausblendet? Was ist daran zu spekulativ, wenn ich vermute, daß darin eine aus einer persönlichen Störung begründete Wahrnehmungsverzerrung liegt? Ist es wirklich allzu abenteuerlich – der These von dieser Wahrnehmungsverzerrung folgend – eine entsprechende nachhaltige Prägung des wahrnehmungsgestörten Menschen anzunehmen? Aber: womöglich habe ich es hier ja mit dem Problem zu tun, einem Blinden von Farben zu erzählen! K.S.] Was Sie oben im Artikel kritisieren, nämlich dass uns detaillierte Informationen vorenthalten werden, praktizieren Sie dann selbst, indem Sie über einen nicht näher bezeichneten Autor auf der Basis eines geheim bleibenden Artikels Ausführungen machen, die gravierende Vermutungen über die Kindheit des Autors enthalten. So was ist einfach unsachlich und nicht professionell. [Mein Vorgehen und meine Ausführungen sind angeblich unsachlich und nicht professionell. Aber der Antwortende würde vermutlich keinen Moment lang zögern, Kernbergs Ausführungen als „sachlich“ und „professionell“ zu etikettieren! Was für eine verkehrte Welt! K.S.]

Inhaltlich finde ich Ihren Artikel überzogen. Ich vermute, dass die Adressaten des kritisierten Artikels Fachleute sind, möglicherweise sogar Psychoanalytiker, denen man nicht lang und breit erklären muss, dass die geschilderten Zusammenhänge unbewusster Natur sind. [Das Zauberwort „unbewußt“ ist es ja gerade, woraus sich so manches Problem in der Diskussion mit PsychoanalytikerInnen erst ergibt! Dieses Wörtchen macht es den VertreterInnen dieser Theorie ja so überaus leicht, an jeder nur erdenklichen Unterstellung besserwisserisch festzuhalten. Die suizidierte Klientin hat ihren Therapeuten zum Opfer gemacht – natürlich „unbewußt“. Die 10jährige findet den Geschlechtsverkehr mit ihrem Vater geil – natürlich „unbewußt“. Ein „Nein“ bedeutet nach Freud ein „Ja“ – natürlich „unbewußt“. Nach Freud bedeutet Widerspruch übrigens Zustimmung. Vermutlich will mir der Antwortende also mit seinem Text seine ungeteilte Zustimmung signalisieren – „unbewußt“ natürlich. K.S.] Wäre es ein Artikel in einer, Laien zugänglichen Zeitschrift, wie Psychologie Heute, oder einer Illustrierten, würde ich Ihrer Kritik wenigstens insoweit zustimmen, dass man die geschilderten Dynamiken nicht unerläutert stehen lassen kann. Dann hätte der Autor erklären müssen, dass es sich um unbewusste Phänomene handelt. Das KZ-Opfer trifft die Entscheidung, später zum Täter zu werden, nicht bewusst und absichtlich. In einer Fachzeitschrift für einen ausgesuchten Kreis von Therapeuten genügt meiner Ansicht nach ein Hinweis darauf durchaus. Und einen solchen Hinweis haben Sie ja zitiert.

Ich selbst arbeite halbtags auf einer akutpsychiatrischen Therapiestation und halbtags in eigener Praxis. Persönlichkeitsgestörte Patienten sind mein Spezialgebiet. Ich orientiere mich an den Konzeptionen von Dulz, Sachsse und Kernberg. Am Beginn vieler Behandlungen bin ich erschüttert über das Ausmaß an Traumatisierung, dass Patienten erleben mussten und empfinde Mitgefühl. Im Stationsteam ergibt es sich aber oft überraschend schnell, dass andere Therapeuten verärgert, entnervt oder wütend auf “meinen” Patienten reagieren, für den ich so viel Mitgefühl empfinde. Es ist uns wichtig, derartige Reaktionen von Kollegen nicht als unqualifiziertes Überreagieren zu interpretieren, sondern seinen Sinn in Bezug auf den Patienten zu verstehen. Andere Patienten bringen mich gleich am Anfang der Behandlung in heftigen ärger, wie gerade kürzlich eine traumatisierte Borderlinerin. Das ganze Stationsteam war schon genervt, wenn sie erschien, nur ich hielt tapfer zu ihr. Sie trieb es so weit, dass ich ziemlich sauer auf sie reagierte. Aber gerade dieses Gespräch wurde dann sehr wichtig, da sie für sich erkannte, dass sie es schnell schafft, alle gegen sich aufzubringen, obwohl sie etwas ganz anderes möchte. Meine neurotischen Patienten lösen eigentlich fast nie derartig heftige Gegenübertragungsgefühle in mir aus. Dies aber nicht deshalb, weil ich selbst früh traumatisiert wäre, sondern wegen des Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung. Irgendwann im Verlauf der Therapie bringen persönlichkeitsgestörte Patienten den Therapeuten durch unbewusste, manipulative Prozesse in eine Rolle, die der des früheren Täters vom Erleben her ähnelt. Dies tun sie leider nicht nur mit Therapeuten, sondern auch mit anderen Personen ihrer Umgebung, wodurch sie sich viele Schwierigkeiten einbrocken. Gestern hatte ich z.B. ein Erstgespräch mit einem jungen Mann mit einer Borderline-Störung, der als Kind im Elternhaus oft geschlagen und drangsaliert wurde. Er erzählte folgende Episode: Als er mit 12 die Schule wechselte, war er sehr aufgeregt wegen der vielen neuen Mitschüler, die auf ihn zukämen, zumal er wegen einer Blinddarmoperation verspätet in die Klasse kam. Er war abgemagert und hatte am bauch noch eine frische Narbe. Als er in die Klasse trat, blickte er sich um und entdeckte einen hochgewachsenen Jungen, der “sogar schon eine Zahnlücke” hatte, also sich offenbar gern raufte. Neben diesen setzte er sich und begann ihn “einfach so vollzumotzen, obwohl er mir gar nichts getan hatte”. Schließlich gelang es ihm auch, einen verbalen Streit zu inszenieren. Damit befand er sich nicht mehr in ängstlicher Unsicherheit, sondern auf vertrautem Boden. Sich streiten, gewahr sein, von einem Überlegenen vielleicht gleich geschlagen zu werden, kannte er zur Genüge, freundlichen, vorsichtigen Kontakt kannte er nicht. Bei allem Mitgefühl für das Leid, das er erfahren hat, habe ich doch im Hinterkopf, dass der Patient zu solchen Mechanismen neigt. Noch provoziert er die Mitschüler in seiner Ausbildung. Trotzdem ahne ich, dass es auch mich irgendwann treffen könnte. Er wird mich vermutlich unbewusst-manipulativ in eine Rolle manövrieren, in der ich mich über ihn ärgere, in mir die Tendenz bemerke, ihn rauszuschmeißen oder vielleicht sogar ihm eine zu kleben. Ehe Sie sich wieder aufregen betone ich, dass es sich um eine innere Phantasie handelt, die ich nicht ausagieren würde. Das Wissen darum, was Borderliner im Therapeuten auslösen können, ist wichtig. [Ich würde nicht einmal leugnen, daß KlientInnen in einem Therapeuten auch Gefühle auslösen können – z.B. auch Ärger! Das habe ich niemals bestritten. Aber es gibt sicher deutliche Unterschiede darin, wie man mit solchen Gefühlen umgeht. Und es scheint mir zu billig, jedes Gefühl im Therapeuten auf den Klienten und sein Problem zurückzuführen. Geradezu grotesk ist mir aber Kernbergs Vorschlag, der Therapeut müsse sich auf das Gefühlsleben des Mißhandlers einstellen. (s.u.) K.S.] Eine nur verstehende Haltung voller Mitgefühl bringt den Patienten nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn es uns nicht gelingt, seine destruktiven Tendenzen in der therapeutischen Beziehung darzustellen und zu verändern, wird er sie außerhalb der Therapie immer weiter ausagieren und sein soziales Umfeld wird sich nicht verbessern. Kernbergs Anliegen ist es immer gewesen, klar zu machen, dass es sich jeder gut überlegen soll, ob er sich eine Arbeit mit diesen Patienten zutraut. [Warum hat Kernberg es dann nicht selbst schon längst aufgegeben? K.S.] Das Hauptproblem bei Borderlinern ist auch nach meiner Erfahrung nicht, Mitgefühl mit den zumeist schrecklich traumatisierten Menschen zu entwickeln oder ihre Psychodynamik zu verstehen.

Viel schwieriger ist es, mit den heftigen Gefühlen von Liebe und Hass, zu denen einen nur diese Patientengruppe bringt, zurecht zu kommen und mit den sadistischen Phantasien, die sie auslösen können. Wir im Stationsteam fragen uns immer, was es mit dem Patienten zu tun haben könnte, wenn sich einer von uns maßlos über ihn ärgert oder ihn am liebsten rausschmeißen möchte. Ich kann mich nach zehnjähriger Tätigkeit nicht erinnern, dass ein Neurotiker so heftige Gegenübertragungs-Gefühle bei einem von uns ausgelöst hätte. Bei Borderlinern kommt es aber sehr häufig vor. Wir hüten uns davor, von bösartigen Phantasien, die bei einem Therapeuten in Bezug auf einen Patienten aufkommen mögen, vorschnell auf die Pathologie des Therapeuten zu schließen. Aber in dem wir über die Phantasien und Gefühle reflektieren, agieren wir sie nicht aus. Wir schlagen unsere Patienten nicht, genauso wenig wie wir sie rausschmeißen, vergewaltigen oder mit Worten quälen. Kernberg setzt sich dafür ein, sich allen Gefühlen und Phantasien bewusst und unzensiert zu stellen, die diese Patienten auslösen. Identifizieren heißt in diesem Sinne, es zuzulassen, was die Patienten mit dem Therapeuten unbewusst tun und innerlich darüber zu reflektieren. [Auch eine interessante Definition von „Identifizieren“. Aber was bedeutet es genau, sich mit einem KZ-Kommandanten, einem Folterer, einem Kinderschänder zu „identifizieren“? Wenn der Therapeut die Lust spürt, Menschen zu quälen oder Brandbomben zu werfen, dann wird das – unbewußt natürlich – von dem Opfer einer derartigen Behandlung ausgelöst? Welchen therapeutischen Nährwert sollte es haben, daß sich eine als Kind von ihrem Vater vergewaltigte Patientin mit der „sexuellen Erregung ihres sadistischen, inzestuösen Vaters“ „identifiziert“? Wie würde der Antwortende denn hier den Begriff „identifizieren“ erläutern? K.S.] Damit ist äußerlich, dem Patienten gegenüber noch nichts gesagt, geschweige denn eine Handlung ausgeführt. Ihr Missverständnis, Herr Schlagmann, besteht meiner Ansicht nach darin, dass Sie unter Identifizierung verstehen, sich genauso zu verhalten, wie der Täter, oder es zumindest zu rechtfertigen, was er getan hat. [Ich hatte zwar in meinem Text keine „Deutung“ von „identifizieren“ gegeben, sondern habe es immer nur im Zitat übernommen, aber das ist in der Tat die Bedeutung, die von meinen zwei „Etymologischen Wörterbüchern“ für den Begriff „sich identifizieren mit“ nahegelegt wird. Aus Kernbergs Ausführungen läßt sich jedenfalls kein klarer Reim darauf machen, was er an der genannten Stelle meint, außer, daß es wohl darum geht, –  für Therapeuten wie für Patienten – das Gefühlsleben der Täter nachzuempfinden, während – zumindest der Therapeut – peinlich vermeiden soll, das Leid des Opfers zu spüren und zu empfinden – Mitleid sei ja nichts anderes als sublimierte Aggression! K.S.] Davon bin ich und ist Kernberg weit entfernt. Aber nur Mitleid mit den PatientInnen zu haben und sie zu mehr Selbstkompetenz und Abgrenzung zu ermutigen, wie Sie es vorschlagen, reicht nach meiner Erfahrung nicht aus. [Habe ich das gesagt? Aber was hält der Antwortende konkret für fehlend? K.S.] Und noch eines: Das Anliegen des kritisierten Artikels war nicht, sich mit gesellschaftlicher Gewalt oder der Grausamkeit der Täter auseinander zu setzen. Das tut Kernberg ausgiebig andernorts. Ihm zu unterstellen, er identifiziere sich mit einem KZ-Kommandanten unreflektiert, weil er lieber auf Seiten der Täter, als der der Opfer stehe, zeugt davon, dass Sie nur wenige seiner Arbeiten gelesen, geschweige denn Kenntnis von seiner Lebensgeschichte haben.

Abschließend noch zu dem Fall mit dem KZ-Opfer, das zum Täter wird: Auch Dulz und Sachsse äußern sich ausführlich zu dem Problem, dass persönlichkeitsgestörte Patienten, die schwer traumatisiert worden sind, in ihrem späteren Leben zu Tätern werden. [Immer? Zwingend? Ich stelle ja nicht in Abrede, daß Opfer zu Tätern werden können. Aber selbst dann steht bei einer derartigen Heil-Behandlung immer zunächst die Opfer-Seite im Vordergrund! Und ich würde in Abrede stellen, daß es einen derartigen Automatismus gibt. Es gibt m.E. durchaus Betroffene, die in einer Opfer-Rolle verharren. Wieder andere gelangen womöglich zu einer guten Verarbeitung des Geschehens. Was ich kritisiere ist die sofortige, automatische, im Vordergrund stehende Beschuldigung des Opfers wegen seiner Triebe. Das ist so, als würde die Polizei bei jedem Delikt von Körperverletzung, Raubüberfall oder Geiselnahme zunächst einmal ermitteln, warum sich denn die Opfer dem Geschehen ausgeliefert hatten – ob da womöglich („unbewußte“) Sensationsgier, masochistische Neigung oder ähnliches eine Rolle gespielt habe. Und als würde dann die einzige Konsequenz in Anklagen und Bußgeldbescheiden gegen die Betroffenen bestehen, weil sie durch ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens zur Tatzeit das Verbrechen erst möglich gemacht hätten! K.S.] Das entspricht auch meiner Erfahrung. In der Klinik arbeite ich auch gruppentherapeutisch mit Persönlichkeitsgestörten. In der Borderline-Gruppe kann ich erstaunlicherweise zuhörend da sitzen, im Gegensatz zur Neurotikergruppe. Die Borderliner sind sehr fürsorglich untereinander, sehr aktiv, sehr engagiert und oft in einer Weise zueinander ehrlich, wie ich es mir manchmal nicht trauen würde. Letzte Woche berichtete ein recht neuer Patient, wie grausam er als Kind emotional vom Vater maltretiert worden war, wie er ihn dem Bruder gegenüber zurückgesetzt und wie brutal er ihn geschlagen hatte. Die Gruppe empfand Mitgefühl und tröstete ihn. In der nächsten Stunde erzählte er, wie er am Abend zu vor sich nicht beherrschen konnte und seinen Sohn wegen einer Bagatelle verprügelt hatte. In der Gruppe entspann sich, ohne dass ich eine einzige Äußerung dazu gemacht hätte, ein lebhaftes Gespräch. Einige der anderen Patienten äußerten zunächst, fast wie aus einem Munde, er sei vom Opfer zum Täter geworden und mache mit seinem Sohn etwas Ähnliches, wie sein Vater mit ihm. Andere begannen Überlegungen, dass es ihnen in diesem oder jenem Lebensbereich auch so gehe, dass sie von Opfern zu Tätern würden. Ich glaube, dass niemand meiner Patienten, die zum geschilderten Patienten sagten, er sei vom Opfer zum Täter geworden, auch nur ansatzweise Verständnis für dessen Vater empfanden, oder ihn in Schutz nehmen wollten. Auch ich, der ich während der ganzen Stunde fast nichts von mir gab, empfand keine Sympathie für den Täter, also den Vater des Patienten. Im Gegenteil: Ich kenne den Vater von einem Gespräch her und finde ihn unter uns gesagt “ätzend”. Trotzdem reicht in solchen Situationen Mitgefühl mit dem Patienten nicht aus. Einen Menschen ernst nehmen heisst für mich, alle seine Seiten wahrzunehmen, die liebevollen, aber auch die grausamen. Der erwähnte Patient fand bis zu der Gruppenstunde nichts dabei, seinen Sohn zu schlagen. Nur dass seine Frau deshalb mit ihm stritt und neuerdings sogar mit Scheidung drohte, verunsicherte ihn zusehends und brachte ihn auf unsere Station. Durch die ehrlichen und kritischen Äußerungen seiner Mitpatienten begann er, sein Verhalten zu überdenken. Insofern bestätigen meine praktischen Erfahrungen das, was Kernberg in seinen Arbeiten ausführt.

Persönlichkeitsgestörte Patienten manövrieren den Therapeuten (und viele andere Personen ihrer Umgebung) durch projektive Identifizierung in eine Täterposition oder transformieren unbewusst selbst in eine Täterrolle. Der Borderline-Therapeut sollte sich über die Heftigkeit der Affekte klar sein, die in einer therapeutischen Beziehung zu diesen Patienten entstehen können. Er sollte sich unzensiert den Phantasien stellen, die in ihm ausgelöst werden. Wer heftige Affekte oder ungewöhnliche Phantasien nicht ertragen mag, sollte die Finger von der Therapie Persönlichkeitsgestörter lassen. Der Borderline-Therapeut wird die Gefühle und Phantasien, die in ihm aufsteigen, nicht sofort äußern oder gar ausagieren. Er wird sie sinnvoll und vorsichtig zu nutzen wissen. Dies scheint mir der Sinn des von Ihnen kritisierten Artikels zu sein. Insofern kann ich Ihre Kritik in keiner Weise teilen.

Mit freundlichen Grüßen  –  A2

Sehr geehrter Herr A2,

vielen Dank für Ihre umfangreiche Antwort. Sie sind anscheinend ein Kenner der Materie. Sie haben recht. Das von mir ursprüngliche gewählte Vorgehen – den Autor ungenannt zu lassen – ist problematisch. Und ich muß wohl auch mittlerweile einsehen, daß damit – erkennbar – bislang kaum etwas gewonnen ist.

Die von mir kritisierten Passagen finden sich in dem Artikel: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), Jg. 3 (1999), Heft 1, S. 5-15. Der Autor ist tatsächlich der amtierende Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Mitherausgeber der entsprechenden Zeitschrift, Wissenschaftlicher Beirat der Lindauer Psychotherapietage, und sicherlich vieles andere mehr: Otto F. Kernberg.

Es ist mir übrigens rätselhaft, wie Sie sagen können: “Ich orientiere mich an den Konzeptionen von Dulz, Sachsse und Kernberg.” Sachsse hat ein völlig anderes – eher genau gegenteiliges – Herangehen als Kernberg. …

Daß Sie Kernbergs Äußerungen anscheinend verständlich finden – z.B. das Problem eines 10jährigen, von ihrem Vater vergewaltigten Mädchens darin zu sehen, daß sie sich schuldig mache, einen sexuellen Triumph über die Mutter zu erleben -, das läßt womöglich auch einige Rückschlüsse auf Ihr Seelenleben zu. Und wenn Sie Ihre KlientInnen nach diesem Muster “behandeln”, dann tun diese mir herzlich leid.  Daran ändern auch Ihre weitschweifigen Rationalisierungen nichts, in denen Sie auf keines meiner Argumente eingehen. Aber das macht ja auch nichts. Ich setze keine Hoffnung mehr darein, Menschen wie Sie durch Argumente aus Ihrer dogmatischen Verblendung zu erlösen. Ich bemühe mich statt dessen derzeit, Kernbergs Äußerungen vor diversen Ethik-Kommissionen zur Sprache zu bringen – in der Hoffnung, daß noch nicht alle psychotherapeutisch tätigen Menschen vollkommen verrückt geworden sind. Ich werde mich dafür einsetzen, daß diese widerwärtigen, entwertenden Theorie-Konstrukte im Psychotherapiebereich – zumindest offiziell – geächtet werden.

Ich weiß übrigens auch nicht, auf welche Kenntnis Kernbergscher Literatur Sie zurückzuschauen wissen. Jedoch habe ich bereits 1996 bzw. 1997 drei von Kernbergs Veröffentlichungen einer Kritik unterzogen, die voll sind von Verachtung und Entwertung für seine KlientInnen (vgl.: Schlagmann, 1997: Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus. Oder: Die Lüge der Iokaste. Saarbrücken). (Wenn Sie von etwas anderem berichten könnten, warum geben Sie nicht konkrete Belege dafür an?)

MfG – Klaus Schlagmann

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

ich meine, sehr ausführlich auf Ihre Argumente eingegangen zu sein, sicherlich auf meine Weise, indem ich mich bemüht habe, Kernbergs Äußerungen mit meinen eigenen Erfahrungen zu verknüpfen. [vgl. das Eingangsstatement von A2: „Ich kann mich seiner Sichtweise in keinem Punkt anschließen.“; K.S.] Schade, dass Sie es aufgegeben haben, Typen wie mich mit rationalen, ich würde sagen fachlichen Argumenten zu überzeugen. Ob Sie mit Hieben unter die Gürtellinie = pathologisierenden Vermutungen über das Seelenleben Ihrer Kollegen weiterkommen, da hätte ich meine Zweifel. Merkwürdig, dass Sie sich gegen eine Pathologisierung von PatientInnen wehren, im gleichen Atemzug aber uneinsichtige Kollegen pathologisieren. Naja, trotzdem hat mich das Thema zum Nachdenken angeregt. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, mit etwas mehr Sachlichkeit, fruchtbare Diskussionen in Ethik-Kommisionen in Gang zu bringen.

Mit freundlichen Grüßen – A2

Dr. med. Mathias Hirsch

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vielen Dank für Ihren Brief vom 6.12.00, den ich erst jetzt beantworten kann, weil ich die Weihnachtsferien brauchte, um mich mit Ihren Ansichten über Kernbergs Aufsatz auseinan­derzusetzen.

Ich kannte den Aufsatz von Kernberg in der Vortragsfassung (Lindau 1997) und habe ihn jetzt noch einmal gelesen. Ich verstehe Kernberg ganz anders als Sie. Als Freudianer und zum Teil Kleinianer hatte er lange den Trieb und sogar die Heredität als Ursprung der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen gesehen und hat eine große Begabung, in das Chaos der Borderline­Störungen System hineinzubringen. Das hat ja auch seinen Ruhm begründet. Was er jetzt ver­sucht ‑ immerhin ‑ ist, die traumatisierenden Umwelteinflüsse sowohl familiärer als auch ak­zidenteller Art einzubeziehen. Daher ist er manchmal unentschlossen und inkonsequent.

Aber das werfen Sie ihm ja gar nicht vor. Das Hauptmissverständnis scheint mir an einer un­geklärten Definition des Begriffs “identifizieren” zu liegen. Kernberg meint doch nicht, dass man den KZ‑Wächter gut finden und sein Handeln akzeptieren muss, sondern meint es eher (und seine mangelnde Übung der deutschen Sprache wird ein übriges tun) so, dass der Patient den Therapeuten mit dem Täter identifiziert, es geht also um Übertragung und Projektion.

Die anderen Bereiche: Kennen Sie denn nicht die Identifikation mit dem Aggressor, die im Zusammenhang mit Traumatisierung regelmäßig auftritt, wie es Ferenczi (193 3) zuerst so genial beschrieben hat. Das macht auch das Tragische aus, dass das Opfer sich mit dem Täter identifiziert und so weiter Opfer bleibt, von schweren Schuldgefühlen geplagt, die es dem Täter sozusagen abgenommen hat. Meine Position finden Sie in beiliegendem Sonderdruck, … .

Wie ich es sehe, werden wir uns wohl kaum einigen können.

Mit freundlichen Grüßen – Dr. med. Mathias Hirsch, Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse

(Dass wir uns wohl kaum einigen könnten, hatte ich auch so gesehen. Deswegen hatte ich auch keinen Versuch mehr unternommen, mit Herrn Dr. H. eine Diskussion über das „Identifizieren“ zu beginnen; in den folgenden Auseinandersetzungen – z.B. A1, TA2 oder Z4 – ist dies durchaus eingeflossen.)

Dr. med. Ullrich Bahrke

23.1.01

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 14.1. und Ihre diskussionsanregenden Zusendungen.

… Wir hatten ja zu Ihrem Beitrag [Die Mythen von Ödipus und Narziss als Geschichten von Traumatisierungen, Lengerich, 2001] bereits telefoniert, ich finde Ihre Sichtweise sehr aufschlußreich und bereichernd. Was Ihren Artikel in Auseinandersetzung mit Kernberg betrifft, kann ich das so nicht sagen. Ich finde, daß Sie ihm in der Art der Zitierung und Interpretation nicht gerecht werden. Kernberg schreibt bewußt aus einer klinischen Perspektive, nicht aus einer allgemein‑menschlichen. Ich kann sowohl Ihre Empörung nicht teilen und empfinde auch Ihre Zitierweise tendenziös und unfair. Darüber hinaus habe ich eine grundsätzlichere Kritik. Sie stellen das Trauma‑Modell dem Trieb‑Modell gegenüber ‑ eine Dualität, die es vor 100 Jahren gegeben haben mag, die aber der heutigen Psychoanalyse in keinster Weise gerecht wird. Ich möchte nur auf den Übersichtsartikel von Bohleber in der “Psyche” Ende letzten Jahres verweisen. Worauf dieser allerdings im Gegensatz zu Kernberg entschieden hinweist ist die Anerkennung des realen Traumas vor der therapeutischen Bearbeitung dessen, was dieses Trauma mit der intrapsychischen Realität gemacht hat. Dies ist mir bei Kernberg nicht eindeutig genug herausgestellt, wenngleich ‑ ein Anhänger des Triebmodells ist er nun wirklich nicht. (Wer sollte das denn überhaupt noch sein?)

Dennoch: Haben Sie vielen Dank für Ihre Anregungen und seien Sie freundlich gegrüßt – Ullrich Bahrke, Facharzt für Neurologie/Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, Oberarzt

 

Prof. Dr. Eckhard Giese

19.06.2001

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

hoffentlich rechnen Sie nach dem jetzt verstrichenen viertel Jahr nicht mit einer umfassenden, detaillierten Stellungnahme zu Ihrem Text.

Ich kann mich, kurz gesagt, mit Ihrer Sichtweise nicht recht anfreunden, jedenfalls, was die Person und den Autor Kernberg und den beigelegten Text von ihm betrifft. Es ist ja durchaus als Gefahr in dem Ansatz der Psychoanalyse angelegt, dass eine zumindest innere Beteiligung des Opfers an einem Gewaltakt untersucht wird und, dieses, aber da wird es in meinen Augen schon unfachlich, gar mit verantwortlich gemacht werden mag. Wenn in diesem Sinne etwa einem Vergewaltigungsopfer 1: 1 unterstellt werden würde, sie sei „selber Schuld“, dann ist das natürlich hahnebüchen ‑ aber so etwas würde Kemberg auch, wie ich ihn verstehe, nie tun. Deswegen ist die Person des Opfers aber nicht unhinterfragt gut bzw. ihre Motive außen vorzulassen, sondern sie gehören durchaus zum Verständnis der Situation. Es ist doch alles Psychologie, es geht um Verstrickungen zwischen Personen, nicht nur auf der Ebene des Faktischen, sondern auch der Projektion, Fantasien.

Sind nicht auch Ihnen Fälle, wie der von Kernberg geschilderte, geläufig, in denen Menschen, die in ihrer Kindheit gequält und zurückgesetzt wurden, als Erwachsene tatsächlich brutale Aggressoren wurden? Mir scheint nicht, dass Kernberg Täter, Psychopathen, Gewaltverbrecher …. exkulpieren möchte. (Ich habe gerade ein ausgezeichnetes Video über das Leben des Sexualverbrechers Jürgen Bartsch gesehen, dessen schauriger Lebenslauf von einer Studentin empathisch veranschaulicht wurde. Hier ist es eher die menschliche Umgebung des Täters, die denkbar schlecht wegkommt…)

Sie können diesen Zeilen gern entnehmen, dass ich kein Psychoanalyse‑Experte bin. Es könnte sein, so mein Eindruck, dass Sie einem durchaus systematisch gegebenen Risiko der psychoanalytischen Theoriebildung auf der Spur sind, sich aber in der Person und bezüglich der Ausführung von Otto Kernberg irren…

Vielen Dank für die Texte und die Anregung.

Mit freundlichen Grüßen – Eckhard Giese

A6

Sehr geehrter Herr Schlagmann

Meine Stellungnahme wird Ihnen kaum Freude bereiten. Doch erlaube ich mir, ebenso wie Sie, mit mangelnder Information meine Meinung dazu abzugeben. Fuer mich scheint vieles aus dem Zusammenhang gerissen. Das Opfer zu Täter werden können, ist ja nichts neues. Ob jeder unter dem Begriff “identifizieren” das Gleiche versteht, möchte ich bezweifeln. Ihre Überreaktion lässt mich vermuten, dass scheinbar auch bei Ihnen die Täter-Opfer-Polarität nicht ganz aufgearbeitet ist. Bei mir übrigens auch nicht, falls ihnen das ein Trost ist.

mit freundlichen Grüssen, A6

A7

Lieber Kollege Schlagmann!

Welch schreckliches Mißverständnis! Ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Sie sich mit dem Autor direkt in Verbindung setzen würden. Ich könnte mir vorstellen, daß dieses Mißverständnis dann schnell aufgeklärt werden könnte. (Das ist bereits geschehen. Ich warte immer noch auf Antwort. K.S.)  Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt, wenn sie sich einmal ihre Motivation für Ihre Aktion klar machen würden.

In diesem Sinne viele Grüße  –  A7

TENDENZIELLE ABLEHNUNG meiner Kritik

Beispiel-Formulierung vorab:

anders als Sie respektiere ich die Psychoanalyse, wenn auch aus kritischer Distanz

Prof. Dr. Jan-Philipp Reemtsma

Sehr geehrter Herr Prof. Reemtsma,

Sie haben sich kürzlich kritisch mit der Auffassung von Traumatisierung auseinandergesetzt. Ich teile Ihre Einschätzung von beispielsweise der Haltung von Herrn X. voll und ganz. Sie haben sich auch so geäußert, daß man sich wohl noch auf einiges an Entgleisungen einzustellen hätte. Nun – was halten Sie von dem folgenden:

Kürzlich bin ich in einer Fachzeitschrift (1999) auf die Formulierung einer Position gestoßen, die die Logik des psychoanalytischen Trieb-Modells auf die Spitze treibt: …

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

4. Dezember 2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

ich glaube, daß es auf die Kontexte ankommt. Aussagen wie die von Ihnen referierten können durchaus zutreffend sein. Unvorsichtig und kontextfrei gehandhabt wirken sie in der Regel diffamierend. Das von Ihnen erwähnte Therapiekonzept wirkt so natürlich arg krude, aber für den Fall einer vorliegenden unbewußten Identifikation mit dem Aggressor muß diese natürlich, um bewußt gemacht und überwunden zu werden, auch durchlebt werden. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Der Fehler liegt in den generalisierenden Aussagen. Ich möchte mich zu Ihrem Artikel nicht äußern, weil ich den ursprünglichen Artikel nicht kenne und darum nicht weiß, ob Sie ihn etwa mit dem Satz, er behaupte, ein vergewaltigtes Kind habe an der Vergewaltigung “Spaß gehabt”, nicht falsch paraphrasieren.

Mit freundlichen Grüßen – Jan Philipp Reemtsma

Saarbrücken, den 1. April 2018

Sehr geehrter Herr Prof. Reemtsma,

vielen Dank für Ihre Antwort auf mein Schreiben vom 03.09.00.

Sie glauben, daß es auf die Kontexte ankommt. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, in welchem Kontext der von mir aufgeführten Fallbeispiele die Deutungen plausibel sein sollten, die diese Opfer von Gewalt zu Tätern stempelt. Mir scheint es ein billiger „Trick“ zu sein, bei diesem theoriegeleiteten Postulat auf „unbewußte“ Prozesse zu verweisen. Da kann man bei jedem Opfer von Gewalt – Juden, Indianern, Kurden, Armeniern, Hexen, Homosexuellen, Partisanen, Heiden, Schwarzen, Behinderten usw. – behaupten, da habe ein „Todestrieb“ vorgelegen, die Betreffenden hätten in der Situation ihrer Vernichtung einen „masochistischen Triumph“ erlebt, das Bedürfnis danach habe sie letztlich in ihre jeweilige Qual getrieben, o.ä. – „unbewußt“, natürlich.

Wenn Sie so denken, dann erübrigt sich meinerseits jede weitere Diskussion mit Ihnen über die Opfer von Gewalt. Wenn Sie sich jedoch ein wenig mehr für den – von mir bewußt zunächst „geheimgehaltenen“ – „Kontext“ der kritisierten Aussagen interessieren sollten, dann könnten Sie zunächst den kritisierten Artikel nachlesen in … Otto F.  Kernberg: Trauma und Persönlichkeit, PTT 1/99, S. 5-15. Kernberg weist in meinen Augen eine weit massivere psychische Störung auf, als der von Ihnen – völlig zu recht – kritisierte X. Aber Sie stehen der psychoanalytischen Theorie anscheinend recht nahe und werden meine Einschätzung in diesem Punkt womöglich nicht teilen.

Ich weiß nicht, wieweit Sie praktische Erfahrung mit Psychotherapie aufweisen. Aus meiner Praxis kenne ich jedenfalls Menschen, denen es nach einer derartigen „Behandlung“ schlechter ging als zuvor. Das scheint mir bei einer derartig systematischen Wirklichkeitsverdrehung auch nicht unwahrscheinlich. Vielleicht kennen Sie das Buch der Hamburgerin Dörte v. Drigalski („Blumen auf Granit“), die Ihre eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse (Lehranalyse) schildert. Sie berichtet z.B., daß Sie in Ihrem unmittelbaren Umfeld vier Fälle von Suizid während der Lehranalyse erlebt hat. 

Sie haben den Begriff des „Identifizierens mit dem Aggressor“ angesprochen. Das Konzept des „Identifizierens“ paßt m.E. in diese Strategie des Erzeugens von Konfusion vorzüglich hinein. Betrachten Sie einmal seine etymologischen Wurzeln: „Identisch ,ein und dasselbe bedeutend; völlig gleich (auch von Personen)‘ … identifizieren ‚etwas genau wiedererkennen; die Identität einer Person feststellen‘“ (Duden, Herkunftswörterbuch). „Identität f. ‚völlige Übereinstimmung, Gleichheit, Wesenseinheit‘ wird im 18. Jh. aus spätlat. identitas (Gen. identitatis) ‚Wesenseinheit‘ entlehnt, einer Ableitung von lat. idem ‚ebendasselbe‘ … identisch Adj. ‚völlig gleich, übereinstimmend‘ (18. Jh.). identifizieren Vb. ‚die Identität feststellen, einander gleichsetzen‘ Neubildung des 18. Jhs. nach Mustern wie klassifizieren, exemplifizieren u. dgl. denen lat. denominative Verben mit -ficare (vgl. lat. glorificare ‚glorifizieren‘), der Kompositionsform von lat. facere ‚machen, tun‘ zugrunde liegen. Dazu Identifizierung f. (19. Jh.).“ (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv).

Im normalen Sprachgebrauch verweist der Begriff „identifizieren“ also auf einen sehr bewußten, aktiven, reflektierten, rationalen Prozess des Vergleichens, Abwägens, Beurteilens, der dann zu einer Feststellung führt, daß zwei Personen ein und dieselbe sind, oder zumindest völlig übereinstimmen, wesensgleich sind. „Sich identifizieren mit jmd.“ muß also so etwas meinen wie „sich in den Eigenschaften eines anderen – sehr bewußt und reflektiert – wiedererkennen, sich – sehr bewußt und reflektiert – mit jemand anderem als Wesenseinheit erkennen“. Man „identifiziert“ sich also – sehr bewußt und reflektiert – z.B. mit einem Freund, einem Idol o.ä.

„Identifizieren“ meint bei Kernberg einerseits einen relativ normalen, gesunden Prozess des Aufbaus von Ich-Strukturen (1990, S. 44 ff). Andererseits wird darin ein „Abwehrmechanismus“ gesehen, z.B. die „Identifikation mit dem Aggressor“. Bei Anna Freud (1975, S. 125 ff; von ihr v.a. auf Kinder bezogen) oder Otto F. Kernberg selbst (1990, S. 145f; 198; 348) wird dieses letztere Konzept immer im Zusammenhang der Umsetzung erlebter Aggressionen in eigene aggressive Handlungen gebraucht. Das Beobachten entsprechenden Verhaltens führt erst auf den Rückschluß, daß eine „Identifikation“ vorliege. Der Begriff der – so wie er von den zwei AutorInnen benutzt wird – impliziert also, daß man das Verhalten desjenigen, mit dem man sich „identifiziert“, auch zeigt.

Kernberg sagt über den Therapieerfolg bei der Patientin, die als noch nicht 10jährige vergewaltigt wurde: „Von dem Moment an, als sie sich nicht mehr als Opfer sehen mußte, konnte sie sich auch mit ihrer eigenen sexuellen Erregung in diesem unbewußten und jetzt bewußten Sieg über die ödipale Mutter zurechtfinden und ihre Schuld tolerieren. Sie erlangte so die Fähigkeit, sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters … Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.“

Nach Kernberg müßte die Klientin – „identifiziert“ mit dem Täter, mit dessen sexueller Erregung – nun also auch wesensgleiche Handlungen zeigen können, also sexuelle Erregung bei sadistischen, inzestuösen Kontakten. Diese (von mir noch bewußt unscharf gehaltene) Umschreibung wird quasi bestätigt, wenn Kernberg anführt, daß diese Klientin nun in der Lage ist, bei ihrem sadistischen Partner einen Orgasmus zu erleben.

Allerdings scheint sich hier bereits etwas zu verwischen, denn ein solches Verhalten zeigt ja nun gar nicht eine „Identifizierung mit dem Aggressor“, sondern höchstens eine „Identifizierung mit dem idealen Opfer des Aggressors“ – nämlich mit einem Opfer, das willenlos seine Rolle mitspielt. Diese „Identifizierung mit dem idealen Opfer“ – womöglich ein bedeutendes Phänomen, dessen Entdeckung noch zu feiern ist -, markiert also, nach Kernberg, offensichtlich ebenso einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Heilung.

„Richtiges“ „Identifizieren“ müßte in diesem Fall aber eigentlich heißen, daß die Klientin nun Lust bekäme, selbst einmal die Peitsche oder Fessel in Anwendung zu bringen, anstatt sich der sadistischen Prozedur zu unterwerfen. Vielleicht war etwas derartiges ja auch durchaus vorgekommen und wurde von Kernberg nur der Kürze der Darstellung wegen nicht weiter ausgeführt.

Wenn Kernberg tatsächlich gelingt, was ihm da vorschwebt, dann passiert folgendes: einerseits hat die Klientin – identifiziert mit ihrem (noch) unbewußten Ödipus-Selbst – ihre Schuld zu fühlen, daß sie die Vergewaltigung durch ihren Vater als Triumph über die Mutter erlebt hat. Andererseits muß es ihr – identifiziert mit dem Aggressor – gelingen, die Vergewaltigung eigener Kinder als „geil“ zu empfinden, als etwas, dem sie sich als Täterin lustvoll, ungestört von Schuldgefühlen, überlassen würde. Schließlich muß es ihr – identifiziert mit dem idealen Opfer – gelingen, beim Vergewaltigt-werden einen befreiten Orgasmus zu erleben. Wenn sich die Klientin mit diesem Kernbergschen Identifizierungs-Wirrwarr infizieren läßt, dann wird sie als Schizophrene, wenn nicht gar als multiple Persönlichkeit auf der Strecke bleiben müssen.

Mir scheint es übrigens erforderlich und sinnvoll, von dem von seiner Etymologie her als eindeutig aktiven, bewußten Vorgang der „Identifizierung“  einen eher passiven Mechanismus begrifflich abzugrenzen, z.B. als „Prägung“: ein Kind übernimmt durch den alltäglichen Kontakt mit Eltern und Geschwistern unreflektiert deren Gestik, Mimik, Sprachwendungen, Gepflogenheiten. Oder: einem Kind prägt sich womöglich durch häufiges Geschlagen-werden ein, daß Kinder eben so behandelt werden müssen oder dürfen. Dieses Kind mag dann in der Elternrolle seinerseits seine Kinder schlagen und dies recht bewußt mit einer ähnlichen Einstellung, in einer ähnlichen Art und Weise tun, wie es selbst geschlagen worden ist.

Wird ein Kind besonders schwer mißhandelt, dann mag es in diesen Situationen möglicherweise dissoziieren, „in Trance gehen“. In diesem Zustand können bestimmte Verhaltensmuster besonders nachhaltig durch „Konditionierung“ verankert werden. (Pawlow ging übrigens davon aus, daß seine Hunde bei seinen Versuchsanordnungen z.T. sehr schnell in einen hypnotischen Zustand gerieten und dann besonders effektiv und nachhaltig lernten!) Ein solches Kind wird später in der Elternrolle womöglich auch in bestimmten Situationen die eigenen Kinder mißhandeln, und zwar so, daß es – wie im Reflex – vollkommen „ausrastet“. Es mag danach womöglich sehr genau erkennen, daß es dies eigentlich gar nicht wollte, daß es sich innerlich eigentlich von dem gezeigten Verhalten distanziert. Es kann dabei womöglich auch über das selbst erlebte Ausmaß an Gewalt hinausgehen. (Daß ein Opfer in seiner Grausamkeit über das hinausgehen kann, was ihm selbst angetan wurde, zeigt m.E. z.B. der Kindermörder Jürgen Bartsch.)

Lassen Sie mich diese Überlegungen auf meine Mutmaßung über Kernberg übertragen. Wird ein Kind wegen einer Kleinigkeit massiv bestraft, und wird es dann auch noch massiv gezwungen, sich für das „böse“ Verhalten zu entschuldigen, quasi bedingungslos zu kapitulieren, dann gerät es auf diese Art und Weise in totale Verwirrung und Anspannung, was zu einer Dissoziation führen kann. In diesem Zustand ist es für Suggestionen besonders empfänglich, beispielsweise dafür: „Wenn die Mama/der Papa mit dem Kind schimpft, dann ist auf jeden Fall immer das Kind böse gewesen, ganz egal, was die Mama/der Papa vorher gemacht hat! Kinder zeigen häufig Haß, Wut, Neid, Boshaftigkeit – das muß ihnen ausgetrieben werden! Nur so können sie zu gesunden, normalen Erwachsenen werden!“ Auf diese Art könnte sich eine so abstruse Einstellung in Kernberg verankert haben, wie er sie in seiner Theorie vertritt.

„Prägung“ und „Konditionierung“ – wie ich sie verstehe – sind Prozesse, die bei einem Betroffenen eher passiv ablaufen, während „Identifizierung“ einen aktiven Prozess impliziert. Es kommt sicher nicht von ungefähr, daß in der Psychoanalyse mit Vorliebe auf die „Identifizierung“ zurückgegriffen wird, denn es gehört zur triebtheoretischen Grundhaltung, in erster Linie den aktiven Anteil des Säuglings an dem Geschehen zu betonen. In ihm werden die „Perversionskeime“ (Freud, „Bruchstück …“ , 1905) verortet, die er nicht kontrollieren könne. Kernberg ist ein Spezialist für derartige Beschuldigungen von Kleinkindern (vgl. Schlagmann, 1997 a).

Dem halte ich jedoch meine Position ausdrücklich entgegen, daß ich den Faktoren einer passiven Beeinflussung gerade im frühen Kindesalter eine weitaus größere Bedeutung zumesse. Die Befunde der Säuglingsforschung (vgl. Dornes, 1995, z.B. S. 140-150) scheinen mir diese Frage eindeutig entschieden zu haben: Kinder re-agieren höchst sensibel auf die Verhaltensmuster ihrer Eltern! Diese Dynamik bei der Entstehung schwerer psychischer Störungen auf den Kopf gestellt zu haben – die Opfer zu Tätern erklärt zu haben – halte ich für die verhängnisvollste Fehlleistung von Sigmund Freud. Sie ist – meiner Analyse nach (Schlagmann, 1997a, 2000a, b, c) – auf eine sehr persönliche, konflikthafte Familiengeschichte Freuds zurückzuführen.

Die Triebtheorie, die die Wirklichkeit in katastrophaler Weise auf den Kopf stellt, hat Freud als „geistiges Erbe“ seinen Jüngern hinterlassen. Otto F. Kernberg bewährt sich als sein treuer Verwalter, der diese Hinterlassenschaft sorgfältig hütet und sogar weiter vermehrt.

Ich habe übrigens meine Kritik an dem Text von Kernberg – aus eigenem Antrieb bzw. aufgrund mancher Rückmeldungen noch ein wenig umformuliert. Sollten Sie noch ein wenig Interesse an einer Auseinandersetzung haben, so sende ich Ihnen dieses aktualisierte Papier gerne zu. Über eine kritische Diskussion würde ich mich freuen.

Ansonsten verbleibe ich mit freundlichem Gruß als Ihr – Klaus Schlagmann

 

5. März 2001

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

anders als Sie respektiere ich die Psychoanalyse, wenn auch aus kritischer Distanz. Wie jede andere Therapieform auch ist sie für manche Menschen von großem Nutzen (ich kenne solche), für andere nicht. Außerdem gibt es gute und schlechte Analytiker. Nach meinem Verständnis verzerren Sie Kernbergs Aussagen, wenn Sie sagen, hier würden Opfer zu Tätern gemacht. Sie laden auch Begriffe normativ auf, die es in ihren Kontexten nicht sind. Dennoch würde mich die Endfassung Ihres Aufsatzes natürlich interessieren.

Mit freundlichen Grüßen – Jan Philipp Reemtsma

Dr. med. TA2

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vor ein paar Tagen habe ich mir Ihr, mit offensichtlich viel Mühe und Engagement geschriebenes Papier „Weisheit oder Wahnsinn?“ gelesen und dann erst einmal zu Seite gelegt.

Ich hatte große Mühe mit der Form Ihres Textes: nicht zu wissen, von wem und woher der vorliegende kritisierte Text stammt und wie er vollständig lautet. Andererseits muten Sie dem Leser Ihren nachvollziehbaren Ärger in Ihren kritischen Anmerkungen zu und sind damit – so scheint mir – im gleichen Zuschreibungsmodus gelandet wie der vorgestellte Autor. Schade.

Selbstverständlich, so scheint mir, ist die von dem Autor vertretene Position, Opfer und Therapeut müßten sich mit den Tätern identifizieren, um zu einer Heilung gelangen zu können, nicht der heilsame Schritt in der Therapie. Allenfalls kann dieser Aspekt ein lohnender Zwischenschritt sein, um eine schicksalhafte Verstrickung verstehen zu lernen – und auch das enthebt den Betrachter nicht davon, eine „moralische“ Haltung zu der Situation einzunehmen.

Polarisierung schafft Bindung.

Insofern hilft es, beide Seiten in den Blick zu nehmen, um Distanz zu schaffen, um sich lösen zu können.

Nivellierung aber schafft keine Lösung.

Es bleibt das Paradox des Verstehens und – in manchen Fällen – Verurteilens; ohne dass vom Opfer eine Entschuldigung vom Täter angenommen werden darf. Die Verantwortung und damit Schuld muß beim Täter bleiben. Der muß damit leben.

Aufgabe des Opfer ist es, zu sehen: manche Dinge liegen außerhalb unserer Kontrolle. Aber „Erfahrung wird das, was man aus dem macht, was einem zustößt.“ (Huxley). Und wir sind dafür verantwortlich, ob wir was Gutes daraus machen. Mißt kann guter Dünger sein. Und wenn der Boden überdüngt ist, braucht es viel Regen.

Leider – durch die Form des von Ihnen dargebotenen Textes – in die Gegenübertragungsfalle getappt und damit erst mal disqualifiziert. Hart ausgedrückt: nicht besser im Stil als der kritisierte Autor, der mit vielen unbegründeten Zuschreibungen arbeitet.

Ich hoffe, ich konnte mit dieser Kritik Ihrer Sache dienen.

Mit freundlichen Grüßen – Dr. med. TA2

Prof. Dr. med. Gerd Rudolf

Sehr geehrter Herr Kollege Schlagmann!

Beim Lesen von Artikeln oder Fallgeschichten, welche sich mit dem Thema der Gewalt, des Missbrauchs der Täter- oder Opferschaft befassen, fällt mir immer wieder auf, dass die Verfasser in heftige Affekte hineingerissen werden, die sie wahrscheinlich außerhalb der Beschäftigung mit diesem Thema nicht erleben. Ich vermute, es gehört auch nicht zu Ihren üblichen Phantasien, Brandbomben in Schreibstuben zu werfen (S. 7). Offenbar kann man sich mit einer solchen Thematik nicht ernsthaft auseinandersetzen, ohne rasche selbst in die Dialektik von Täter und Opfer hineingezogen zu werden.

Die von Kernberg angesprochene Psychodynamik, dass eine der unbewussten Bewältigungsmöglichkeiten von Opfern immer auch darin liegt, sich mit der Täterseite zu identifizieren, gehört zum einigermaßen gesicherten psychotherapeutischen Wissen. Es hilft z.B. zu verstehen, wie sich die Täter-Opfer-Dynamik über Generationen hinweg oder durch die Interaktionen hindurch immer weiter fortpflanzt. Auch für Psychotherapeuten scheint es mit unerlässlich, dass er sowohl der Täter- wie der Opferseite begegnet (ohne sich, wie Sie befürchten, mit der einen oder anderen Seite voll zu identifizieren).

Aus Ihrer Empörung klingt für meine Ohren eine eher – wenn Sie mir bitte das nicht übel nehmen wollen – naiv-gutgläubige Position heraus: „Die Täter sind die Täter, die Opfer sind die Opfer, und wir Psychotherapeuten stehen natürlich als Helfer ganz auf seiten der Opfer. Da scheint mir die Welt doch etwas zu eindeutig in gut und böse, schwarz und weiß aufgeteilt. Ich habe Psychotherapeuten mit solchen Einstellungen kennengelernt und bei manchen den Eindruck gewonnen, dass sie in ihrer kämpferischen Loyalität mit den Opfern eigentlich dazu beitragen, diesen Opferstatus (mit allen daran hängenden Wiedergutmachungshoffnungen) zu verfestigen, anstatt therapeutisch Bewältigungsmöglichkeiten und Neuorientierungen zu eröffnen.

Mich persönlich spricht der Artikel des erwähnten Autors nicht besonders an, ich könnte Ihre Vermutung teilen, daß darin Persönliches anklingt. Was jedoch die Empörung betrifft, so vermute ich, daß sie aus der fehlenden Kenntnis psychodynamischer Konzepte resultiert, welche sich mit unbewussten intrapsychischen Konflikten und unbewussten intrapsychischen Bewältigungsstrategien beschäftigen, die in der vorliegenden Darstellung möglicherweise etwas zu konkretistisch imponieren, von manchen Lesern als bewusste Einstellungen mißverstanden werden und daher Widerspruch auslösen.

Mir freundlichen Grüßen – Ihr Prof. Dr. med. Gerd Rudolf

 

Sehr geehrter Herr Prof. Rudolf,

Zunächst möchte ich Ihnen für das umfangreiche Rückschreiben danken.

Nach der Lektüre Ihres Briefes hatte ich den Eindruck, daß wir wahrscheinlich doch in zu unterschiedlichen geistigen Regionen – vielleicht sogar „Erdteilen“ – leben, als daß ein Verständigungsversuch wirklich Aussicht auf Erfolg hätte.

Sie werden es womöglich als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ empfinden, wenn ich mich zu den Gepflogenheiten Ihres therapeutischen „Lagers“ äußere. Und dennoch reizt es mich zu versuchen, Sie für so etwas wie eine Deklaration der Psychotherapie-KlientInnen-Rechte zu gewinnen.

In Ihrem Brief nimmt die Kritik an meinen Äußerungen einen sehr breiten Raum ein. Demgegenüber setzen Sie sich nur äußerst spärlich mit der Position Kernbergs auseinander. Sie sagen dazu, daß sie Sie „nicht besonders anspricht“. Sie könnten meine „Vermutung teilen, daß darin Persönliches anklingt“. Das scheint mir eine sehr, sehr milde Beurteilung zu sein. Demgegenüber bemängeln Sie an meiner Position:
– ich sei in „
heftige Affekte hineingerissen“ – anstatt daß ich womöglich zu recht auf etwas wütend wäre,
– ich würde eine „
naiv-gutgläubige Position“ vertreten, die bei Klienten womöglich den „Opferstatus verfestigen“ würde,
– meine Empörung bezeuge die „
fehlende Kenntnis psychodynamischer Konzepte“.

Lassen Sie mich dazu folgende Anmerkungen abgeben:

Was die Literatur zu Gewalt und Mißbrauch anbelangt, so darf ich behaupten: es existiert eine breitere Palette davon, die keineswegs dazu führt, daß ich „in heftige Affekte hineingerissen“ würde. So etwa durch die Bücher von Alice Miller („Du sollst nicht merken“), Jeffrey Masson („Was hat ,man dir, du armes Kind, getan?“), Marsha Linehan („Dialektisch Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörungen“, 1996), Ullrich Sachsse („Selbstverletzendes Verhalten“, 1994), Ullrich Sachsse & Luise Reddemann (diverse Ausgaben der PTT), Judith L. Herrmann „Die Narben der Gewalt“, …). Meine emotionalen Reaktionen scheinen also nicht so sehr mit dem Thema, als vielmehr mit der (Un)Art der Darstellung verknüpft zu sein. 

Die Deutung, ich würde eine „naiv-gutgläubige Position“ vertreten, scheint mir meiner Stellungnahme nicht so ganz angemessen zu sein. Entspricht es etwa naiver Gutgläubigkeit,
– wenn ich jedenfalls das Gleichsetzen familiärer Unterdrückungsmechanismen mit dem Betreiben eines Vernichtungslagers als ungeheuerliche Verharmlosung zurückweise,
– wenn ich entsetzt bin darüber, das Hauptproblem einer vergewaltigten 10jährigen darin zu sehen, daß sie einen sexuelle erregenden Triumph über die Mutter erlebe,
– bzw. wenn ich das Problem des Suizids einer Klientin nach sexuellem Mißbrauch in der Therapie nicht darin erklärt finde, daß hier ein Opfer eine Transformation zum Täter vollzieht, nur weil der entsprechende Therapeut (mitsamt Kernbergs Klinik) mit den gerichtlichen Konsequenzen dieser Tat konfrontiert wurde?

Ich bestreite überhaupt nicht, daß es bei einem Opfer zur Entwicklung von Täterseiten kommen kann. Dies sehe ich bei dem KZ-Opfer durchaus so, das vermute ich auch bei dem Autor dieses Artikels. Jedoch scheint mir bei dem ersteren der Grad des Opfer-Seins doch um ein mehrfaches größer, als der Grad der Täterschaft. Und rätselhaft bleibt mir, worin die „Täterseiten“ der beiden Frauen tatsächlich liegen sollten. Ich habe in meinen Ausführungen erwähnt, daß ich durchaus Fälle kennen, in denen die Opfer in der Opferrolle verbleiben – was durchaus auch problematisch ist, wobei hieraus jedoch zunächst einmal vor allem Konsequenzen für die Betroffenen selbst resultieren, und nicht so sehr für ihr soziales Umfeld.

Warum Sie mir indirekt also ein Schwarz-Weiß-Denken unterstellen, ein Denken in platten Kategorien von Gut und Böse, das vermag ich nicht nachzuvollziehen. Daß ich bei meiner Arbeit gerade nicht anstrebe, den „Opferstatus … zu verfestigen“, sondern zu aktiver Gegenwehr gegen wiederholte Entwertung und Gewalt ermuntere, das glaubte ich in meinem Text – z.B. auf S. 8 oder S. 11 – ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben. Mich können Sie mit Ihren Ausführungen also nicht meinen.

Immerhin konstatieren Sie, daß der Artikel von Kernberg Sie nicht besonders anspricht. Aber damit haben Sie sich in Ihrer Aussage äußerst bedeckt gehalten. Finden Sie den Artikel langweilig? Bedeutungslos? Uninteressant? Unwichtig? Nicht skandalös, empörend, ungeheuerlich oder widerwärtig?

Es freut mich immerhin, wenn Sie schreiben, Sie könnten sogar meine „Vermutung teilen, daß darin Persönliches anklingt“. Wegen meiner Mutmaßungen bin ich bisher von KollegInnen eher gerügt worden.

Deutlich zurückweisen möchte ich jedoch Ihre Unterstellung, meine „Empörung (resultiere) … aus der fehlenden Kenntnis psychodynamischer Konzepte“.

Freud pflegte Kritik immer wieder damit zurückzuweisen, daß er behauptete, wer seine Methode nicht praktiziert habe, der dürfe auch nicht über seine Ergebnisse urteilen. Und dies schreibt er in Abhandlungen, in denen er gleichzeitig enthüllt, er sei hier nicht in der Lage, seine Methode darzustellen. Die wissenschaftliche Unredlichkeit, ja Lächerlichkeit, derartiger Argumentationsmuster ist hinlänglich besprochen (vgl. Dieter E. Zimmer (1986): „Tiefenschwindel“, Hoimar v. Ditfurth (1989): „Innenansichten eines Artgenossen“, Klaus Schlagmann: „Der Fall Dora …“, 1997, Han Israels „Der Fall Freud“, 1999). Es scheint mir zu simpel zu behaupten, derjenige, der sich über bestimmte Konzepte empört, habe diese nur nicht verstanden. Das kann sicherlich der Fall sein. Aber es ist keineswegs zwingend! Man muß sich nicht in alle Gedankengebäude vertieft haben, bevor man sie – eventuell auch mit Empörung – zurückweisen kann. Auch ohne Faschist oder Stalinist gewesen zu sein, vermag man derartige Lehren von sich weisen zu können. Oder ein anderes Beispiel: meinen Sie, man müßte den „Hexenhammer“ studiert haben, um etwas gegen Hexenverbrennungen einwenden zu dürfen? Darf man die Kritik der Hexenverbrennung nur den Inquisitoren überlassen, weil sie die Fachleute in dieser Materie sind? Zeigen alle KritikerInnen der Hexenverbrennungen, daß Sie die Lehren der katholischen Kirche nicht verstanden haben? Kritisieren sie sie nicht eventuell gerade deshalb, weil sie sie sehr wohl verstanden haben?

Haben Sie kein Problem damit, daß familiäre Unterdrückung mit dem Betreiben von Vernichtungslagern gleichgesetzt wird? Bedeutet Ihre Argumentation, daß Sie Kernberg darin zustimmen, daß ein Opfer von Vergewaltigung in der Therapie lernen müsse, sich mit der „sexuellen Lust des sadistischen, inzestuösen Vaters“ zu „identifizieren“? Sehen Sie auch das Hauptproblem dieses Mißbrauchs-Opfers darin, daß es bei diesem Akt einen „sexuell erregenden Triumph über die Mutter“ erlebe? Glauben Sie auch, daß der Suizid der Klientin vor allem aus ihrer „Transformation“ vom Opfer zur Täterin zu verstehen ist, und nicht als katastrophaler „Therapeuten“-Fehler? Meinen Sie nicht, daß es zu durchsichtig ist, wenn bei entsetztem Widerspruch gegen solche Behauptungen auf das Zauberwort „unbewußt“ zurückgegriffen wird, mit dem sich dann jede noch so perverse Unterstellung „begründen“ läßt?

Das kommt mir vor wie bei einem Hexenprozess: wenn die Beschuldigten die Folter aushalten, dann zeigt sich darin, daß der Teufel selbst sie mit außergewöhnlichen Kräften ausstattet – also erweisen sie sich als Hexen; ein Bekenntnis beweist ebenfalls deren Hexennatur.

Ähnlich läßt sich mit dem Widerspruch hantieren: wird einer Deutung widersprochen, dann zeigt sich darin der Widerstand. Je stärker der Widerstand, desto stärker das Andrängen des unterstellten Impulses. Wird der Deutung zugestimmt, dann gilt der Impuls ebenso als nachgewiesen.

Mir scheint eine große Gefahr darin zu liegen, jede Form therapeutischen Empfindens – als „Gegenübertragung“ geadelt und dann über jeden Zweifel erhaben – unreflektiert in den therapeutischen Prozeß einfließen zu lassen. Mit dieser Einstellung kann ich mich immer darauf zurückziehen, daß ich ganz deutlich spüre, daß der Klient, vor dessen Augen die eigene Familie ermordet wurde, sich genauso verhalte wie der Kommandant seines Lagers, daß die suizidierte Klientin ihren Therapeuten zum Opfer mache, oder daß das 10jährige Luder beim Sex mit dem Papa die erregende Lust empfinde, die Mama auszustechen. Selbst wenn in den TherapeutInnen im Kontakt mit ihren KlientInnen derartige Eindrücke entstehen, dann halte ich das zwar für vorstellbar und dann auch erstmal für nicht zu ändern, aber ich halte es weder für legitim, noch für notwendig, diese eigenen (m.E. „perversen“) Phantasien auf Therapeuten-Seite den KlientInnen als begnadete Deutungen einreden zu wollen. Denn die KlientInnen (oder ihre Kassen) haben Geld dafür bezahlt, daß psychische Störungen geheilt werden, und nicht dafür, daß irgendjemand seine unbewältigten Neurosen an ihnen ausläßt.

Das heißt – wohlgemerkt – nicht, daß ich nicht auch als Therapeut eigene emotionale Reaktionen bei mir wahrnehme und auch in den therapeutischen Prozeß einfließen lasse. Aber hier sollte man zu unterscheiden lernen, was nun therapierelevante Emotionen sind, und was aus eigenen unbewältigten Neurosen entspringt. Es scheint mir zu simpel zu sein, jede erbärmliche Phantasie eines Therapeuten sofort für therapeutisches Gold auszugeben. Das von Kernberg empfohlene Spektrum – entwickelt aus dem „identifizieren“ mit KZ-Kommandanten, Folterern und Kinderschändern – scheint mir da komplett ungeeignet zu sein. Und – wohlgemerkt – Kernberg meint ja tatsächlich nicht, daß jedes entstehende Gefühl von therapeutischem Nutzen sei. Denn Mitleid scheint man ja auf jeden Fall bei sich unter Kontrolle halten zu müssen. Dagegen scheint man den sadistischen, inzestuösen Trieben in der Phantasie freien Lauf lassen zu sollen. Eine solche Haltung ist in meinen Augen pervers!

Vielleicht interessiert es Sie, daß ich durch meine Ausbildungen (z.B. in katathym-imaginativer Psychotherapie oder Hypnose) immer wieder mit dem „Unbewußten“ (das ich eher als „Unterbewußtes“ bezeichne) konfrontiert bin, den Grund vieler Störungen hierin verwurzelt finde, und dessen Macht und Einfluß auch gerne zu therapeutischen Zwecken nutze. Das Umgehen mit dieser Seite des Menschen ist mir also durchaus nicht fremd, wenngleich ich mich doch dagegen verwehre, allen möglichen Unsinn in diesen Bereich hineinpacken zu lassen. 

Lassen Sie mich noch einmal auf Ihren Brief zurückkommen. Sie haben geschrieben: „Was jedoch die Empörung betrifft, so vermute ich, daß sie aus der fehlenden Kenntnis psychodynamischer Konzepte resultiert, welche sich mit unbewussten intrapsychischen Konflikten und unbewussten intrapsychischen Bewältigungsstrategien beschäftigen, die in der vorliegenden Darstellung möglicherweise etwas zu konkretistisch imponieren, von manchen Lesern als bewusste Einstellungen mißverstanden werden und daher Widerspruch auslösen.

Es scheint mir gar nicht so klar entschieden zu sein, wer von uns beiden die „psychodynamischen Konzepte“ – zumindest diejenigen Kernbergs – besser „verstanden“ hat: geht es denn Kernberg wirklich um „unbewußte“ Einstellungen? Behauptet er nicht, daß die Heilung dadurch entstehe, daß sich die KlientInnen ihre Perversionen „bewußt“ machen, diese also in „bewußte Einstellungen“ umwandeln müßten? Sollen TherapeutInnen nicht gerade dabei helfen, durch „Identifizieren“ mit KZ-Kommandanten usw. ihren KlientInnen eine bewußte „Identifizierung“ mit ihren Mißhandlern zu erleichtern? Die Klientin erfährt Heilung – nach Kernberg – wenn sie realisiere, daß sie als 10jährige den Sex mit ihrem Vater als geil empfunden hat, womit sie sich gegenüber der Mutter schuldig gemacht hat. Sie hat auch zu lernen, sich mit der sexuellen Erregung des sadistischen inzestuösen Vaters zu „identifizieren“. Als ihr dies – dank Kernbergs Therapie – endlich gelingt, da kann sie nun endlich beim Sex mit ihrem sadistischen Partner einen Orgasmus erleben. Hier ist doch also eine Einstellung gemeint, die ins „Bewußtsein“ gehoben werden muß. Sich „unbewußt“ damit zu identifizieren, wäre ja für die Heilung wohl irrelevant, denn das tut die Betroffene ja – nach Kernberg – wohl sowieso schon die ganze Zeit.

Und hätte die andere Klientin ihren Suizid überlebt und hätte sie sich weiter zur Behandlung in Kernbergs Klinik begeben, dann hätte doch die „Therapie“ wohl darin bestanden, ihr „bewußt“ zu machen, daß sich bei ihr eine Transformation vom Opfer zur Täterin vollzogen hätte. Diese „Einsicht“ wäre doch von ihr gefordert worden, oder nicht?

Ich bin sicher, daß manches von meinen Äußerungen für Sie schwer anzunehmen sein wird. Deswegen vermag ich hier nur für den kleinsten gemeinsamen Nenner Werbung zu machen. Ich gehe davon aus, daß Sie ebenso das Wohl der von Ihnen behandelten KlientInnen im Auge haben wie ich. Vielleicht mögen Sie dann meiner Argumentation folgen, daß dann, wenn KlientInnen als Kinder unsägliche Gewalt aus ihrem sozialen Umfeld erlitten haben, daß sie dann in erster Linie (nicht ausschließlich!) als Opfer zu betrachten sind, und nicht als Täter. Daß aus dieser Opfer-Situation – durch die damit einhergehende emotionale Überwältigung – im wesentlichen die Störung resultiere. Und daß in Situationen, in denen ein Mensch durch vorgeblich „professionelle“ Heiler zu Schaden kommt, dies nicht plump dem Opfer angelastet werden darf, sondern in erster Linie als „Kunstfehler“ einzuordnen ist. Schließlich könnten Sie mir womöglich auch noch soweit entgegenkommen, mein Anliegen zu unterstützen, daß die Opfer schwerster Gewalt (KZ, Folter usw.) charakterlich nicht allzu leichtfertig mit ihren Mißhandlern gleichgesetzt werden, es sei denn, daß sie tatsächlich exakt dieselben Handlungen ausgeführt haben, die sie selbst erlitten hatten. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann wäre womöglich ein Schritt zur Verständigung auf minimaler Basis getan.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

(Auf diesen Brief folgte keine Reaktion mehr.)

 

NEUTRALTÄT bzw. NICHT-REAKTION gegenüber meiner Kritik

Beispiel-Formulierungen vorab:

„sofern Sie einen Kommentar von mir wünschen, benötige ich dazu  den gesamten Text des Originalartikels, nicht aber einzelne,  von Ihnen bereits selegierte und kommentierte Passagen“
„bitte ich zunächst um die Angabe, um welche Zeitschrift es sich handelt.“
– und nach der Bekanntgabe der Quelle: Keine weitere Reaktion

Dr. NR1

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

sofern Sie einen Kommentar von mir wünschen, benötige ich dazu den gesamten Text des originalartikels, nicht aber einzelne, von Ihnen bereits selegierte und kommentierte Passagen. Mit freundlichem gruß, Dr. NR1 Professor of Clinical and Community Psychology Dep. Psychology

(Die Kopie des Artikels erhielt ich zurück mit dem Kommentar: „Mit bestem Dank zurück – NR1“- ansonsten keine weitergehende Reaktion.)

Prof. Dr. NR2

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

warum zitieren Sie den Text nicht korrekt. Nur so könnte man sinnvoll Stellung nehmen zu Ihrer Erwiderung. Meine Bitte deshalb noch einmal: Bitte geben Sie die Textquelle an oder übersenden Sie den Orginaltext, auf den sich Ihre Stellungnahme bezieht, als Attachment (ebenfalls mit Quellenangabe).

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. Dr. NR2

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

haben Sie herzlichen Dank für die erneute Übersendung Ihres Beitrages. Werde mir den Orginaltext und Ihren Beitrag in den nächsten Tagen anschauen.

Mit besten Grüßen  –  Prof. Dr. NR2 Institut für Prävention u.a.

(Es erfolgte seither keine weitere Reaktion.)

 

Prof. Dr. NR3

Mail vom 10.09.2000

Ich möchte mich nur äußern, wenn ich eine konkrete Benennung der Fälle der Quelle vor mir habe. Bitte nennen Sie mir diese oder senden Sie mir eine Kopie zu. Ich werde mich dann damit auseinandersetzen und denen antworten.

Mit freundlichen Grüßen – Prof. Dr. NR3

 

Sehr geehrter Herr Prof. NR3,

Sie haben recht. Das von mir ursprüngliche gewählte Vorgehen – den Autor ungenannt zu lassen – ist problematisch. Aber ich meine, daß mir dieses Vorgehen bisher durchaus etwas gebracht hat. Ich habe bisher zumindest zwei Rückmeldung erhalten, die ich bei Nennung des Namens sicherlich nicht in dieser Klarheit bekommen hätte.

Die von mir kritisierten Passagen finden sich in dem Artikel: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), Jg. 3 (1999), Heft 1, S. 5-15. Der Autor ist der amtierende Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Mitherausgeber der entsprechenden Zeitschrift, Wissenschaftlicher Beirat der Lindauer Psychotherapietage, und sicherlich vieles andere mehr: Otto F. Kernberg.

MfG – Klaus Schlagmann

(Seither keine Reaktion mehr.)

NR4

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

danke für Ihre Nachricht, die mich nachdenklich stimmt. Gerne werde ich Ihnen in den nächsten Tagen eine ausführliche Stellungnahme zukommen lassen.

Bitte übersenden Sie mir den gesamten Artikel. Meine Fax Nr. … – meine Anschrift:

Freundliche Grüße – NR4

(Seit Übersendung des Artikels am 11.09.2000 erfolgte keinerlei Reaktion.)

 

 Prof. NR5

Sehr geehrter Herr Schlagmann!

Eine wissenschaftliche Veröffentlichung sollte zur Erkenntnisbildung anregen und Anstöße für einen weiterführenden wissenschaftlichen Diskurs geben. Der von Ihnen nicht genannte Artikel entrüstete Sie. Es gibt nichts Naheliegender, als sich selbst in fairer Manier mit einer wissenschaftlich fundierten Erwiderung in die Diskussion einzuklinken. Aber tun Sie es selbst. Sie können dabei nur gewinnen. Kaum sonst wo lernt man die Position des anderen besser kennen, als wenn man sich damit gründlich auseinandersetzt. Das sollte und kann niemand für Sie tun. Zudem noch, wo der von Ihnen Aufgeforderte den vollen Text nur auszugsweise und von Ihnen bereits kommentiert vor sich hat. So kenne ich den wissenschaftlichen Diskurs nicht.

Mit freundlichem Gruß  –  Prof. NR5

Prof. Dr. Phil. NR6

  1. März 2001

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

haben Sie vielen Dank für die liebenswürdige Zusendung Ihrer Arbeit und des Artikels von Kernberg. Ich finde die Thematik außerordentlich brisant und wichtig und werde mich, sobald ich zeitlich dazu komme, mit den Materialien beschäftigen. Dann melde ich mich wieder.

Mit freundlichen Grüßen – Ihr NR6, Leiter des Institutes für … Psychoanalyse, Honorarprofessor im Fachbereich Humanmedizin der Universität …

(Keine weitere Reaktion.)

Prof. Dr. phil. NR7.

25.09.00

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

haben Sie Dank für Ihren Brief vom 3. September. Leider erlaubt mir meine berufliche Belastung nicht, Ihrem Anliegen nachzukommen.

Ich empfehle Ihnen, sich mit der Fachzeitschrift in Verbindung zu setzen und ein Forum zu suchen, um sich mit dem Autor direkt auseinanderzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. V. K.

Prof. Dr. Otto F. Kernberg

  1. September 2000

Herr Kernberg,

kürzlich bin ich in einer Fachzeitschrift von 1999 auf die Formulierung einer Position gestoßen, die mich sehr schockiert hat:
– ein Opfer von KZ-Gewalt verhalte sich wie der frühere Kommandant seines Lagers;
– eine vergewaltigte 10jährige genieße den sexuellen Triumph über ihre Mutter;
– eine Frau, die sich nach einem sexuellen Mißbrauch durch ihren Therapeuten suizidiert hat (woraus eine Anklage gegen den Therapeuten erfolgte) zeige durch ihre Tat eine Transformation vom Opfer zur Täterin.

Die empfohlene Therapie läuft darauf hinaus, daß die PatientInnen sich mit ihren Mißhandlern „identifizieren“ müßten. Der Therapeut helfe, indem auch er sich mit KZ-Kommandanten, Folterern und Kinder­schändern zu „identifizieren“ lerne.

In dem der mail angehängten Text habe ich den Artikel einer ausführlicheren Kritik unterzogen. Dabei bemühe ich mich auch um eine Hypothese zur Psychodynamik, die beim Verfassen derartiger Wirklichkeitsverdrehungen zugrundegelegen haben mag. 

Vermutlich kommen Ihnen die kritisierten Ideen bekannt vor, denn Sie stammen aus Ihrer Feder.

In einer Veröffentlichung von 1996 bzw. 1997 (K. Schlagmann: Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. ISBN: 3-9805272-1-2) hatte ich bereits die Logik des Triebmodells kritisiert. In diesem Rahmen hatte ich auch versucht, anhand dreier weiterer Werke von Ihnen Ihre z.T. massiv entwertende Einstellung gegenüber Ihren KlientInnen herauszuarbeiten.

Derzeit bemühe ich mich, einige Kolleginnen und Kollegen auf diese ungeheuerliche Position aufmerksam zu machen. Ich werde mich dafür einsetzen, Ihre Ausführungen bspw. von einer Ethik-Kommission begutachten zu lassen. Damit möchte ich eine massive öffentliche Zurückweisung einer derartigen Verwirrung erreichen. Psychotherapeutisches Denken darf durch Beiträge wie die Ihrigen nicht länger in Mißkredit gebracht werden.

Als wissenschaftlichen Beirat bei den Lindauer Psychotherapiewochen halte ich Sie für untragbar. Für diese Einstellung werde ich werben.

Klaus Schlagmann

(Keine Reaktion auf mein Anschreiben.)

TENDENZIELLE ZUSTIMMUNG zu meiner Kritik

Beispiel-Formulierungen vorab:

„Nach oberflächlicher Durchsicht glaube ich, Ihre Empörung zu verstehen und möchte Sie nicht ganz ohne Antwort lassen. Gleichwohl werde ich
Ihren Wunsch nach einem Kommentar nicht erfüllen …“
„Ihren Widerwillen gegen diesen Artikel teile ich. Problematisch an Ihrer Stellungnahme ist, …“

Prof. Dr. TZ1

Lieber Herr Schlagmann,

ich verstehe Ihr Befremden ueber die Formulierungen. Ich werde sehen, ob in unserer Abteilung jemand, der sich mit der Thematik mehr befasst hat, sich um eine Antwort kuemmern kann.

Mit freundlichen Gruessen – Prof. Dr. TZ1, Lehrstuhl Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologisches Institut

(Es erfolgte keinerlei weitere Reaktion.)

 

TZ2

Lieber Kollege Schlagmann,

als AI Mitglied und in Deutschland in verschiedenen Gruppen taetiger Friedensmensch stossen mich natuerlich solche zitierten Saetze kraeftig ab. Ich nehme dennoch keine weitere Stellung dazu, da mir Ihr Schreiben eher wie ein Test (statt einer erschreckenden Wirklichkeitssituation) vorkommt, da Sie die Quelle nicht offenlegen. – Ob dies eine Veraenderung der Beurteilung zur Folge hat, wuerde ich dann dem Einzelnen ueberlassen.

Ich gruesse Sie aus der Ferne. Adios  –  NR8

(Nach Zusendung der Quellenangabe keinerlei Reaktion.)

 

Prof. Dr. TZ3

Sehr geehrter Herr Schlagmann:

Von meinem Sekretariat wurde mir Ihr Rundschreiben zugeleitet. Nach oberflächlicher Durchsicht glaube ich, Ihre Empörung zu verstehen und möchte Sie nicht ganz ohne Antwort lassen. Gleichwohl werde ich Ihren Wunsch nach einem Kommentar nicht erfüllen, aus zwei Gründen:

  1. Sie können keinen Kommentar erwarten, wenn Sie mir nicht zutrauen, in Kenntnis der inkriminierten Quelle ein objektives Urteil abzugeben: Sie müssen sich auch selbst an “good scientific practice” halten und mit offenen Karten spielen, um glaubwürdig zu bleiben.
  2. Gegen die Argumentation der von Ihnen kritisierten Veröffentlichung kann nur wirksam angehen, wer den Zirkel “psychodynamischer”  Deutungen durchbricht. Sie aber bleiben darin gefangen und deuten den Autor, dessen Deutungen sie kritisieren, selbst durch ein fragwürdiges argumentum ad hominem. Schade.

Ich jedenfalls möchte der Gebetsmühle der Deutungen keine weitere Umdrehung hinzufügen. Und ich frage mich, wieviele der in Ihrem Verteiler aufgeführten Kollegen sich wohl anders verhalten werden.

Mit freundlichen Grüßen – Prof. TZ3

Prof. Dr. TZ4

15.08.00

Lieber Herr Prof. TZ4,

nun habe ich doch noch endlich das Zitat gefunden, das mir im Kopf herum spukte. Freud vertrat anscheinend – nach Sandor Ferenczi – die “einzelnen Vertrauten mitgeteilte pessimistische Ansicht: die Neurotiker sind ein Gesindel, nur gut, uns finanziell zu erhalten und aus ihren Fällen zu lernen, die Psychoanalyse als Therapie sei wertlos” (Ferenczi, Klinisches Tagebuch vom 4. August 1932, 1989, S. 249). Diese Einstellung Freuds ist zwar bislang anscheinend nicht durch ein ausdrückliches Zitat belegt, jedoch hatte Freud bereits in einem Brief vom 20. Oktober 1909 an Ferenczi festgestellt: “die Patienten sind ekelhaft” (Gay 1989, S. 595).

Die Frage hatte mich beschäftigt, weil ich mich mit der Empfehlung eines Kollegen herumschlage, der für die Therapie von KZ- und Vergewaltigungsopfern empfiehlt: “Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten.”

Denn auch im Fall einer behandelten Frau, die als noch nicht 10jährige vom Vater vergewaltigt worden war, sei es für die Betroffene wichtig: “die Fähigkeit (zu erlangen), sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.”

Abgesehen davon, daß ich nicht nachvollziehen kann, wie man einen Orgasmus bei sadistischem Sex zum Erfolgskriterium machen kann, halte ich die hier vertretene Position für fatal. Zumal derselbe Autor empfiehlt, mit KlientInnen kein “Mitleid” zu haben, denn Mitleid sei “sublimierte Aggression” – hier bezieht er sich auf eine Äußerung Freuds. Es gehöre also zu den Regeln der Kunst, sich als TherapeutIn im Rahmen einer “Behandlungsstrategie” gegenüber den KlientInnen “vor Mitleid (zu) schützen”, Mitleid als Akt der Aggression gegen die KlientInnen zu verstehen, während man sich in die ekelhafte Welt der KZ-Kommandanten, Folterer und Kinderschänder einzufühlen, die “Lust … am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren” auszukosten habe.

Eine solche verächtliche Position gegenüber den Opfern schwerster Mißhandlung ist m.E. vergleichbar der oben zitierten von Freud – soweit sie im einen Teil wohl belegt, im anderen von Ferenczi als Gewährsmann widergegeben wird.

Halten Sie nicht auch den zitierten Kollegen (Text von 1999!) für abstrus bzw. gar für widerwärtig?

MfG – Klaus Schlagmann

 

20.08.00

Lieber Herr Prof. TZ4,

verzeihen Sie meine Neugier, aber ich würde mich dafür interessieren, was Sie von den Ihnen zuletzt zugesandten Zitaten über die Aufgaben von Psychotherapeuten (Identifikation mit KZ-Kommandanten und Kinderschändern bzw. Schutz vor Mitleid mit den Patienten) halten. Darf ich Ihre Einstellung dazu wissen?

Liebe Grüße – Klaus Schlagmann

21.8.2000

Lieber Herr Schlagmann,

da ich auswärts war, habe ich gleich 2 e-mails von Ihnen vorgefunden. Ich will eine Antwort versuchen, obwohl ich Ihren Gedankengängen nur schwer folgen kann.

Ich bin nicht der Meinung, daß Therapie nur möglich ist durch Identifizierung des Therpeuten mit Gefühlen oder Trieben seiner Patienten. Aber was hat Freuds Aussage über seine Patienten mit den Gedanken des von Ihnen zitierten Psychotherapeuten über die angeblich notwendige Identifizierung des Therapeuten mit sadistischen Trieben von Patienten zu tun? Berechtigt zu dieser Verknüpfung allein die Tatsache, daß dieser Psychotherapeut sich auf Freud beruft? Oder hängt diese Verknüpfung vielleicht mit einem Vorurteil Ihrerseits gegenüber Freud zusammen?

Mit besten Grüßen – Ihr TZ4, Institut für …

21.08.00

Lieber Herr Prof. TZ4,

ich weiß nicht genau, was es Ihnen schwer macht, meinen Gedankengängen zu folgen. Vielleicht darf ich noch einmal erläutern: Ausgangspunkt war die Lektüre eines Artikels, aus dem ich Ihnen zitiert habe, in dem den Therapeuten die Identifizierung mit KZ-Kommandanten und Kinderschändern empfohlen wird (weil es eine Aufgabe für die Patienten darstelle, sich mit den sie mißhandelt habenden TÄTERN zu identifizieren, um wieder gesund werden zu können), während von Mitleid mit dem Patienten abgeraten wird. In dem letzteren Fall beruft sich der Autor auf einen Brief Freuds an Pfister von 1916. Mir schien aus dieser Einstellung eine negative Haltung gegenüber Patienten zu sprechen. In diesem Zusammenhang fiel mir dann ein, einmal eine negative Äußerung Freuds über die Patienten gehört zu haben – konnte die Stelle dann aber bei aller Suche nicht finden. Darum hatte ich Sie um Hilfe gebeten. Kurze Zeit später fand ich die Stelle dann doch – allerdings nicht als direktes Zitat von Freud, sondern nur als Wiedergabe einer angeblichen Äußerung Freuds bei Ferenczi, die jedoch von Gay unter Bezug auf ein Zitat aus einem (bislang noch nicht veröffentlichten?) Freud-Brief an Ferenczi (1909) (“die Patienten sind ekelhaft, …”) anscheinend für durchaus authentisch gehalten wird.

Was meine “Vorurteile” gegenüber Freud anbelangt, so habe ich sicherlich einige. (Da ich ihn nicht mehr persönlich erlebt habe, komme ich ohne gewisse Annahmen über ihn und sein Handeln nicht aus.) Von meinen Referaten her hatte ich jedoch gehofft, in meiner Kritik gegenüber bestimmten Freudschen Deutungsmustern von bestimmten Mythen durchaus plausibel nachweisen zu können, daß dabei die Handlungslogik auf den Kopf gestellt wird, daß Opfer der Umstände zu Tätern gestempelt werden. Meine Hypothese ist, daß die Logik dieses Mißverständnisses in das Vesrtändnis von PatientInnen mit einfließt. Und mit dieser – wie ich meine: verdrehten – Logik liegt es nahe, sich nicht allzu sehr in PatientInnen einzufühlen.
Es scheint mir jedoch eine fatale Fortentwicklung zu sein, wenn der von mir zitierte Autor neben der Warnung davor, Mitleid mit den PatientInnen zu haben, nun dazu auffordert, sich mit Mißhandlern zu identifizieren, mit KZ-Kommandanten, Folterern und Kinderschändern. Nämlich mit den Worten:

“Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten.”

Diese Empfehlung erfolgt auf der Basis der Behauptung, daß es für eine als noch nicht 10jährige vom Vater mehrfach vergewaltigt Frau wichtig sei, “die Fähigkeit (zu erlangen), sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.” Der Therapeut, so die Argumentation, müsse da also schon einmal mit gutem Beispiel vorangehen in der Identifizierung mit dem TÄTER (nicht etwa mit dem Betroffenen).
Auch wenn Sie überaus diplomatisch geantwortet haben, so würde mich doch interessieren, was sie zu einer solchen Vorstellung von therapeutischer Arbeit denken.

Liebe Grüße – Klaus Schlagmann

22.08.00

Lieber Herr Prof. TZ4,

ich habe meine Gedanken zu dem besagten Text in einem 8seitigen Text (im eMail-Anhang) einmal etwas ausführlicher dargelegt. Über Ihre – auch kritische – Rückmeldung wäre ich Ihnen sehr dankbar. Es geht mir dabei gar nicht um eine Kritik an Freud, jedoch habe ich die Hypothese, daß sich die dargestellte Position aus seiner Triebtheorie ableitet.

Liebe Grüße – Klaus Schlagmann

24.8.2000

Lieber Herr Schlagmann,

eigentlich dachte ich, klar – und keineswegs diplomatisch – geantwortet zu haben, wenn ich schrieb: “Ich bin nicht der Meinung, daß Therapie nur möglich ist durch Identifizierung des Therapeuten mit Gefühlen oder Trieben seiner Patienten.” Damit habe ich doch klar zum Ausdruck gebracht, daß ich die Meinung des von Ihnen zitierten Autors nicht teile. Ich konnte aber nicht die Verbindung nachvollziehen, die Sie zwischen dessen Meinung und Freuds Gedanken herstellen.

Für Ihren Aufsatz danke ich Ihnen. Ich bin aber nicht in der Lage, mich jetzt in ihn zu vertiefen. In einer Woche möchte ich in Urlaub gehen. Bis dahin ist noch viel zu erledigen.
In der Hoffnung auf Ihr Verständnis bin ich mit freundlichen Grüßen

Ihr TZ4

24.08.00

Lieber Herr Prof. TZ4,

wenn Sie schreiben: “Ich bin nicht der Meinung, daß Therapie nur möglich ist durch Identifizierung des Therapeuten mit Gefühlen oder Trieben seiner Patienten.”, dann kann ich daraus noch keine Rückschlüsse darauf ziehen, was Sie darüber denken, wenn jemand empfiehlt, man müsse sich als Therapeut mit den Menschen identifizieren, die die betreffenden KlientInnen in ihrer Kindheit mißhandelt, gefoltert oder sexuell mißbraucht haben. Es ist also gar nicht von einer Identifizierung mit den Gefühlen der PatientInnen die Rede, sondern mit denjenigen von deren MISSHANDLERN. Vielleicht finden Sie ja einmal Zeit, meine etwas breiteren Ausführungen zu lesen, in denen das, was ich kritisiere, etwas ausführlicher umrissen ist – sofern dies in Ihr Interessensgebiet fällt. Über eine kurze Rückmeldung dazu würde ich mich freuen. Selbstverständlich will ich Sie mit meinen Themen nicht belästigen und wünsche Ihnen (und darf dies wohl auch für Ihre Frau tun) einen erholsamen, interessanten Urlaub. Kommen Sie wohlbehalten an Ihr Ziel – und auch wieder zurück.

Liebe Grüße – Klaus Schlagmann

  

Prof. TZ5

15.08.00

Lieber Herr TZ5,

ich wollte schon Entwarnung geben, denn heute nacht habe ich doch noch endlich das Zitat gefunden, das mir im Kopf herum spukte. Freud vertrat anscheinend – nach Sandor Ferenczi – die “einzelnen Vertrauten mitgeteilte pessimistische Ansicht: die Neurotiker sind ein Gesindel, nur gut, uns finanziell zu erhalten und aus ihren Fällen zu lernen, die Psychoanalyse als Therapie sei wertlos” (Ferenczi, Klinisches Tagebuch vom 4. August 1932, 1989, S. 249). Diese Einstellung Freuds ist zwar bislang anscheinend nicht durch ein ausdrückliches Zitat belegt, jedoch hatte Freud bereits in einem Brief vom 20. Oktober 1909 an Ferenczi festgestellt: “die Patienten sind ekelhaft” (Gay 1989, S. 595).

Die Frage hatte mich beschäftigt, weil ich mich mit der Empfehlung eines Kollegen herumschlage, der für die Therapie von KZ- und Vergewaltigungsopfern empfiehlt: “Wir müssen uns also mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers, mit dem Folterer in der Diktatur, mit dem inzestuösen Vater, mit der sadistischen Mutter identifizieren können. Wir müssen so auch die Lust verspüren am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren, denn die Bereitschaft dafür haben wir alle in unserem Unbewußten.”

Denn auch im Fall einer behandelten Frau, die als noch nicht 10jährige vom Vater vergewaltigt worden war, sei es für die Betroffene wichtig: “die Fähigkeit (zu erlangen), sich mit dem Täter zu identifizieren, nämlich mit der sexuellen Erregung des sadistischen, inzestuösen Vaters, und so wurde es ihr auch möglich, den Haß gegen den Vater mit dem Verstehen seines sexuellen und ihres sexuellen Verhaltens zu verbinden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie fähig, einen Orgasmus im sexuellen Verkehr mit ihrem sadistischen Freund zu erleben.”

Abgesehen davon, daß ich nicht nachvollziehen kann, wie man einen Orgasmus bei sadistischem Sex zum Erfolgskriterium machen kann, halte ich die hier vertretene Position für fatal. Zumal derselbe Autor empfiehlt, mit KlientInnen kein “Mitleid” zu haben, denn Mitleid sei “sublimierte Aggression” – hier bezieht er sich auf eine Äußerung Freuds. Es gehöre also zu den Regeln der Kunst, sich als TherapeutIn im Rahmen einer “Behandlungsstrategie” gegenüber den KlientInnen “vor Mitleid (zu) schützen”, Mitleid als Akt der Aggression gegen die KlientInnen zu verstehen, während man sich in die ekelhafte Welt der KZ-Kommandanten, Folterer und Kinderschänder einzufühlen, die “Lust … am Zerstören, die Lust, eine Brandbombe zu werfen, die Lust sadistische Aggressionen zu verspüren” auszukosten habe.
Eine solche verächtliche Position gegenüber den Opfern schwerster Mißhandlung ist m.E. vergleichbar der oben zitierten von Freud – soweit sie im einen Teil wohl belegt, im anderen von Ferenczi als Gewährsmann widergegeben wird.

Halten Sie nicht auch den zitierten Kollegen (Text von 1999!) für abstrus bzw. gar für widerwärtig?

MfG – Klaus Schlagmann

15.08.00

Lieber Herr Schlagmann,

selbstverständlich ist das widerwärtig und hat meines Erachtens wenig mit der Psychoanalyse und noch weniger mit Freuds Einstellung zu tun.

Freuds Äußerungen sind oft zynisch, aber sein Umgang mit den Patienten ist immer undogmatisch und verstehend gewesen, allerdings auch offen. Er hat – soweit ich das beurteilen kann – seinen Patienten immer das entgegengebracht, was Rogers/Tausch “positive Wertschätzung” genannt haben. [Und wie verträgt sich das mit dem „die Patienten sind ekelhaft“? K.S.]

Will man Freuds Einstellung zu seinen Patienten beurteilen, muß man in erster Linie seine Briefe an Patienten lesen.

Auf Ferenczis Bemerkung allein kann man – glaube ich – keine Argumentation zu Freuds Behandlung aufbauen.

Herzliche Grüße –  Prof. Dr. TZ5, Klinik für Neuropsychiatrie

 

15.08.00

Lieber Herr TZ5,

ich freue mich, daß Sie die Zitate mit so klaren Worten kommentieren: “selbstverständlich ist das widerwärtig und hat meines Erachtens wenig mit der Psychoanalyse und noch weniger mit Freuds Einstellung zu tun.”

Nun möchte ich Ihnen aber auch noch mitteilen, daß diese Widerwärtigkeiten (und noch einige mehr) aus der Feder des Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung stammen, von Otto F. Kernberg. Nachzulesen in der Zeitschrift Persönlichkeitsstörungen – Theorie – Therapie, Jg. 3, 1999, Heft 1, S. 5 – 15. Sehr, sehr aufschlußreich, wie ich meine. Und ich glaube schon, daß eine solche Position fast zwingend ist, wenn man die Logik der von mir in Tübingen ja mehrfach attackierten “Triebtheorie” auf die Spitze treibt.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

15.09.00

Lieber Herr Schlagmann,

vielen Dank für Ihren Kernberg-Artikel. Ich finde ihn sehr interessant, weiß aber nicht, ob und wo Sie ihn veröffentlichen wollen. Für eine Fachzeitschrift ist der Stil zu journalistisch, würde also eher in ein Magazin passen.

Im Prinzip bin ich mit Ihnen einer Meinung, wie ich Ihnen ja schon schrieb.

Das Grundproblem ist wohl, daß es solche Verhaltensmuster und Identifikationen (Masochismus, ödipale Konstellationen) wie die von Kernberg beschrieben wohl auch mal gibt; sie werden aber oft völlig unzulässig verallgemeinert. Freud hat ja auch von seiner eigenen Selbstanalyse auf die ganz Menschheit geschlossen. Ich glaube, man muß jeden Fall ganz individuell sehen und konsequent den Patienten das Material liefern lassen und sich mit eigenen Deutungen sehr zurückhalten.

Und noch etwas zu Freud: Ich werde mit jedem Jahr, das ich mich mit ihm beschäftige manchen seiner Theorien gegenüber kritischer, sehe aber gleichzeitig immer mehr, wie undogmatisch er selbst in der Behandlung vorgegangen ist. Also man muß sehr wohl zwischen psychoanalytischer Theorie, heutiger psychoanalytischer Praxis und Freuds eigenem Handeln unterscheiden.

Herzliche Grüße – Ihr TZ5

 

14.09.00

Sehr geehrter Herr Prof. TZ5,

ich hoffe, Sie waren nicht allzu sehr geschockt von meiner “Offenbarung” über den Autor der zitierten Widerwärtigkeiten. Sie wissen, daß ich der Trieb-Theorie sehr kritisch gegenüber stehe. Die Art, wie Kernberg diese auf die Spitze treibt, werte ich als Beleg für meine These. (Ich habe Herrn Kernberg übrigens bereits in zwei früheren Veröffentlichungen wegen seiner entwertenden Einstellung gegenüber seinen KlientInnen kritisiert, was ich anhand von drei seiner Veröffentlichungen analysiert habe; vgl. “Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste” 1997, ISBN 3-9805272-1-2).

Mittlerweile habe ich in einem Text eine ausführlichere Kritik des Artikels erarbeitet (als Anhang bei der Mail). Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann geben Sie mir doch dazu eine Rückmeldung. Ich glaube, daß es höchste Zeit wird, daß Menschen auch innerhalb der “Psychoanalyse” sich kritisch mit Freuds Erbe auseinandersetzen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind für mich dabei Ulrich Sachsse und Luise Reddemann. Für die Vergangenheit ließen sich Personen nennen wie Adler, Ferenczi, Horney, Winnicott, Miller und sicherlich viele andere mehr. Für mich ist dabei der Begriff der Psychoanalyse – der Begriff entsteht bereits 1896, also vor der großen theoretischen Wende – fest mit der “tragischen Analysis” (Schiller) des Sophokles verbunden. Es lohnt sich m.E. in die Geschichte zurückzusehen. Josef Breuer wird z.B. bei differenzierterer Betrachtung dabei einen überaus großen Stellenwert behalten. (Seine verständnislose Diffamierung durch Borch-Jacobsen läßt sich anhand der vorliegenden Dokument leicht widerlegen.)

Ist es nicht ein großer Vorteil, daß wir aus der historischen Perspektive auch sehr viel kritischer mit manchen Größen ihrer Zeit umgehen können? Und ist es nicht manchmal notwendig, die scheinbare Größe mancher Denker aus dem Rückblick zu relativieren? Mir persönlich scheint dies jedenfalls bei dem Freudschen Triebmodell dringend erforderlich, damit Entgleisungen wie diejenigen Kernbergs nicht mehr dazu herhalten können, Kritikern wie Rolf Degen Munition zu liefern, die mir das Kind mit dem Bade auszuschütten scheinen.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

Prof. Dr. Dr. TZ6

22.09.2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

die Position, die Sie zitieren, klingt in der Tat abenteuerlich. Nur bin ich außerstande, mich in die Sache zu vertiefen, da ich anderweitig voll beansprucht bin. So sehe ich mich nicht in der Lage, Ihre Einladung anzunehmen.

Mit freundlichem Gruß – Prof. Dr. Dr. TZ6

Sehr geehrter Herr Prof. TZ6,

herzlichen Dank für Ihre prompte Reaktion auf mein Anschreiben  („Weisheit oder Wahnsinn?“). Sie bewerten die von mir kritisierte Position als „abenteuerlich“.

Vielleicht werden Sie es überraschend finden, wenn ich Ihnen sage, welcher Autor derartig abenteuerliche Thesen in die Welt gesetzt hat: sie stammen von einem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Lindauer Psychotherapiewochen, dem amtierenden Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Otto F. Kernberg (in: „Persönlichkeitsentwicklung und Trauma“ in der Zeitschrift Persönlichkeitsstörungen – Theorie – Therapie, Jg. 3 (1999), Heft 1, S. 5-15). In einer Veröffentlichung von 1997 (Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. ISBN: 3-9805272-1-2) hatte ich bereits anhand dreier anderer Werke Kernbergs dessen massiv entwertende Einstellung gegenüber seinen KlientInnen herausgearbeitet.

Ich bemühe mich darum, Herrn Kernbergs Position von einer Ethik-Kommission begutachten zu lassen. Als wissenschaftlichen Beirat bei den Lindauer Psychotherapiewochen halte ich ihn für untragbar. Für diese Einstellung werde werben.

Mit freundlichem Gruß

(Auf diesen Brief erfolgte keine Reaktion mehr.)

Prof. Dr. Dr. TZ7

09.10.2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

inzwischen habe ich Ihren Artikel “Weisheit oder Wahnsinn?” gelesen. Er hinterläßt mich dezidiert ratlos. Als Grund dafür sehe ich die Tatsache, daß ich ein “in der Wolle gefärbter” Verhaltenstherapeut bin, der sich mit dieser Art psychoanalytisch/tiefenpsychologischer Argumentation immer schwer getan hat. Insofern wirkt die Diskussion auf mich reichlich verstiegen. Ich kann mir nach wie vor schwer vorstellen, daß jemand die von Ihnen angegriffene Position ernsthaft inne hat. Falls Sie den Autor recht verstanden haben, ist Ihre Empörung natürlich gerechtfertigt. Für mich ergibt sich aber einmal mehr der Eindruck, daß tiefenpsychologisch/analytische Argumentationen (zumindest gelegentlich) einen hohen Grad an Beliebigkeit zu haben scheinen. Und ‑ darauf weisen Sie hin ‑ daß sie nicht falsifizierbar sind.

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. Dr. TZ7, Institut für … Therapie, Dipl.‑Psychologe

PD Dr. med. Dr. phil. TZ8

Lieber Herr Schlagmann,

Ihre weit verteilte mail hat auch mich erreicht, und ich habe sie mit Interesse gelesen. Ich bin im wesentlichen der VT verbunden und werde daher kaum in Gefahr sein, einem Analytiker das Wort zu reden. Mich hat es jedoch sehr nachdenklich gemacht, mit welcher Vehemenz Sie die Person von Herrn Kernberg angreifen. Letztlich übernimmt er eine Position, die ihm sein “Schulgebäude” nahelegt und die er konsequent zu ende denkt. Die Ergebnisse dieses Denkprozesses gefallen mir ebensowenig wie Ihnen. Das erlaubt mir jedoch nicht, so gegen die Person Kernberg zu Felde zu ziehen. Es erstaunt mich allenfalls, wie viele Menschen dieses Gebäude überzeugend finden. Sollte etwas daran sein, dürfte man jedoch nicht “verbieten”, die Konsequenzen eines solchen Systems zu formulieren. Erst dann kann ja ein fruchtbarer Diskurs entstehen. Zum Glück haben wir ja seit geraumer Zeit alternative Erklärungsmodelle, die letztlich aus der akademischen Psychologie stammen.

Wie ich gesehen habe, haben Sie ja auch – an anderer Stelle – gegen theoretische Positionen der Psychoanalyse argumentiert und damit sicher auch andere angeregt, sich damit auseinanderzusetzen. Das halte ich für den besseren Weg.

Mit freundlichen Grüßen  –  Ihr TZ8, Priv.-Doz. Dr.med. Dr.phil. Dipl.-Psych., Internist, FA für Psychotherapeutische Medizin

 

Sehr geehrter Herr TZ8,

herzlichen Dank für Ihre umfassende Antwort.

Lassen Sie mich kurz erwidern: Sicherlich baut Kernberg auf einem Schulgebäude auf, aber gleichzeitig ist er einer von denjenigen, die selbst wiederum ein Schulgebäude errichten. Und ich kann solchen Ungeheuerlichkeiten nicht einfach kommentarlos zuhören. Ich halte dieses Geschwätz nicht nur für unsäglich blöde, sondern auch für gefährlich und schädlich. KlientInnen, die in derartiger Weise – “nach den Regeln der Kunst” – malträtiert werden, nehmen dadurch seelischen Schaden. Aus eigener Praxis habe ich Erfahrungen mit “Therapie”-Opfern. Kernberg setzt mit diesem letzten Artikel seinen bisherigen entwertenden Äußerungen dabei praktisch nur die Krone auf (vgl. Web-Seite).

Es ist meine Überzeugung, daß es in diesem Feld nicht so sehr um rationalen Diskurs geht. Es geht hier um Glaubensfragen. Und der Glaube wird mit Zähnen und Klauen verteidigt – auch wenn es Menschenleben kostet. Haben Sie schon einmal mit AnalytikerInnen diskutiert? Einen orthodoxen Freudianer zum Verzicht auf die Triebtheorie zu bringen dürfte ungefähr so schwierig sein, wie einen mittelalterlichen Inquisitor zum Verzicht auf Hexenverbrennungen zu bewegen. Wie gesagt: ich halte die Triebtheorie nicht nur für eine Geschmacksfrage, sondern – weil sie die Betroffenen durch die damit verbundene Invalidierung der eigenen Wahrnehmung und die unterschwellige Schuldzuweisung im Grunde re-traumatisiert – für einen systematischen Kunstfehler. Wer dies nach jahrzehntelanger Erfahrung nicht kapiert hat, wer weiterhin die Suizide seiner KlientInnen als “selbstdestruktive Tricks” belächelt oder als Opfer-Täter-Transformation diskreditiert, bei dem muß man schon eine schwer pathologische Persönlichkeit vermuten dürfen. Und davor sollte man die Öffentlichkeit warnen.

MfG – Klaus Schlagmann

Prof. Dr. med. TZ9

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Ihre Beispiele zeigen, daß wir immer wieder Gefahr laufen, allzu nachlässig mit unserer klinischen Sprache umzugehen.

Leider erlaubt mir mein Zeitbudget nicht, Ihre Anregung aufzunehmen und mich an Ihrer Aktion zu beteiligen. Ich bitte um Verständnis.

Mit freundlichen kollegialen Grüßen  –  Ihr Prof. Dr. med. TZ9

Sehr geehrter Herr Prof. TZ9,

herzlichen Dank für Ihre prompte Reaktion auf mein Anschreiben. Sie sehen in den von mir zitierten Passagen Beispiele dafür, „daß wir immer wieder Gefahr laufen, allzu nachlässig mit unserer klinischen Sprache umzugehen.“

Nun meine ich nicht, daß es sich bei der Wortwahl des zur Debatte stehenden Autors um eine reine Nachlässigkeit handelt. Der Artikel, auf den ich mich in meiner kritischen Schrift bezogen habe, lautet: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Er findet sich in der Zeitschrift Persönlichkeitsstörungen – Theorie – Therapie, Jg. 3 (1999), Heft 1, S. 5-15 und wurde verfaßt von dem amtierenden Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Otto F. Kernberg. In einer Veröffentlichung von 1996 bzw. 1997 (letztere: Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. ISBN: 3-9805272-1-2) hatte ich bereits anhand dreier anderer Werke Kernbergs dessen massiv entwertende Einstellung gegenüber seinen KlientInnen herausgearbeitet.

Es würde mich freuen, wenn Sie sich mit Ihrer Autorität meinem Anliegen anschließen würden, daß diese Position bspw. von einer Ethik-Kommission begutachtet wird. Herrn Kernberg halte ich z.B. als wissenschaftlichen Beirat bei den Lindauer Psychotherapiewochen für untragbar. Für diese Einstellung werde ich auch an anderer Stelle werben.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

(Auf diesen Brief erfolgte keine Reaktion mehr.)

TZ10

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

ich habe Ihre E-Mail über die Mailingliste “Gesundheitsfoerderung” bekommen.

Ich bin freie Mitarbeiterin des Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge wo ich seit 5 Jahren die sozialmedizinische Beratung für traumatisierte Flüchtlinge  aus Bosnien und Herzegovina anbiete. Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit habe ich mich mit den  gesundheitlichen Auswirkungen von traumatisierenden Erlebnissen beschäftigt.

Wenn ich an die Menschen, die ich betreue, denke  kann ich es mir kaum vorstellen, dass diese sich im therapeutischen Prozess mit ihren Mißhandlern “identifizieren” müßten und dass der Therapeut denen dabei helfen solle.

Ich würde sehr gerne sowohl den Aufsatz aus dieser Fachzeitschrift von 1999 als auch Ihre Schrift durchzulesen.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wen Sie mir per e-Mail ihre Schrift sowie die Literaturangabe zu dem “kritischen” Aufsatz übersenden könnten.

Vielen Dank im voraus  Mit freundlichem Gruß TZ10

(Seit Zusendung der Quellenangabe am 11.09. erfolgte keinerlei Reaktion.)

ZUSTIMMUNG zu meiner Kritik

Prof. Raymond Battegay

  1. September 2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

leider komme ich wegen Ferienabwesenheit erst jetzt dazu, Ihnen auf Ihren Brief vom 03.09.00 zu antworten. Natürlich bin auch ich der Ansicht, dass der von Ihnen zitierte Kollege psychoanalytisch nicht belegbare Theorien verwendet, die zweifellos die Problematik der betreffenden Patienten verfehlt. Zwar kennen wir seit Freud das psychologische Phänomen der Identifikation mit dem Feind. Diese richtet sich aber immer (unbewusst) gegen die eigenen Person.

Was Ihre Beurteilung des „Therapeuten“ anbetrifft, bin ich der Ansicht, dass Sie davon Abstand nehmen sollten, ihn mit einer Diagnose zu stempeln. Ihr Brief sollte sich meines Erachtens darauf beschränken, sachlich Ihre Meinung zu sagen.

Mit freundlichen Grüssen  –  Prof. Raymond Battegay

(Auf die Mitteilung der Quelle erfolgte keine Reaktion mehr.)

Prof. Dr. Z1

12.09.2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

fast beneide ich Sie wegen Ihrer Fähigkeit, Ihre berechtigte Entrüstung und Wut zum Ausdruck zu bringen und auch an Wege zu denken, wie man pragmatisch gegen solche Texte vorgehen kann, die das Gesamtbild des Psychotherapeuten schädigen.  Ich selbst habe nämlich fast resigniert gegen den Aggressions- bzw.  Todestrieb anzugehen, nachdem ich festgestellt habe, daß mir sonst gutwillig und vernünftig erscheinende Kollegen nach langen Diskussionen, in denen ich geglaubt habe sie überzeugt zu haben, sie in stereotyper Weise immer wieder auf diese alten überholten triebtheoretische Postulate zurückkamen.

Es wäre aber falsch, alle Psychotherapeuten, die auf der selben Weise wie der von Ihnen noch nicht namentlich genannte Psychotherapeut, mit schwersten Traumatisierungen umgehen, in einen Topf zu werfen.  Es gibt viele Kollegen, die nur aus Gründen der Loyalität oder der Gewöhnung oder Angst vor dem Neuen oder aus anderen Gründen weiterhin immer wieder dasselbe Lied singen.  Ich würde es also vorziehen, zunächst nur die Sache als solche scharf zu kritisieren (und das ist bestimmt in diesem Fall nicht schwierig!), ohne konkrete Hypothesen über die pathologische psychische Struktur des Verfassers zu formulieren, auch wenn diese Hypothesen begründet erscheinen.

Zum zweiten müßte man, um die Kritik noch glaubhafter zu machen, nicht nur die Psychodynamik der Opfer, in etwa so wie Sie es tun, beschreiben, sondern auch die Psychodynamik der Täter, also z.B. ihre triumphalen oder auch Lustgefühle und zwar eben nicht triebtheoretisch, sondern mit Hilfe der Selbstpsychologie und der Objektbeziehungstheorie.  Ich habe an vielen Stellen in meinen Büchern und sonstigen Aufsätzen versucht, solche, zu den alten triebtheoretischen Annahmen alternative Konzepte darzustellen (…).

Insgesamt begrüße ich also Ihre Initiative, bin aber der Meinung, daß man versuchen sollte, auf der Ebene der sachlichen Diskussion über die Tragfähigkeit der jeweiligen Konzepte zu bleiben.

mit freundlichen Grüßen   –   Prof. Dr. Z1

Sehr geehrter Herr Prof. Z1,

herzlichen Dank für Ihre baldige Antwort, in der Sie meinem Anliegen so klar seine Berechtigung zusprechen. Sehr gut gefallen hat mir z.B. die Beschreibung Ihrer Erfahrungen mit manchen KollegInnen, die sich zwar vordergründig auf ein kritisches Gespräch einlassen, dann aber doch wieder Positionen vertreten, als hätten sie kein Wort von dem wirklich ernsthaft in sich aufgenommen und verstanden, das man Ihnen als Argument gegen bestimmte Dogmen vorgehalten hat. Ähnliche Erfahrungen habe ich selbst zur Genüge gemacht.

Erlauben Sie mir auch, daß ich Sie auf einen – aus meiner Sicht – entstehenden Widerspruch aufmerksam mache, wenn Sie am Ende empfehlen, auf der sachlichen Ebene zu bleiben. Die Erfahrung, die Sie schildern, zeigen nämlich m.E., daß es in manchen Situationen eher zwecklos ist, „sachlich“ zu argumentieren. Denn die Menschen, die wir mit unseren Argumenten konfrontieren, wollen nicht nachdenken, sondern sie wollen glauben – nämlich an ihr übernommenes Gerüst von Dogmen und Glaubenssätzen. Es macht vermutlich wenig Sinn, einen Inquisitor der mittelalterlichen Kirche vom Unsinn der Hexenverbrennungnen, einen Nazi vom gleichen Existenzrecht aller Menschen auf der Welt oder einen Stalinisten vom Wert persönlicher geistiger Freiheit überzeugen zu wollen. Ähnlich aussichtslos scheint es mir manchmal zu sein, einen Vertreter der klassischen Psychoanalyse auf die Problematik der Triebtheorie aufmerksam zu machen.

Aber da muß man ja richtig dankbar sein, wenn jemand dann solche Passagen zu Papier bringt, wie ich sie aufgegriffen und kritisiert habe. Sie finden die Zeilen, auf die ich mich in meiner kritischen Schrift bezogen habe, übrigens in dem Artikel: Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Er findet sich in der Zeitschrift Persönlichkeitsstörungen – Theorie – Therapie, Jg. 3 (1999), Heft 1, S. 5-15 und wurde verfaßt von dem amtierenden Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Otto F. Kernberg. In einer Veröffentlichung von 1996 bzw. 1997 (letztere: Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. ISBN: 3-9805272-1-2) hatte ich bereits anhand dreier anderer Werke Kernbergs dessen massiv entwertende Einstellung gegenüber seinen KlientInnen herausgearbeitet.

Ich hoffe, Sie sind nicht übermäßig schockiert über diese „Enthüllung“. Es würde mich freuen, wenn Sie sich – trotz des (m.E. unbegründeten) Renommees des kritisierten Autors – mit Ihrer Autorität meinem Anliegen anschließen würden, daß diese Position bspw. von einer Ethik-Kommission begutachtet wird. Herrn Kernberg halte ich z.B. auch im Licht dieser (und anderer) Veröffentlichungen als wissenschaftlichen Beirat bei den Lindauer Psychotherapiewochen für untragbar. Für diese Einstellung werde ich auch an anderer Stelle werben.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

(Keine weitere Reaktion auf diesen Brief)

Prof. Sophie Freud

Tuesday, October 10, 2000

Lieber Klaus Schlagmann,

Ich danke Ihnen für Ihren Brief von 17. September, mit dem eingelegten Material. Erst mal wundere ich mich aber, daß Sie meinen Juli-Brief anscheinend nicht bekommen haben. Es tut mir leid. Ich lege den Brief bei, er war ja im Computer.

Ihre Entrüstung gegen Kernberg scheint mir sehr berechtigt. Der Kerl hat so viele aggressive Klienten, weil sein Verhalten solche Gefühle herausfordert, und er sieht die Aggressionen nicht als Antwort auf sein Benehmen, sondern interpretiert sie ganz anders. Ich weiss wirklich nicht warum er so beliebt ist, vor allem in Europa.

Ich war einmal, beim 1. Weltkongress mit ihm in einem Fernseh-Gespräch und habe ihn damals sehr angegriffen. Das war lustig, und seine Frau fragte mich dann, warum ich das getan hätte. Persönlich ist er ja sehr höflich und zuvorkommend. Aber ich habe kein Bedürfnis, ihn als Cause Celebre anzunehmen. Ich würde Ihnen raten einen sogenannten scholarly Artikel zu schreiben, ohne viele Emotionen, einfach seine Punkte in aller Ruhe widerlegen ‑‑ die Art von Artikel, der von einem Journal angenommen wird, ohne Fettgedrucktes etc. Vielleicht könnten Sie das sogar zum selben Heft schicken, oder auch an ein anderes Journal, das nicht ganz konventionell ist. Oder gibt es bei Ihnen ein Journal nur über Trauma? Ich glaube es gibt so etwas in Englisch, aber ich meine, Sie sollten im deutschen Bereich ihre Stimme erheben, eben so, daß sie mehr gehört wird.

Ich wünsche Ihnen besten Erfolg, mit freundlichen Grüssen – Sophie Freud

Prof. Dr. Sven-Olaf Hoffmann

20.1.01

Betr.:  Ihre Kritik an O. F. Kernberg

Hier: Ihr Schreiben vom 15.1.01

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

bei Kernberg kann man mit manchem unzufrieden sein, ich bin es auch in Teilen. Genau genommen ist es für mich sein Verhaftetbleiben in der psychoanalytischen Triebtheorie und, wahrscheinlich nicht unabhängig davon, seine “theoretische Anhänglichkeit” an Melanie Klein, auch wenn ich nicht übersehe, daß er sich von ihr auch teilweise abgrenzt. In der PTT ist bereits ein Beitrag erschienen, in dem ich Kernbergs Konzeption der Abwehr beim Borderline-Syndrom kritisiere und eine alternative Betrachtung vorschlage (PTT 1998, 1, 4-9).  Andererseits hat Kernberg Verdienste – für mich vor allem in seinem Drängen,  die psychoanalytische Therapie empirischer Prüfung zu unterziehen. Wenn man sich den Konservatismus und die Wissenschaftsfeindlichkeit weiter Teile der IPV anschaut, ist das eine ganze Menge.

Nun zu Ihrer Frage! Um Ihnen gleich meine Realität zu vermitteln: die von Ihnen angesprochenen und kritisierten Zusammenhänge erfordern für eine ernsthafte Auseinandersetzung einen Zeitaufwand, über den ich einfach nicht verfüge. Ich bin so vorrangig in andere Zusammenhänge – bei denen es auch um die Folgen von infantilen Traumatisierungen geht – engagiert, daß ich die gewünschte kritische Beschäftigung einfach nicht leisten kann. Ich kann Ihr Befremden über die inkriminierten Äußerungen nachvollziehen, glaube auch, daß es sich hier bei Kernberg um eine spezifische  Schwäche handelt, mir fehlt aber einfach die Zeit, die Sache gründlich zu prüfen.

Den entscheidenden Teil von Kernbergs Botschaft würde ich so interpretieren, daß wir uns auch mit der Motivation des Täters einlassen müssen, um das Opfer ganz zu verstehen. Ob dieser Schritt zur sinnvollen Behandlung von Traumaopfern tatsächlich erforderlich ist, weiß ich nicht.  Dazu habe ich, im Gegensatz zu Kernberg, zu wenige solcher Menschen behandelt. Ich konnte immerhin Opfern von “alltäglicher” sexueller und aggressiver Gewalt sehr wohl ohne diese Identifizierung nachhaltig helfen und ich konnte es in meinem Verständnis gerade deshalb, weil ich mich mit ihnen und nicht mit den Tätern innerlich einließ. Auch als Therapeut stelle ich mich immer erst einmal auf die Seite des Opfers, was gerade manche Psychoanalytiker versäumen. Da ist es dann nicht selten das infantile Opfer, das den Täter verführt oder (bei M. Klein) seine eigene Destruktivität in ihn projiziert hat. Der arme Täter hat sich mit dem bösen Opfer und dessen eigener Aggression dann “projektiv identifiziert” und es deshalb halt mißbraucht. Das ist, wohlgemerkt, in meinem Munde Satire, aber gerade bei dieser Art psychoanalytischen Denkens gilt, “daß es schwierig ist, keine Satire zu schreiben” (Juvenal).

An solcher Art des Verständnisses ist einiges auch zutiefst inhuman. Ob das nun aber auf Kernberg zutrifft, dazu möchte ich mich einer Meinung dezidiert enthalten. Ich habe diesen Teil seines Werks entschieden zu wenig ernsthaft studiert und werde es sicher auch nicht mehr tun, weil mir der Gewinn an neuer wissenschaftlicher Erkenntnis heute nicht mehr innerhalb des psychoanalytischen Paradigmas angesiedelt erscheint.

Mit freundlichem Gruß – Prof. Dr. Sven-Olaf Hoffmann

Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

 

Sehr geehrter Herr Prof. Hoffmann,

ganz herzlichen Dank für Ihre prompte, ausführliche und für mich doch recht klare Antwort! Es freut mich, dass Sie für Ihre Arbeit die Beschuldigung des Opfers so klar zurückweisen! Gerne werde ich versuchen, Ihren Artikel aus der PTT nachzulesen, der meiner Aufmerksamkeit entgangen ist.

Sie haben natürlich auch recht, dass die Auseinandersetzung mit Kernberg ausführlicher geführt werden müsste. In zwei Veröffentlichungen von 1996 und 1997 habe ich mich bereits anhand drei seiner Werke kritisch mit ihm auseinandergesetzt. Der von mir recht schnell dahingeschriebene Text gegen seinen Artikel von ’99, mit dem ich versucht habe und noch weiter versuche, ein wenig Widerspruch in der Psychotherapeuten-Gemeinschaft gegen seine Thesen zu mobilisieren, ist noch ausbaufähig. Die verschiedenen Rückmeldungen sind mir weiterhin Anregung, Unklarheiten meiner Darstellung auszuräumen und Einwendungen zu berücksichtigen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Kernberg habe ich auch vor ca. drei Jahren ins Internet gesetzt (…).

Ihre Sicht von Trauma-Opfern als Opfer ist leider bei weitem nicht selbstverständlich. Ihre satirische Zusammenfassung der klassischen Haltung ist wohl Realsatire. Falls es Sie ein wenig interessiert: ich habe anhand der Geschichten von Narziß und Ödipus einmal versucht, den theoretischen Purzelbaum Freuds von 1897 nachzuvollziehen. Dessen Interpretation scheint mir noch durch erhebliche Verwirrung vernebelt zu sein. Masson, dessen hervorragende Recherchen ich sehr schätze, übersieht an diesem Punkt z.B. m.E., dass die vor 1897 formulierte Trauma-Theorie maßlos einseitig, und damit eben auch falsch gewesen ist. Die Verkehrung davon ist noch viel weniger richtig. Ich hoffe, mit meiner etwas neueren Sicht auf den Mythos Anstöße für ein besseres Verständnis von Freuds theoretischer Entwicklung – die ich u.a. sehe als Ausdruck eines unbewältigten persönlichen Konflikts – geben zu können.

Vielleicht ergibt sich ja einmal die Gelegenheit, etwas ausführlicher zu diskutieren. Darüber würde ich mich freuen.

Herzliche Grüße – Klaus Schlagmann

Prof. Dr. Z2

26.03.2001

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vielen Dank für die Zusendung. Die heiklen Publikationen sind mir bekannt. Ich habe dazu auch bereits dezidiert kritisch Stellung bezogen und mir mit meiner Kritik erwartungsgemäß Ärger, aber auch Zustimmung eingehandelt. Der artikulierte Ärger macht nichts.

Meine heftig‑kritische Position zur Psychoanalyse Kernbergs, zum unreflektierten “Ödipus und früher” und zur psychoanalytischen Vorverurteilung der Familien … [habe ich ausführlich vorgetragen]. Kernberg 99, den Sie mir zugeschickt haben, habe ich .. übrigens ebenfalls als hochgradig problematisch … [kritisiert].

Ich habe auch auf die Gefahr hingewiesen, dass sich die Psychoanalyse selbst ins Abseits katapultiert, wenn sie ihre Argumentationsmodelle nicht radikal modernisiert.

Ich bin also mit Ihnen einer Meinung, dass man die z.T. “ungehobelten Denk‑ und Sprachschablonen” einiger (bei weitem nicht aller) Psychoanalytiker zukünftig durchaus kritisch unter die Lupe nehmen sollte.

Herzlichen Dank und beste Grüße – Prof. Dr. Z2

Dr. med. Z3

29.09.2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vielen Dank für Ihren Brief vom 14.09.2000 und Ihr Manuskript.

Die Vorstellungen von Kernberg finde ich auch z.T. sehr problematisch. Allerdings basieren sie ja allesamt auf einer Theorie des Unbewußten, so daß es auch schwierig ist, sie zu widerlegen. Kritisieren kann man m.E. nur die Therapiestrategien, wenn deutlich wird, daß sie die Patienten belasten, statt erleichtern. Kernberg anzugreifen ist nicht einfach, da er hier sehr angesehen ist. Man muß also die Kritik so formulieren, daß man selbst möglichst unangreifbar bleibt. So halte ich es für problematisch und gefährlich, wenn Sie über seine Person und sein Unbewußtes spekulieren.

Es gibt eine sehr gute Auseinandersetzung mit Kernberg von Ulrich Streeck, die in der Zeitschrift für Psychoanalyse und Sozialpsychologie 1999 erschienen ist. Streeck widerlegt ihn mit seinen eigenen Mitteln. Das ist klüger.

Ihre Betroffenheit verstehe ich gut. Öffentlich halte ich es aber für günstiger, so sachlich wie möglich zu bleiben. Kernberg wird ja auch von van der Kolk im gleichen Heft widerlegt.

Theorien kann man letzten Endes sowieso so viele haben wie Sand am Meer. Im therapeutischen Bereich geht es um Heilung oder Linderung von Leiden. Das hat viele Psychoanalytiker in der Tradition von Freud aber noch nie sonderlich interessiert. Sie verstehen sich eher als Forscher in den Abgründen der Seele und finden vielleicht die Eier, die sie selbst versteckt haben. Das zu beweisen oder zu widerlegen ist schwierig und geht von einem anderen Paradigma her auch schwer. Man muß sich also auf ein übergeordnetes Paradigma verständigen oder innerhalb des psychoanalytischen bleiben. Sie scheinen mir das etwas zu verwischen. Ich selbst habe mich dafür entschieden, weniger „gegen“ Dinge zu kämpfen als „für“ die Dinge, die mir am Herzen liegen. Das ist für mich persönlich erfreulicher.

Mit freundlichen Grüßen – Dr. med. Z3

Saarbrücken, den 15. Oktober 2000

 

Sehr geehrter Herr Dr. Z3,

herzlichen Dank für Ihre ausführliche Antwort auf mein Schreiben in Bezug auf Kernberg und Ihren Hinweis auf den Artikel von Streeck. (Leider konnte ich die Zeitschrift „Psychoanalyse und Sozialpsychologie“ an unserer Uni nicht finden, auch im Internet war sie nicht verzeichnet. Könnten Sie mir die entsprechende ISSN-Nummer angeben, oder mir womöglich sogar eine Kopie des Artikels zusenden?)

Ich meine, daß z.B. die Überlegungen Josef Breuers in den „Studien über Hysterie“ bis heute von höchster Bedeutung sind. Breuer war bei der Behandlung der schweren Störung von Bertha Pappenheim (man könnte ihr wohl leicht das Etikett „Borderline“ bzw. „affektive Psychose“ anhängen) höchst erfolgreich. (Diffamierungen Breuers aus noch jüngster Zeit durch z.B. Mikkel Borch-Jacobsen fehlt m.E. eine tiefere Kenntnis der Zusammenhänge.) Mit der Betroffenen zusammen hatte Breuer ein Verfahren entwickelt, bei dem „tiefenpsychologisch orientiertes“ Vorgehen (Hypnose; Katharsis-Prinzip) mit „verhaltenstherapeutischer“ Methode (Konfrontation in vivo) kombiniert wurde.

Der wichtigste Anlaß, mich mit diesem Theoriebereich näher zu beschäftigen, bestand darin, daß ich in meiner Praxis mit einzelnen Menschen zu tun hatte, denen es nach einer psychoanalytischen Therapie schlechter ging als zuvor. (Ich weiß nicht, ob Ihnen schon ähnliche Fälle begegnet sind.) Besonders an einem Fall war mir dies besonders deutlich geworden: ein junger Mann war als Kind vom Vater brutal mißhandelt worden. Zusätzlich hatte der Vater versucht, ihm den Abschluß einer höheren Bildung zu vereiteln. Der Klient hatte daraufhin massive Angstzustände entwickelt. In dem mir vorliegenden Therapieantrag des Psychoanalytikers wurde dem Klienten quasi vorgehalten, er zeige „Haß gegen den Vater“ und „Leistungsverweigerung“. Das ganze lief unter der Rubrik: „ödipaler Konflikt“. Nach zwei Jahren dieser „Behandlung“ benötigte der Klient zusätzlich ein Asthmaspray. Das wundert mich nicht, denn in gewisser Weise hat der „Therapeut“ hier die frühe Traumatisierung des Klienten – die völlige Verständnislosigkeit aus dem sozialen Umfeld – wiederholt, anstatt bearbeitet. Derartige Behandlungsstrategien produzieren m.E. systematisch „Kunstfehler“.

Dieser Fall hatte mich übrigens 1996 angeregt, einmal bei Sophokles über das Problem von Ödipus nachzulesen, und dabei hatte ich eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Sophokles erzählt die Geschichte einer Traumatisierung. Ein Kind wird zum Spielball seiner Eltern, vor allem seiner Mutter. Sophokles bringt keine „Schicksalstragödie“ auf die Bühne, sondern ein „Familiendrama“. Das Verhängnis ist „hausgemacht“. Ödipus leidet an den Beziehungsdefinitionen, die von seinen Eltern ausgehen. Er re-agiert lediglich auf das, was ihm von seinen Eltern entgegen gebracht wird. Sein Verhalten spiegelt lediglich das Verhalten der Eltern. Das Verhalten der Eltern ist primär, dort liegt also das Problem. (Dies ist eine Dynamik, die ich in gestörten Familien bis heute für plausibel und gültig halte.)

Freud erklärt mit seinem Konzept vom angeblichen „ödipalen Konflikt“ das Opfer zum Täter. Er postuliert, daß jedes Kind sich triebhaft seiner Eltern bemächtigen wolle. (Schon in der Verallgemeinerung liegt eine ungeheuerliche Plattheit.) Otto F. Kernberg – quasi Freuds Stellvertreter auf Erden – hat diese abstruse Position auf die Spitze getrieben: in seinem Buch „Borderlinestörung und pathologischer Narzißmus“ argumentiert er, daß der Säugling quasi die Eltern-Kind-Beziehung zerstört – und zwar aus seiner „oralen Wut“ und seinem „oralen Neid“ heraus (was immer das sein möge).

Dieser Interpretationsfehler – ein Opfer der Verhältnisse zum Täter zu erklären – durchzieht Freuds Interpretationsmuster. Ob er die Mythen von Ödipus und Narziß interpretiert, Shakespeares Drama „Hamlet“ oder Wilhelm Jensens Novelle „Gradiva“. Immer wird das eigentliche Opfer zum triebhaften Täter gestempelt. Und so, wie Freud Erzählungen und Dramen gänzlich mißversteht, so mißversteht er auch die Lebensgeschichten von KlientInnen, so z.B. diejenige von Ida Bauer („Dora“). (Präziser gesagt: Freud nimmt eine „Verkehrung ins Gegenteil vor“. Dahinter steckt m.E. die Abwehr der Einsicht in sein persönliches Familiendrama. 1997 habe ich dies ausführlicher analysiert.)

Han Israels hat – darüber hinaus – in seinem Buch „Der Fall Freud“ sehr akribisch nachgewiesen, wie skrupellos Freud bereit war, therapeutische Erfolge zu behaupten, selbst wenn er sich mit eigenen Augen von den katastrophalen oder unbefriedigenden Wirkungen seiner Maßnahmen überzeugt hatte. Israels erläutert dies vor allem anhand Freuds Empfehlungen, mit Kokain eine Morphinsucht zu behandeln. Freud hatte diesbezüglich an seinem Freund Fleischl-Marxow „experimentiert“. In mehrere Fachartikeln behauptete er schnelle Erfolge mit seinem „Verfahren“, während er in den Briefen an seine Verlobte vom katastrophalen Zustand des Freundes berichtete – was er an einer Stelle sogar mit der Hoffnung verknüpft, die hohen Schulden bei diesem Freund vielleicht nicht mehr begleichen zu müssen. Ein Arzt, der versucht hatte, Freuds Empfehlungen empirisch zu überprüfen und die verheerende Wirkung von Kokaingaben bei Morphinsucht erkannt hatte, war von Freud niederträchtig diffamiert worden. 

Freuds Theorie wird bis heute in ihrer alten Form weiter tradiert. Daran ändern auch die gebetsmühlenhaft wiederholten Beteuerungen nichts, daß die Theorie ja heute schon viel weiter sei. Natürlich hat es einige interessante Theoretiker und Forscher im Umkreis der Psychoanalyse gegeben, die sehr vernünftige Ideen hatten, z.B. Adler, Ferenczi, Horney, Winnicott, Miller, Masson. An ihnen hat sich aber auch immer wieder dasselbe Schicksal erfüllt: sie wurden wegen ihrer kritischen Sichtweise geächtet, ausgeschlossen, oder haben selbst das Handtuch geworfen. Ich weiß nicht, wieweit Sie selbst Anfeindungen und Kritiken aus diesem Lager ausgesetzt sind, könnte es mir jedoch aus eigener Erfahrung heraus lebhaft vorstellen.

Der von mir kritisierte Artikel Kernbergs treibt die traditionelle, Freudsche Art der Argumentation auf die Spitze. Seine Position ist jedoch bis heute „hoffähig“. Derartig widerwärtige Ungeheuerlichkeiten werden tatsächlich begeistert beklatscht. Systematisch werden Opfer zu Tätern erklärt. Ein „Identifizieren mit den Tätern“ wird als heilsam propagiert, wobei ausgeblendet wird, daß eine derartige psychotherapeutische Vergewaltigung wohl nur insofern „wirkt“, als sie die Opfer noch mehr in die Resignation treibt (und damit womöglich tatsächlich eine gewisse „Ruhigstellung“ bewirkt).

Ich meine, daß es nicht allein ausreicht, andere, vernünftigere, plausiblere, hilfreichere Konzepte einem solchen Unsinn entgegenzustellen. In der Geschichte der Medizin und der Heilkunde gibt es wohl genügend Beispiele dafür, daß Unwissen oder sogar Unvernunft auf Seiten von „Fachleuten“ katastrophale Folgen hatte. So hat sich die konsequente Umsetzung der von Semmelweis empfohlenen Hygienemaßnahmen gegen die Verbreitung des Kindbettfiebers durch die Uneinsichtigkeit zeitgenössischer Kollegen tragisch verzögert. So hat es auch bis zu 6 Jahren gedauert, bis Thalidomid (Contergan) vom Markt genommen wurde. Kritische Studien zu den Nebenwirkungen wurden verzögert bzw. nicht gedruckt.

Ich meine, es wird höchste Zeit, die ungeheuerlichen psychotherapeutischen Interventionsmethoden à la Kernberg „vom Markt“ zu nehmen. Denken Sie nur daran, welch zynischen Kommentar er der suizidierten Patientin ins Grab hinterher schickt. Mindestens eine vergleichbare Passage gibt es in seinem Buch „Schwere Persönlichkeitsstörungen“ (S. 422), bei der er einen gravierenden Selbstmordversuch seiner Klientin als „selbstdestruktiven Trick“ bzw. als „chronischen Selbstmordversuch als ‚Lebensform‘“ belächelt. Die Klientin habe damit die „Behandlung zu unterminieren versucht“ – eine typische Argumentationsform bei Kernberg, wenn seine KlientInnen an seiner „Psychotherapie“ verzweifeln oder scheitern, bzw. beschließen, eine derartige Gehirnwäsche nicht länger mitzumachen – das letztere in meinen Augen eine eindeutig gesunde Reaktion.

Die genannten Beispiele sollten m.E. Ansporn dafür sein, daß klarsichtige PsychotherapeutInnen sich dafür engagieren, daß dieser hirnverbrannte Spuk endlich aufhört. Die mit dem Geschehen um Kindbettfieber und Contergan m.E. vergleichbare Tragik im Bereich der Psychotherapie sollte sich nicht mehr allzu lange fortsetzen dürfen. Derzeit bemühe ich mich darum, womöglich über das Saarländische Gesundheitsministerium eine gründliche Überprüfung von Kernbergs Position vornehmen zu lassen. (Das BGM fühlt sich nicht für die Frage zuständig und verweist auf die Länder.) Auch die Ethik-Kommission der „Deutschen Gesellschaft für Psychologie“ versuche ich für eine Stellungnahme zu gewinnen. (Derzeit ist die Leitung jedoch wohl nur kommissarisch besetzt.) Sofern Sie Ideen hätten, wie wir in diesem Sinne ein wenig kooperieren könnten, würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichem Gruß

 

17.10.2000

Lieber Herr Schlagmann,

vielen Dank für Ihren Brief vom 15. 10., den ich rasch kurz beantworten will. Sie haben natürlich recht mit Ihrer Kritik und die von Ihnen aufgeführten Fälle sind allesamt skandalös. Leider hatte ja trotzdem z. B. “Was hat man Dir Du armes Kind getan” (Masson) keinerlei Resonanz unter Psychoanalytikern. Ich hatte das seinerzeit (1989) mal recherchiert und vom Rowohlt-Verlag erfahren, daß das Buch von keiner einzigen psychoanalytischen Zeitschrift rezensiert worden ist. Das ist halt das Problem, daß Kritik tot geschwiegen wird und die Kritiker, wenn möglich auch. So werde ich von vielen Kollegen auch massiv angefeindet. Ich habe schon auf die Tatsache hingewiesen, daß Ödipus ein traumatisiertes Kind ist. Aber das alles interessiert den mainstream wenig.

Wenn Sie über ein Länderministerium etwas tun können, so finde ich das eine gute Idee. Auch Ihr Psychologen‑Verband ist eine gute Möglichkeit. … Ich bin inzwischen ein bißchen müde, habe viel gekämpft in meinem Leben und will deshalb jetzt einfach viele Menschen mit dem, was ich kann, erreichen. …. Sie sind vermutlich viel jünger als ich … und haben noch mehr Lust am Streit. Dann ist es gut, das auch umzusetzen und ich bleibe sehr gerne mit Ihnen im Gespräch. Vielleicht lernen wir uns gelegentlich mal kennen.

Für heute mit guten Wünschen und freundlichen Grüßen – Z3

Saarbrücken, den 14. Januar 2001

Lieber Herr Dr. Z3,

herzlichen Dank für Ihre Antwort auf mein Schreiben vom 17.10. Ich bemühe mich immer noch, ein wenig mehr Widerstand gegen Kernbergs Thesen zu organisieren.

Der Termin im Gesundheitsministerium war leider nicht sehr ergiebig. Tenor: man könne sich nicht in fachspezifische Diskussionen einmischen. So muss sich also wohl zunächst noch mehr Widerstand innerhalb der Disziplin formieren.

Ich wollte Ihnen noch einmal ein wenig kurzgefasst meine Thesen zu Ödipus und Narziß zukommen lassen, wie ich sie im Sommer bei einem Kongress in Halle referiert hatte. Sie können ihm entnehmen, wie sehr ich die triebtheoretischer Deutung dieser Mythen für geradezu gegensinnig halte. Die psychoanalytische Deutung stellt die Verhältnisse auf den Kopf, macht die Opfer zu Tätern. Und wer mit Geschichten derartig umgeht, steht in der Gefahr, denselben Denkfehler gegenüber den Lebensgeschichten von KlientInnen zu wiederholen. Diese Widersinnigkeit wird m.E. verständlich, wenn man darin Freuds Abwehr der Einsicht in seinen eigenen Familienkonflikt erkennt. Natürlich ist es nur menschlich, wenn der Gründer der Psychoanalyse bestimmten Abwehrmechanismen unterliegt. Tragisch wird es allerdings, wenn im Dienst dieser Abwehr eine abstruse Theorie menschlichen Verhaltens konstruiert wird. Auch bei Kernberg vermute ich ja eine schwere psychische Deformation als Hintergrund seiner theoretischen Konstruktion.

Lassen Sie mich noch einmal eine Bitte wiederholen: Sie hatten mich auf einen Artikel von Herrn Streeck verwiesen. Die Zeitschrift, die Sie dabei angegeben hatten („Psychoanalyse und Sozialpsychologie“), konnte ich weder in unserer Uni-Bibliothek (die auf psychologische Literatur spezialisiert ist), noch im Internet finden. Könnten Sie den entsprechenden Literaturhinweis noch einmal überprüfen, womöglich präzisieren und die entsprechende ISSN-Nummer angeben, oder mir womöglich sogar eine Kopie des Artikels zusenden? Der Artikel würde mich sehr interessieren.

Ansonsten finde ich das Sammeln von Rückmeldungen zu meinem Papier recht spannend. Z.T. sind die Antworten sehr bezeichnend. Eine Standardantwort von eingefleischten AnalytikerInnen ist, dass ich die Theorie „missverstehen“ würde. Dieses Pauschalargument lässt sich wohl so ziemlich jeder Kritik an jedem Theorieansatz erst mal entgegenschleudern. Leider entpuppt sich dann in meinen Augen, dass anscheinend nicht ich, sondern die Antwortenden etwas an den psychoanalytischen Konzepten nicht verstanden haben dürften. An den praktischen Konsequenzen des angeblich missverstandenen Konzeptes – der Beschuldigung von KZ-Opfern, missbrauchten Kindern und suizidierten Therapie-Opfern -, wird entweder geflissentlich vorbeigesehen (was schon schlimm genug wäre), oder sie werden (was noch schlimmer wäre) billigend in Kauf genommen, ohne dass man sich jedoch offen dazu bekennen würde – etwas derartiges wurde mir gegenüber bislang nicht explizit geäußert. Die professionelle Ignoranz gegenüber dieser katastrophalen Fehleinschätzung von Opfern ist für mich ein schier unerträglicher Skandal! Aber das Nicht-Antworten oder Nicht-Stellung-Nehmen scheint ja ein wichtiger Aspekt der „analytische“ Ausbildung zu gehören.

Jedenfalls werde ich die Rückmeldungen zum Anlaß nehmen, meine Position noch einmal zu ergänzen und zu präzisieren, dabei auf erhaltene Einwendungen eingehen.

… Gerne halte ich Sie auch über den Verlauf meiner kleinen Bemühungen auf dem Laufenden.

Liebe Grüße – Klaus Schlagmann

Prof. Dr. Wolfgang Schulz

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

Ihre e-mail habe ich erhalten, gelesen und auch den dazugehörigen Text von Ihnen. Ich habe überlegt, ob ich Ihnen überhaupt schreiben sollte, denn ich kann mein Urteil doch nicht auf von Ihnen herausgegriffene Zitate gründen. Da Sie die Quelle des kritisierten Textes nicht nennen, zweifle ich auch an Ihrer Seriosität und Integrität. Ich halte es auch für völlig unangemessen, über die Motive des Autors zu spekulieren („Mutmaßungen über den Autor“) – denn vermutlich spricht der Text ja für sich. Ich schreibe Ihnen trotzdem, weil ich nach den von Ihnen herausgegriffenen Zitate extreme Auswüchse von Trieb- und Traumatheorie vermute, denen unbedingt entgegnet werden muß, falls der Artikel wirklich in einer Fachzeitschrift erschienen ist, und ich solche gerne im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen im Diplomstudium und in der postgradualen Ausbildung darstelle und diskutiere. Ich habe mich in der Vergangenheit mehrfach mit therapeutischen Mißerfolgen und Handlungsfehlern beschäftigt und bin auch von daher an der Quelle interessiert.

Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. Dr. Wolfgang Schulz

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

vielen Dank für die Übermittlung der Quelle. Ich werde mir den Artikel besorgen und mich dann wieder bei Ihnen melden. Die Zeitschrift kenne ich nicht, das ist aber wohl kein Manko. Ich hoffe, daß ich den Artikel aber einfach und schnell bekomme.

Mit freundlichen Grüßen – Prof. Dr. Wolfgang Schulz

 

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

mittlerweile habe ich den Artikel von Kernberg erhalten und gelesen. Ihrer Position stimme ich im Grundsatz zu, auch wenn ich vieles nicht so formulieren würde wie Sie.

  1. M.E. ist dieser Artikel eine konsequente Fortsetzung und Verbindung von Traumatheorie und Narzißmustheorie. Ich bin in der Tradition der empirischen Psychologie sozialisiert und Verfechter einer psychologisch begründeten Psychotherapie (Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie). Ich bin kein Psychoanalytiker und habe immer Schwierigkeiten mit der psychoanalytischen Begriffsbildung gehabt (z.B. mit dem Begriff der „Identifikation“) und stehe seit langem der psychoanalytischen Behandlung sehr skeptisch gegenüber. Insofern überrascht mich die komplizierte und eigenartige Begrifflichkeit nicht. Es paßt sozusagen in die Landschaft. Die Kritik muß also auch an Traumatheorie und Narzißmustheorie ansetzen.
  2. Da sich bei der Mehrzahl der Menschen trotz massiver Traumatisierung keine psychopathologischen Folgen, Persönlichkeitsstörungen usf. ausbilden, sind diese Folgen erklärungsbedürftig. Ich finde übrigens die Frage, warum Menschen trotz massiver Traumatisierung ein „normales“ Leben führen, viel interessanter.
  3. Ich finde es wichtig, und da stimme ich Kernberg voll zu, den Patienten nicht nur als Opfer zu sehen, sondern die Täterseite gleichermaßen zu thematisieren. Und natürlich gibt es da vielfältige Wechselwirkungen, die therapeutisch wichtig sind. Unsere Patienten sind, wie jeder andere Mensch auch, nicht nur Spielball von Trieben, Verhältnissen, Traumata usf., sondern gleichermaßen Gestalter ihrer Umwelt und für ihr Handeln verantwortlich. Ich habe auch nichts gegen Mitleid. M.E. eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft verloren zu gehen scheint. Die Beispiele von Kernberg, vor allem aber seine Interpretationen sind für diese Diskussion aber alles andere als hilfreich.
  4. Der Vergleich mit dem KZ-Kommandanten (Fall 1) ist eine Unverschämtheit, solch „verqueres“ Denken habe ich aber bei Psychoanalytikern immer wieder angetroffen. Ich weiß aber nicht, ob das mit der Gleichsetzung wirklich stimmt, ob Sie Kernberg da nicht unrecht tun, denn er spricht von „als ob“. Der 1. Fall ist vielleicht noch nachvollziehbar, jedenfalls gedanklich, der 2. Fall ist das aber nimmer („als ein sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“, “ihre Schuld tolerieren“, Sie zitieren hier übrigens nicht ganz korrekt) – hier finde auch ich keine Worte mehr und meine Geduld und Bereitschaft, zu verstehen, sind erschöpft. Beim 3. Fall kommt die „Tat“ des Therapeuten überhaupt nicht zur Sprache, sie wird nur mit der „schweren narzißtischen Problemen“ fast entschuldigt.
  5. Ich stimme Ihrer Analyse also überwiegend zu. Leider verlassen Sie immer wieder die sachliche Ebene, z.B. wenn Sie Kernberg „maßlose Verwirrung im Denken“ unterstellen. Ich weiß auch nicht, ob und inwieweit in solch einer Erwiderung Ihr Entsetzen zum Ausdruck kommen sollte. Auf jeden Fall sollten die Argumente deutlich als solche sichtbar und nicht mit Wertungen vermengt werden. Ihre „Mutmaßungen über den Autor“ sind überflüssig und schaden dem Anliegen.

Soweit einige Überlegungen von mir zum Artikel und zu Ihrer Erwiderung. Ich hoffe, daß die Zeitschrift Ihre Erwiderung (in überarbeiteter Form) abdruckt. Wieviel Rückmeldungen haben Sie erhalten? Wie ist der Diskussionsstand? In welcher Form wollen Sie die Rückmeldungen in Ihre Erwiderung einbauen? Welchen Beitrag kann ich als Nichtanalytiker leisten? Mich interessiert auch, da ich Sie nicht kenne, welcher therapeutischen Richtung Sie angehören.

Ich werde den Artikel in meiner Vorlesung Klinische Psychologie in diesem Semester zur Diskussion stellen. Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören.

Mit freundlichen Grüßen – Prof. Dr. Wolfgang Schulz

 

Sehr geehrter Herr Prof. Schulz,

herzlichen Dank für Ihre umfassende und engagierte Rückmeldung, in der Sie meinen Positionen teilweise zustimmen, aber auch offen Ihre Abweichungen formulieren. Lassen Sie mich zu Ihren einzelnen Punkten noch Stellung nehmen:

1.) Ich weiß nicht genau, was Sie mit psychoanalytischer Traumatheorie meinen. Mir erscheint es gerade als verhängnisvoll, daß Freud das Prinzip der Genese psychischer Störungen aus dem Trauma verworfen hat, das er bis 1897 vertreten hatte. Dieser Trauma-Ansatz, später vollkommen unpassend als „Verführungstheorie“ tituliert, war allerdings in einer so bizarren Einseitigkeit konzipiert – jede psychosomatische Störung / „Hysterie“ sei bedingt durch eine väterliche orale Vergewaltigung im Alter zwischen 2 und 8 Jahren -, daß natürlich klardenkende Kollegen Freud deswegen kritisiert hatten. Daraufhin hatte er diesen Ansatz mit seiner Triebtheorie vollkommen auf den Kopf gestellt, wodurch der Unsinn noch größer wurde.

Leider ist der sehr viel differenzierter gehaltene Trauma-Ansatz von Josef Breuer (in den „Studien über Hysterie“, 1895) von Freud aus Geltungssucht beiseite gedrängt worden. Breuer war mit seiner Therapie bei Bertha Pappenheim äußerst erfolgreich. (Seine Diffamierung in jüngster Zeit durch z.B. von Borch-Jacobsen – „Anna O. zum Gedächtnis“ – beeindruckt durch die Kenntnislosigkeit der Materie.)

Daß Sie durch die psychoanalytische Begrifflichkeit verwirrt sind, ist nicht verwunderlich. Ich meine, daß Freud ziemlich bewußt eine Menge an Verwirrung erzeugt hat. Verwirrung wird z.B. in der Hypnose benutzt, um Menschen abzulenken, zum Abschalten des Bewußtseins anzuregen, damit man in diesem Zustand leichter seine Suggestionen anbringen kann.

Wenn man sich die Begriffe wie „Narzißmus“ und „ödipaler Konflikt“ ansieht, dann kann man feststellen, daß in ihnen nicht nur eine große Verwirrung angelegt ist, sondern daß damit auch ein systematischer Denkfehler verbunden ist: ein Opfer wird zum Täter erklärt. Ich habe mich in den letzten Jahren recht ausführlich damit auseinandergesetzt und dies das an verschiedenen Stellen dargestellt (Schlagmann, 1996, 1997 a, 2000a, b, c).

Freud bietet vielfach plastische Kostproben von Begriffsverwirrung: „Nein“ heißt „Ja“, Ablehnung bedeutet Zuwendung, Kritik an anderen meint eigentlich Selbstkritik, Widerspruch beweist Zustimmung (diese Beispiele stammen aus dem ‚Bruchstück einer Hysterieanalyse‘, vgl. Schlagmann, 1997 b), Mitleid zeugt von Aggression (Freud an Pfister nach Kernberg).

In diese Strategie des „Konfusionierens“ paßt übrigens das Konzept des Identifizierens“ vorzüglich hinein. Betrachten Sie einmal seine etymologischen Wurzeln: Identisch ,ein und dasselbe bedeutend; völlig gleich (auch von Personen)‘ … identifizieren ‚etwas genau wiedererkennen; die Identität einer Person feststellen‘“ (Duden, Herkunftswörterbuch). Identität f. ‚völlige Übereinstimmung, Gleichheit, Wesenseinheit‘ wird im 18. Jh. aus spätlat. identitas (Gen. identitatis) ‚Wesenseinheit‘ entlehnt, einer Ableitung von lat. idem ‚ebendasselbe‘ … identisch Adj. ‚völlig gleich, übereinstimmend‘ (18. Jh.). identifizieren Vb. ‚die Identität feststellen, einander gleichsetzen‘ Neubildung des 18. Jhs. nach Mustern wie klassifizieren, exemplifizieren u. dgl. denen lat. denominative Verben mit -ficare (vgl. lat. glorificare ‚glorifizieren‘), der Kompositionsform von lat. facere ‚machen, tun‘ zugrunde liegen. Dazu Identifizierung f. (19. Jh.).“ (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv).

Im normalen Sprachgebrauch verweist der Begriff „identifizieren“ also auf einen sehr bewußten, aktiven, reflektierten, rationalen Prozess des Vergleichens, Abwägens, Beurteilens, der dann zu einer Feststellung führt, daß zwei Personen ein und dieselbe sind, oder zumindest völlig übereinstimmen, wesensgleich sind. „Sich identifizieren mit jmd.“ muß also so etwas meinen wie „sich in den Eigenschaften eines anderen – sehr bewußt und reflektiert – wiedererkennen, sich – sehr bewußt und reflektiert – mit jemand anderem als Wesenseinheit erkennen“. Man „identifiziert“ sich also – sehr bewußt und reflektiert – z.B. mit einem Freund, einem Idol o.ä.

„Prägung“ und „Konditionierung“ – wie ich sie verstehe – sind Prozesse, die bei einem Betroffenen eher passiv ablaufen, während „Identifizierung“ einen aktiven Prozess impliziert. Es kommt sicher nicht von ungefähr, daß in der Psychoanalyse mit Vorliebe auf die „Identifizierung“ zurückgegriffen wird, denn es gehört zur triebtheoretischen Grundhaltung, in erster Linie den aktiven Anteil des Säuglings an dem Geschehen zu betonen. In ihm werden die „Perversionskeime“ (Freud, „Bruchstück …“ , 1905) verortet, die er nicht kontrollieren könne. Kernberg ist ein Spezialist für derartige Beschuldigungen von Kleinkindern (vgl. Schlagmann, 1997 a).

Dem halte ich jedoch meine Position ausdrücklich dagegen, daß ich den Faktoren einer passiven Beeinflussung gerade im frühen Kindesalter eine weitaus größere Bedeutung zumesse. Die Befunde der Säuglingsforschung (vgl. Dornes, 1995, z.B. S. 140-150) scheinen mir diese Frage eindeutig entschieden zu haben: Kinder re-agieren höchst sensibel auf die Verhaltensmuster ihrer Eltern! Diese Dynamik bei der Entstehung schwerer psychischer Störungen auf den Kopf gestellt zu haben – die Opfer zu Tätern erklärt zu haben – halte ich für die verhängnisvollste Fehlleistung von Sigmund Freud. Sie ist – meiner Analyse nach (Schlagmann, 1997a, 2000a, b, c) – auf eine sehr persönliche, konflikthafte Familiengeschichte Freuds zurückzuführen.

Die Triebtheorie, die die Wirklichkeit in katastrophaler Weise auf den Kopf stellt, hat Freud als „geistiges Erbe“ seinen Jüngern hinterlassen. Otto F. Kernberg bewährt sich als sein treuer Verwalter, der diese Hinterlassenschaft sorgfältig hütet und sogar weiter vermehrt.

2.) Möglicherweise ist es tatsächlich so, daß gravierende spätere Traumatisierungen (KZ, Folter, Vergewaltigung u.a.) allein (oder zumindest überwiegend) bei „früh gestörten“ Menschen zu schweren Schädigungen der Persönlichkeit führen. Diese Position scheint übrigens Alice Miller (die ich sehr schätze) auf dem Hintergrund ihrer Erfahrung mit derartigen Menschen zu vertreten. (Das würde dann quasi auch erklären, warum so viele Menschen traumatische Erfahrungen relativ gut zu überstehen vermögen.)

Wenn in einer „frühen Störung“ der zentrale Faktor für die Entwicklung einer schweren Persönlichkeitsstörung liegen sollte, dann ist zu klären, ob denn nun eine angeborene, mangelhaft kontrollierte  Triebhaftigkeit des Säuglings zur Zerstörung der Eltern-Kind-Beziehung führt (Kernberg, 1990), oder ob nicht die Reaktion auf Beziehungsmuster der Erwachsenen das Kind in seinen Handlungsweisen entscheidend prägt. Die Säuglingsforschung scheint – wie bereits gesagt – die letztere Position zu bestätigen (vgl. Dornes 1995, z.B. S. 140-150). Sollten also gerade traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit verantwortlich sein dafür, daß spätere Traumatisierungen zu schweren Persönlichkeitsstörungen beitragen, dann ist Kernbergs Argumentation doppelt und dreifach zynisch. Er leugnet nämlich zunächst, daß die Betroffenen schon früh an Entwertung, Mißachtung, Mißhandlung, mangelnder Fürsorge und Zuwendung o.ä. gelitten haben könnten. Vielmehr attestiert er den Säuglingen unbewältigte „orale Wut“ oder unbewältigte „ödipale Konflikte“. Spätere Trauma-Situationen werden nur deswegen als schädlich klassifiziert, weil das Kind dort seine unbewältigten triebhaften Deformationen einbringt. Schließlich wird, wenn es sein muß, dem Opfer auch noch für alle folgenden Mißhandlungen bis ins Erwachsenenalter hinein vorgeworfen, daß es sich die schädlichen Folgen davon mit seiner mißratenen Persönlichkeit ganz allein selbst zuzuschreiben habe:

– Das KZ-Opfer bringt seinen Haß mit ins KZ – vermutlich den an ihm haften gebliebenen „oralen Neid“ – „Klinisch gesehen steht also ein haßerfülltes Opfer haßvoll einem haßerfüllten sadistischen Täter gegenüber“.

– Das unter 10jährige Mädchen prägt die Situation seiner Vergewaltigung durch seinen ungelösten „Ödipus-Komplex“ – nur deswegen hat sie ja Grund, das (nach Kernberg) für die Pathogenese verantwortliche Schuldgefühl zu entwickeln. Hätte sie ihren Komplex bereits in dem von Freud dafür vorgesehenen Alter (2-5 Jahre) bewältigt, dann hätte sie nämlich als 10jährige die ihr vom Papa gebotene Chance, die Mama auszustechen, entrüstet abgelehnt. Daß es später zu dem kleinen Arrangement wie „in der Novelle ‚O‘“ kommt, daß sie also „als Geschenk“ den Freunden des Gatten angeboten wird, das hat sie allein ihrer masochistischen Persönlichkeit zuzuschreiben.

– Mindestens dreifach versagt hat auch die suizidierte Klientin: daß sie eine antisoziale Persönlichkeit entwickelt hat, liegt vermutlich daran, daß sie weder ihren „oralen Neid“ noch ihren „Ödipus-Komplex“ bewältigt hat. Wohl deswegen nutzt sie dann später auch skrupellos die Chance, durch den Sex mit ihrem Papa mit der Mama zu rivalisieren. Diese „ödipale Schuld“ treibt sie in die Depression. Ihre Boshaftigkeit findet ihren Höhepunkt, als sie ihren Therapeuten verführt, um sich dann unter Verweis auf diese Situation umzubringen – und damit dem Therapeuten (und sogar Kernbergs Klinik!) das Gericht auf den Hals zu hetzen. Ein durch und durch verdorbenes Geschöpf!

3.) Daß Opfer zu Tätern werden können (aber nicht müssen), habe ich ausdrücklich bestätigt. Kernbergs Ungeheuerlichkeiten – so meine Hypothese – sind womöglich aus erlebten Opfer-Situationen heraus verständlich. Aus eigener mehrjähriger Praxis kenne ich persönlich jedoch eigentlich nur eine Betroffene, die in sehr deutlicher Form „Täterverhalten“ reproduziert hat. Vermutlich landen diese Menschen eher im Gefängnis und werden dort – wenn sie Glück haben – mit einem guten Psychotherapeuten konfrontiert. Kernberg selbst führt kein wirklich ernstzunehmendes Beispiel dafür an. Seine Gleichsetzung von Opfer und Täter stellt für mich eine grobe Geschmacklosigkeit dar (KZ-Opfer) bzw. ist vollkommen widersinnig (10jährige; Suizidopfer). Insofern habe ich bei meiner Kritik diesen Punkt der Opfer-Täter-Transformation nicht vertieft (was ich womöglich noch hätte machen sollen). Sehr stimmig finde ich übrigens Aussagen von Alice Miller zu diesem Thema.

Kernbergs Argumentation läuft – um es mit einem Vergleich auszudrücken – auf folgende Situation hinaus: als ob die Polizei bei jedem Fall von Körperverletzung ihre Ermittlungen im wesentlichen darauf beschränken würde, die Beteiligung der Geschädigten an dem Geschehen aufzuklären – ob da nicht Provokation, masochistische Neigung, problematisches Risikoverhalten oder ähnliches vorliegen würde -, und die einzige Konsequenz würde in Bußgeldbescheiden bzw. Anklagen gegen die Betroffenen bestehen, weil sie durch ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens zur Tatzeit das Delikt zu verantworten hätten. Dies scheint ungefähr die Logik zu sein, die ich in Kernbergs Haltung wahrnehme. Hiergegen richtet sich vor allem meine Kritik.

4.) Wie das mit dem „als ob“ nun genau zu verstehen ist, das könnte womöglich tatsächlich strittig sein. Ich habe dieses „als ob“ gelesen als ein „genauso wie“. Das mag ein Interpretationsfehler sein, aber ich meine, es ist bestenfalls unklar. Danke, daß Sie mich auf den Zitatfehler aufmerksam machen. Er wird in einer Überarbeitung bereinigt.

5.) Ich bin tatsächlich immer wieder entsetzt über das, was ich in dem Artikel gelesen habe. Und ich habe wirklich größte Mühe, mich mit „Beherrschung“ mit diesen Ungeheuerlichkeiten auseinanderzusetzen. Ich strebe eigentlich auch gar nicht an, rein „sachlich“ an diesen Text heranzugehen, denn er ist es ja auch selbst nicht, sondern bis ins Letzte geprägt von (pseudotheoretisch getarnten) Entwertungen und pathologischen Entgleisungen. Tatsächlich glaube ich, daß Kernberg von einer maßlosen Verwirrung im Denken behaftet ist. Bei ihm handelt es sich offensichtlich um einen psychisch schwerst gestörten Menschen, der es trotz – oder vielleicht besser: gerade wegen – seiner Profession nie geschafft hat, das selbst erlebte Leid einmal gründlich zu bearbeiten. Denn die Lehranalyse nach klassischem Muster, der er sich als Analytiker zu unterziehen hatte, ist eine Paradesituation, in der einem Menschen in Bezug auf alle möglichen Opfer-Situationen unter den Hauptrubriken „Narzißmus“ und „ödipaler Konflikt“ eine Täterschaft suggeriert wird.

Meine Mutmaßungen über Kernberg sind immer wieder kritisiert worden. (Lediglich ein Psychoanalytiker, Prof. R., hat gemeint, für ihn klinge aus Kernbergs Argumentation ebenfalls Persönliches an.) Wenn Sie weiter unten ein wenig zu meiner Person lesen, werden Sie womöglich verstehen, warum ich „Deutungen“ durchaus für interessant halte. (Z.B. schätze ich sehr die Ausführungen von Alice Miller zur Lebensgeschichte von bestimmten Menschen. Ich weiß nicht, inwiefern meine „Mutmaßungen“ tatsächlich meinem Anliegen schaden sollten. Immerhin habe ich sie ausdrücklich als solche deklariert. Und sie sind ja sogar geschrieben in dem Bemühen um Verständnis, quasi als Gegengewicht zu dem bei mir vorhandenen Ärger, Entsetzen und Abscheu. Das unterscheidet mich m.E. deutlich von Kernberg selbst, der seine Deutungen ja regelmäßig in einer entwertenden, negativen Art vornimmt. Für mich stellte es eine Notwendigkeit dar, Kernbergs Text als Ausdruck einer massiven Störung zu verstehen, sonst wäre ich bei der Besprechung wohl vollständig ausgerastet. Es hat mich übrigens auch bei Freud selbst überaus fasziniert, Mutmaßungen über seinen persönlichen Hintergrund anzustellen, warum er z.B. so sehr an den Geschichten von Narziß und Ödipus gehangen hat, und warum er sie so systematisch mißversteht. Da hat wohl eine gewisse „tiefenpsychologische“ Prägung mitgewirkt.

Nun darf ich Ihnen vielleicht kurz meinen biographischen Hintergrund erläutern: als Psychologe habe ich zunächst ein „tiefenspsychologisch fundiertes Verfahren“ – die katathym-imaginative-Psychotherapie – erlernt, ein Verfahren, das ich bis heute durchaus zu schätzen weiß. Für meine „Selbsterfahrung“ habe ich von der Methode an sich sehr profitiert. Allerdings haben mehrere Unstimmigkeiten, v.a. auch die theoretischen Unklarheiten der DozentInnen und ihre Unfähigkeit, die Freudschen Dogmen überhaupt auch nur zu diskutieren, dazu geführt, daß ich dem entsprechenden Verein vor einigen Jahren den Rücken zugekehrt habe. Im Nachhinein wird mir erst deutlich, welch bizarren „Deutungen“ ich dort z.T. ausgesetzt war. Auch eine früher absolvierte 2jährige „Analyse“ – im Anschluß an eine womöglich auch „psychosomatisch“ bedingte Nervenwurzelentzündung (Guillain-Barré-Syndrom), die mich fast vollständig lahmgelegt hatte – durchschaue ich erst im Nachhinein in ihrer Absurdität.

Meine Exkursionen in den Bereich der „Tiefenpsychologie“ habe ich durch eine verhaltenstherapeutische Ausbildung ergänzt. Seit 1993 bin ich in eigener Praxis als Verhaltenstherapeut tätig. Seit 1998 erlerne ich die Hypnose.

Der wichtigste Anlaß, mich mit der Theorie der Psychoanalyse einmal näher zu beschäftigen, bestand darin, daß ich in meiner Praxis mit einzelnen Menschen zu tun hatte, denen es nach einer psychoanalytischen Therapie schlechter ging als zuvor. Besonders an einem Fall war mir dies besonders deutlich geworden: ein junger Mann war als Kind vom Vater brutal mißhandelt worden. Zusätzlich hatte der Vater versucht, ihm den Abschluß einer höheren Bildung zu vereiteln. Der Klient hatte daraufhin massive Angstzustände entwickelt, was ihn zu einer Gruppentherapie bei einem Analytiker führte. In dem mir vorliegenden Therapieantrag des Psychoanalytikers wurde dem Klienten quasi vorgehalten, er zeige „Haß gegen den Vater“ und „Leistungsverweigerung“. Das ganze lief unter der Rubrik: „ödipaler Konflikt“. Nach zwei Jahren dieser „Behandlung“ benötigte der Klient zusätzlich ein Asthmaspray. Das wundert mich nicht, denn in gewisser Weise hat der „Therapeut“ hier die frühe Traumatisierung des Klienten – die völlige Verständnislosigkeit aus dem sozialen Umfeld – wiederholt, anstatt bearbeitet. Derartige Behandlungsstrategien produzieren m.E. systematisch „Kunstfehler“.

Dieser Fall hatte mich übrigens 1996 angeregt, einmal bei Sophokles über das Problem von Ödipus nachzulesen, und dabei hatte ich eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Sophokles erzählt die Geschichte einer Traumatisierung. Ein Kind wird zum Spielball seiner Eltern, vor allem seiner Mutter. Sophokles bringt keine „Schicksalstragödie“ auf die Bühne, sondern ein sehr spezielles (keineswegs universelles!) „Familiendrama“. Das Verhängnis ist „hausgemacht“. Ödipus leidet an den Beziehungsdefinitionen, die von seinen Eltern ausgehen. Er re-agiert lediglich auf das, was ihm von seinen Eltern entgegen gebracht wird. Sein Verhalten spiegelt lediglich das Verhalten der Eltern. Das Verhalten der Eltern ist primär, dort liegt also das Problem. (Dies ist eine Dynamik, die ich in gestörten Familien bis heute für plausibel und gültig halte.)

Freud erklärt mit seinem Konzept vom angeblichen „ödipalen Konflikt“ das Opfer zum Täter. Er postuliert, daß jedes Kind sich triebhaft seiner Eltern bemächtigen wolle. (Schon in der Verallgemeinerung liegt – typisch für Freud – eine ungeheuerliche Plattheit.) Otto F. Kernberg – Freuds Stellvertreter auf Erden – hat diese abstruse Position auf die Spitze getrieben: in seinem Buch „Borderlinestörungen und pathologischer Narzißmus“ argumentiert er, daß der Säugling die Eltern-Kind-Beziehung zerstört – und zwar aus seiner „oralen Wut“ und seinem „oralen Neid“ heraus (was immer das sein möge).

Dieser Interpretationsfehler – ein Opfer der Verhältnisse zum Täter zu erklären – durchzieht Freuds Interpretationsmuster. Ob er die Mythen von Ödipus und Narziß interpretiert, Shakespeares Drama „Hamlet“ oder Wilhelm Jensens Novelle „Gradiva“. Immer wird das eigentliche Opfer zum triebhaften Täter gestempelt. Und so, wie Freud Erzählungen und Dramen gänzlich mißversteht, so mißversteht er auch die Lebensgeschichten von KlientInnen, so z.B. diejenige von Ida Bauer („Dora“). Präziser gesagt: Freud begeht eine „Verkehrung ins Gegenteil“. Dahinter steckt m.E. die Abwehr der Einsicht in seine eigenes, persönliches Familiendrama. In „Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: die Lüge der Iokaste“ (1997 a) habe ich dies ausführlicher analysiert. (Eine Kurzfassung meiner Ideen im Internet unter http://members.aol.com/oedipus01.)

Han Israels hat in seinem Buch „Der Fall Freud“ (1999) sehr akribisch nachgewiesen, wie skrupellos Freud bereit war, therapeutische Erfolge zu behaupten, selbst wenn er sich mit eigenen Augen von den katastrophalen oder unbefriedigenden Wirkungen seiner Maßnahmen überzeugt hatte. Israels erläutert dies vor allem anhand Freuds Empfehlungen, mit Kokain eine Morphinsucht zu behandeln. Freud hatte diesbezüglich an seinem Freund Fleischl-Marxow „experimentiert“. In mehrere Fachartikeln behauptete er schnelle Erfolge mit seinem „Verfahren“, während er in den Briefen an seine Verlobte vom katastrophalen Zustand des Freundes berichtete – was er an einer Stelle sogar mit der Hoffnung verknüpft, die hohen Schulden bei diesem Freund vielleicht nicht mehr begleichen zu müssen. Ein Arzt (Erlenmeyer), der versucht hatte, Freuds Empfehlungen empirisch zu überprüfen und die verheerende Wirkung von Kokaingaben bei Morphinsucht erkannt hatte, war von Freud niederträchtig diffamiert worden. 

Freuds Theorie wird bis heute in ihrer alten Form weiter tradiert. Daran ändern auch die gebetsmühlenhaft wiederholten Beteuerungen nichts, daß die Theorie ja heute schon viel weiter sei. Natürlich hat es einige interessante Theoretiker und Forscher im Umkreis der Psychoanalyse gegeben, die sehr vernünftige Ideen hatten, z.B. Adler, Ferenczi, Horney, Winnicott, Miller, Masson. An ihnen hat sich aber auch immer wieder dasselbe Schicksal erfüllt: sie wurden wegen ihrer kritischen Sichtweise geächtet, ausgeschlossen, haben z.T. irgendwann einsehen müssen, daß es keinerlei Zweck hatte, mit den früheren Kollegen diskutieren zu wollen.

Im Rahmen einer Kritik des Triebmodells (1997 a) hatte ich bereits einmal anhand dreier weiterer Werke von Kernberg dessen menschenverachtende Einstellung gegenüber seinen KlientInnen aufzuzeigen versucht. In der jüngsten Publikation treibt er jedoch m.E. seine Ungeheuerlichkeiten auf die Spitze. Seine Position ist jedoch bis heute „hoffähig“, sie wird von sog. „PsychoanalytikerInnen“ begeistert beklatscht. Es sind Positionen – wie gesagt -, die systematisch Opfer zu Tätern erklären, die ein „Identifizieren mit den Tätern“ als heilsam propagieren, die dabei ausblenden, daß eine derartige psychotherapeutische Vergewaltigung wohl nur insofern „wirkt“, als sie die Opfer noch mehr in die Resignation treibt (und damit womöglich tatsächlich eine gewisse „Ruhigstellung“ bewirkt).

Es reicht wohl nicht allein aus, andere, vernünftigere, plausiblere, hilfreichere Konzepte einem solchen Unsinn entgegenzustellen. In der Geschichte der Medizin und der Heilkunde gibt es wohl genügend Beispiele dafür, daß beharrliches Unwissen oder sture Unvernunft auf Seiten von „Fachleuten“ katastrophale Folgen hatten. So hat sich die konsequente Umsetzung der von Semmelweis empfohlenen Hygienemaßnahmen gegen die Verbreitung des Kindbettfiebers durch die Uneinsichtigkeit zeitgenössischer Kollegen tragisch verzögert. So hat es auch bis zu 6 Jahren gedauert, bis Thalidomid (Contergan) vom Markt genommen wurde. Kritische Studien zu den Nebenwirkungen wurden verzögert bzw. nicht gedruckt.

Ich möchte mich dafür engagieren, daß der hirnverbrannte Spuk der Triebtheorie endlich aufhört. Die mit dem Geschehen um Kindbettfieber und Contergan m.E. vergleichbare Tragik im Bereich der Psychotherapie sollte sich nicht mehr allzu lange fortsetzen dürfen. Meine kleine Kampagne gegen diese pathologischen Widerwärtigkeiten setzt an verschiedenen Punkten an: 

Zunächst habe ich meine Kritik an dem Kernberg-Text an diverse KollegInnen (ca.500) versandt. Die Auswahl war v.a. durch leichte Erreichbarkeit per Internet bestimmt. Dabei hatte ich jeweils um eine Rückmeldung gebeten. In ungefähr der Hälfte der Texte hatte ich nicht preisgegeben, wer der Autor der kritisierten Thesen war. Dadurch habe ich zwei überaus interessante Rückmeldungen von zwei prominenten Analytikern erhalten. (Prof. Z2: „Sehr geehrter Herr Schlagmann, fast beneide ich Sie wegen Ihrer Fähigkeit, Ihre berechtigte Entrüstung und Wut zum Ausdruck zu bringen und auch an Wege zu denken, wie man pragmatisch gegen solche Texte vorgehen kann, die das Gesamtbild des Psychotherapeuten schädigen.  Ich selbst habe nämlich fast resigniert gegen den Aggressions- bzw.  Todestrieb anzugehen, nachdem ich festgestellt habe, daß mir sonst gutwillig und vernünftig erscheinende Kollegen nach langen Diskussionen, in denen ich geglaubt habe sie überzeugt zu haben, sie in stereotyper Weise immer wieder auf diese alten überholten triebtheoretische Postulate zurückkamen.“ Prof. Raymond Battegay: „Sehr geehrter Herr Schlagmann, … Natürlich bin auch ich der Ansicht, dass der von Ihnen zitierte Kollege psychoanalytisch nicht belegbare Theorien verwendet, die zweifellos die Problematik der betreffenden Patienten verfehlen. Zwar kennen wir seit Freud das psychologische Phänomen der Identifikation mit dem Feind. Diese richtet sich aber immer (unbewusst) gegen die eigenen Person.“)

Die Reaktionen reichen insgesamt von Gleichgültigkeit über boshafte Kommentare (Sehr geehrter Herr Schlagmann, auch ich bin nach Ihrer Mail sehr besorgt – allerdings nicht über Herrn Kernberg, sondern über Sie, der Sie – völlig aus dem Zusammenhang gerissen – offensichtlich wenig von Täter-Opfer-Dynamiken verstehen. Ich kann das an dieser Stelle nicht näher ausführen, weil es völlig den Rahmen einer mail sprengen würde, bin aber auch erschrocken über so viel Oberflächlichkeit. Mit freundlichen Grüßen  –  Prof. A1) bis hin zu deutlicher Zustimmung. Interessanter Weise habe ich ca. 45 Rückmeldungen erhalten in den Fällen, in denen ich den Autor nicht angegeben hatte, gegenüber ca. 6 Rückmeldungen, in denen ich den Autor genannt hatte. Von etlichen KollegInnen, die bei der anonymisierten Fassung zunächst Kritik an Kernbergs Thesen angedeutet hatten, jedoch ein Urteil bis zur Kenntnis der Quelle aufschieben wollten, habe ich – nach Mitteilung der Quelle – bis heute nichts mehr gehört.

Prof. Buchheim, einer der Herausgeber der Zeitschrift, in der Kernberg veröffentlicht hat (Kernberg ist auch Mitherausgeber) hat zwar im Editorial vollmundig verkündet, man wünsche sich eine kritische Diskussion, auf mein Anschreiben habe ich jedoch bis heute keine Reaktion erhalten. Auch Kernberg hat – wie zu erwarten – nicht auf mein Anschreiben reagiert.

Die erhaltenen Rückmeldungen haben z.T. dazu geführt, daß ich meine Position – als Erwiderung auf typische Einwände – weiter ausformuliert habe. Ich stelle mir im Moment vor, die gesammelten Rückmeldungen etwas zu typisieren, durch meine weiteren Stellungnahmen zu ergänzen, das ganze als Datei oder in einer Art Broschüre drucken oder vervielfältigen zu lassen und interessierten Menschen zugänglich zu machen. 

Derzeit bemühe ich mich auch darum, daß Kernbergs Position bspw. von einer Ethik-Kommission bei der „Deutschen Gesellschaft für Psychologie“ begutachtet wird. Die Kommission ist derzeit wohl nur kommissarisch von Prof. Netter besetzt. Er hat mich um Geduld gebeten, bis eine neue Besetzung gewählt ist. (Der BDP fühlt sich dafür übrigens nicht zuständig.)

Ich hatte mich auch darum bemüht, das Bundesgesundheitsministerium auf diese m.E. gesundheitsschädliche Position aufmerksam zu machen. Die Leiterin der Ethik-Kommission des BGM für den Bereich Psychologie (Frau Dr. Reiter-Theil) hat bis heute nicht geantwortet. Ein Mitarbeiter des BGM (Dr. Redel) hat mich auf die Landesministerien verwiesen. (Ende November habe ich einen Termin im saarländischen Gesundheitsministerium.) Möglicherweise läßt sich ja von Seiten des Gesetzgebers ein wenig Druck entfalten, daß bspw. die Wirkung der von Kernberg empfohlenen Therapie einmal gezielt ein wenig unter die Lupe genommen wird. Vielleicht ist es ja erreichbar, daß von politischer Seite so etwas wie ein offizieller Warnhinweis abgegeben wird.

Schließlich habe ich mich auch bei den BürgermeisterInnen von Lindau bemüht, dafür zu werben, daß Kernberg in Lindau „geächtet“ wird, daß von dort z.B. Druck gemacht wird, daß er den „wissenschaftlichen Beirat“ zu verlassen hat. Die Rückmeldungen von dort sind bisher wenig ermutigend. Man schrieb mir, man habe mein Anliegen an das Organisationsbüro der „Lindauer Psychotherapiewochen“ weitergeleitet – die entsprechenden Herrschaften hatte ich bereits zuvor angeschrieben, ohne daß eine beachtenswerte Reaktion erfolgt wäre. Ich werde mich allerdings weiterhin bemühen, die örtliche Presse auf den Fall aufmerksam zu machen.

Neulich ist mir das Buch von Dörte v. Drigalski in die Hände gefallen („Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse“. 1991). Sie beschreibt sehr kritisch ihre Erfahrungen in zwei „Lehranalysen“. In ihrem Buch berichtet sie mehrfach über die katastrophalen schädlichen Folgen einer „Psychoanalyse“ – Suizide, tödliche Unfälle etc. In ihrem Vorwort schreibt sie: „Die Berufsgruppe der Psychoanalytiker hat intellektuell für mich abgedankt. Ich habe viel korrespondiert und diskutiert, kam aber bei jedem, aber wirklich jedem an den Punkt, wo er päpstlicher als der Papst wurde bzw. sehr feindselig: wenn die Infragestellung der Psychoanalyse ein Spürchen zu weit ging. Letztlich fand ich sie einzeln und als Gruppe intellektuell desinteressiert, verantwortungslos ihrem Tun und ihren Patienten und ihrem Nachwuchs gegenüber.“ (Vorwort S. IX). Das entspricht ziemlich genau den Erfahrungen, die ich ähnlich gemacht habe.

Neulich fiel mir auch wieder ein, daß ich Anfang 1999 an einer Delphi-Studie der Uni Saarbrücken zum Thema „Trauma und Erinnerung“ teilgenommen hatte. (Der Initiator, Herr Prof. Krause, leistet Kernberg in dem Heft der PTT m.E. quasi Schützenhilfe bzw. Kernberg scheint sich auch ein wenig an ihn zu klammern.) Schon die Art der Befragung hat mich teilweise ziemlich geschockt. Bspw. werden in einigen Statements Kriterien benannt, die von TherapeutInnen als Hinweis für das Vorliegen einer „retrospektiven Phantasie“ (deren Vorkommensmöglichkeit ich gar nicht bestreiten möchte!) gewertet werden. Die Statements waren nach dem Ausmaß der Zustimmung zu gewichten.

„20.4: Die Schuldfrage wird eher externalisiert und bei dem/der Täterin gesucht.

04,7 % stimme gar nicht zu   29,7% stimme überwiegend nicht zu   51,6% stimme im wesentlichen zu    14,1% stimme völlig zu

20.5 Die Pat. gehen mit einer größeren Überzeugung und Sicherheit davon aus, dass eine sexuelle Traumatisierung stattgefunden haben müßte.

04,9 % stimme gar nicht zu   31,1% stimme überwiegend nicht zu   50,8% stimme im wesentlichen zu    13,1% stimme völlig zu“

(Aus: Anke Kirsch, 1999)

Gibt das nicht ein erschreckendes Bild vom Zustand der (überwiegend deutschen) Psychotherapie? Über 60% der (91) Fachleute ordnen die ihnen geschilderten Traumatisierungen eher einer „retrospektiven Phantasie“ zu, weil die Betroffenen dies mit sicherer Erinnerung und ohne eigenes Schuldbewußtsein tun! Bei der Studie waren übrigens drei Antwortende ausgeschlossen worden. Womöglich gehört meine Antwort dazu, was ich derzeit noch zu klären versuche. Ich hatte nämlich auf sieben Seiten eine detaillierte Rückmeldung zu den einzelnen Statements gegeben. [Inzwischen weiß ich, dass meine Antwort tatsächlich für die Studie nicht verwertet wurde. K.S.]

Es freut mich sehr, daß meine kleine Aktion bei Ihnen eine so engagierte Resonanz gefunden hat. Ich würde mich freuen, wenn Sie womöglich noch die eine oder andere Anregung haben oder Ideen für eine weitere Kooperation. Gerne werde ich Sie über den weiteren Verlauf informieren.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

26.10.2000

 

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

herzlichen Dank für Ihr umfangreiches Schreiben. Ich muß schon sagen, daß mich Ihre Intensität der Auseinandersetzung sehr beeindruckt. Ich habe Ihren Brief soeben studiert, muß ihn aber mindestens noch ein- zweimal lesen bis ich alles verstanden habe. Vieles kann ich einfach nicht nachvollziehen, da ich Kernberg – mit Ausnahme des besagten Artikels – vorher nie im Original gelesen habe. Da habe ich aber wohl nichts versäumt. Auch Ihre Lesart der Freudschen Theorie ist mir nicht geläufig.
Ihr Vorgehen finde ich mittlerweile sehr interessant. Mir leuchtet nun auch ein, warum Sie Kernberg im ersten Schreiben nicht genannt haben. Die Reaktionen sprechen für sich. Der Stil des Briefes von A1 ist eine Unverschämtheit. Das Problem der Täter-Opfer-Problematik ist bei weitem nicht ausgelotet. Mir liegt hier mehr die sozialpsychologische Lesart a la Greve oder Montada.
Ich habe mich vor vielen Jahre mit dem Problem der therapeutischen Mißerfolge beschäftigt, dieses auch empirisch untersucht (in dieser Zeit bin ich auch auf das Buch von Drigalski gestoßen). In diesem Zusammenhang wandte ich auch eine ehemalige jahrelang psychoanalytisch behandelte Patienten an mich. Sie hatte ihre Leidensgeschichte aufgeschrieben und wollte diese publizieren. Ich habe alle möglichen Verlage angeschrieben und bekam entweder keine Antwort oder mir wurde beschieden, daß man das Werk wegen möglicher Regreßansprüche nicht drucken könne. Ich befürchte, daß es Ihnen ähnlich ergehen wird.
Ich kenne die Delphi-Studie nicht, habe aber nicht verstanden, warum die Ergebnisse Kernberg Schützenhilfe leisten. M.E. geht es bei der Delphi-Studie um etwas ganz anderes, um die „Korrektheit“ von Erinnerungen.

Ich werde den Artikel von Kernberg am 12.12. in meiner Vorlesung Klinische Psychologie zum Thema „Zur Bedeutung der frühen Kindheit“ vorstellen und mich dann wieder bei Ihnen melden.

Mit freundlichen Grüßen – Wolfgang Schulz

 

Saarbrücken, den 26. Oktober 2000

Sehr geehrter Herr Prof. Schulz,

zunächst erneut herzlichen Dank für Ihren freundlichen Zuspruch!

Wenn Sie möchten, dann hier noch eine kurze Erläuterung zu dem von mir wahrgenommenen Zusammenhang zwischen Kernberg und Delphi-Studie:

Die Triebtheorie ist ja von Freud als Gegenpol zur Trauma-Perspektive entwickelt worden. Es hatte ja Tradition innerhalb der Psychoanalyse, PatientInnen, die davon berichteten, daß sie z.B. sexuell mißbraucht worden wären, einzureden, daß dies nur ihren Wunschvorstellungen entsprochen hätte. Eine solche Sichtweise ist ja schon schlimm genug. Kernberg treibt es auf die Spitze, indem er bei einem sogar attestierten Mißbrauch in der Kindheit der Triebkomponente dabei (der ödipalen Lust und Schuld) das Hauptgewicht zumißt. Er sagt also ungefähr: Ich zweifle zwar nicht daran, daß ein Mißbrauch stattgefunden hat, aber das Problem der Klientin entsteht im wesentlichen daraus, daß Sie dies als erregenden Triumph über die Mutter erlebt hat, woraus ihr dann Schuldgefühle erwachsen sind.

Vermutlich, weil eine derartige Position beim Publikum nicht so gut ankommt, wird als Begleitmusik immer wieder die Leier abgespielt, daß ja sowieso immer fraglich sei, wieweit man Erzählungen von einem Mißbrauch überhaupt Glauben schenken dürfe. Es gebe zwar einzelne Fälle, in denen derartiges vorkomme, aber … . Mit einer solchen Sichtweise wird die Triebperspektive eher gestützt (die PatientInnen wollen sich so etwas einbilden), das Vorkommen von Traumatisierungen wird eher heruntergespielt. Würde der Traumatisierung als ätiologisches Moment ein größerer Stellenwert zugemessen, dann müßte man sich ja einmal mehr Gedanken über dessen zerstörende Wirkung auf die Psyche machen. Solche Gedanken wurden von Freud ja ab September 1897 stark tabuisiert.

Die Infragestellung der Erinnerung steht m.E. also stark im Dienst der Stärkung der Triebposition. (Ich will dabei – wie in meinem Brief ausgeführt – nicht in Abrede stellen, daß falsche Erinnerungen vorkommen können. Allerdings habe ich in meiner Praxis noch nie einen Fall erlebt, in dem ich entsprechende Zweifel entwickelt hätte, wohl aber ca. 25 Fälle, in denen ich keinerlei Grund hatte, an den Erzählungen der Betroffenen zu zweifeln.) In diesem Zusammenhang finde ich es dann katastrophal, wenn über 60% der befragten TherapeutInnen bei bestimmten Kriterien – nämlich Sicherheit der Erinnerung und Externalisierung der Schuld (für mich absolut angemessene Reaktionsweisen, Hinweise auf eine “gesunde” Konfrontation mit dem Thema) – davon ausgehen, daß es sich um falsch erinnerte Geschichten handelt. Sie sagen dann den Betroffenen ungefähr: “Je sicherer Sie sich sind, daß bei Ihnen ein Mißbrauch stattgefunden hat, und je mehr Sie dem Täter die Schuld dafür zumessen, desto sicherer bin ich mir, daß es sich bei Ihren Erzählungen um reine Phantasieprodukte handelt!” Entweder man verläßt dann umgehend eine derartige Praxis, oder man wird depressiv, oder wahnsinnig.

Soweit zu dem von mir wahrgenommenen Zusammenhang zwischen Triebtheorie à la Kernberg und Überlegungen zur “falschen Erinnerung”.

Daß Ihnen meine Lesart der Freudschen Theorie nicht geläufig ist, das braucht Sie übrigens nicht so sehr zu verwundern. Sie ist ziemlich einzigartig, hat es aber bisher schwer gehabt, wahrgenommen zu werden, weil ich auch nicht in einem etablierten Wissenschaftsbetrieb verankert bin, sonder als “Einzelkämpfer” so langsam meine Ideen unter die Leute zu bringen versuche.

Mit freundlichen Grüßen – Klaus Schlagmann

Ministerien, Ethikkommissionen, Gesellschaften u.a.

Ethik-Kommission des Bundesgesundheitsministeriums, Frau Dr. Reiter-Theil

04.09.2000

Sehr geehrte Frau Dr. Reiter-Theil,

im Internet habe ich wahrgenommen, daß Sie in der Ethik-Kommission des Bundesgesundheits-Ministeriums u.a. für den Bereich Psychologie zuständig sind. In dieser Funktion möchte ich Sie gerne auf ein m.E. gravierendes ethisches Problem aufmerksam machen:

Ich hoffe, Sie teilen meine Einstellung, daß einem solchen Konzept ausdrücklich und vehement widersprochen werden muß! …
Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann

(Keine Reaktion auf das Anschreiben.)

BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT

Betr.:                   Psychotherapie ‑ ethische Probleme

Bezug:                Ihre Nachricht vom 12.9.2000

Bonn, den 26. September 2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

Frau Ministerin Fischer dankt Ihnen für Ihr o.g. Schreiben. Sie hat mich beauftragt, Ihnen zu antworten.

Die Zuständigkeit des Bundes für den Bereich der Psychotherapie erschöpft sich in der Rege­lung der Ausbildungen zu den Berufen des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kin­der‑ und Jugendlichenpsychotherapeuten im Psychotherapeutengesetz. Für die Durchführung des Gesetzes sind die Länder zuständig. Das gleiche gilt für die Frage der Einrichtung von Kammern für die genannten Berufe. Mit der Bildung von Psychotherapeutenkammern über­nehmen diese den Ärztekammern vergleichbare Funktionen. Gegenstand ihrer Tätigkeit sind dann u.a. auch ethische oder berufsständische Angelegenheiten.

Hinsichtlich der Anerkennung wissenschaftlicher Verfahren hat das Psychotherapeutengesetz den Ländern einen wissenschaftlichen Beirat zur Seite gestellt, dessen Gutachten diese in Zweifelsfällen einholen können.

Mit der Schilderung der Zuständigkeiten möchte ich klar zum Ausdruck bringen, dass das Bun­desministerium für Gesundheit keine Zuständigkeit hat in der Beurteilung von psychotherapeu­tischen Konzepten oder psychodynamischen Krankheitsmodellen.

Mit freundlichen Grüßen – Im Auftrag – Dr. Redel

 

Ethikkommission der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Prof. Dr. Dr. P. Netter

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

ich erhielt von Ihnen den an Prof. Schuler geschickten Brief mit Ihrer Stellungnahme zu dem Artikel, da Prof. Schuler den Vorsitz der Ethikkommission abgegeben hat, und ich dies kommissarisch uebernommen habe, bis ein neuer Vorsitzender bestimmt ist.

Es ist mir nicht ganz klar, welche Intention Sie damit verbunden haben, diese Korrespondenz und Ihre Stellungnahme an die Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft fuer Psychologie zu schicken. Ich konnte Ihrem Schreiben nicht entnehmen, ob Sie eine Stellungnahme dazu erwarten, und welchen Zweck Sie damit verfolgen. Normalerweise ist es ja so, wenn man Kritik an einem wissenschaftlichen oder auch weniger wissenschaftlichen Artikel aeussern moechte, schreibt man an die Zeitschrift oder den Autor und schickt dort seine Stellungnahme hin. Es wird sehr viel wissenschaftlicher Unsinn oder auch ethisch Bedenkliches geschrieben.

Die Ethikkommission sieht nicht ihre Aufgabe darin, die saemtlichen Publikationen auf dem Sektor halbwissenschaftlich publizierender Autoren daraufhin durchzusehen, ob sie unethische Aussagen enthalten. Es geht hier um Handlungen, Experimente und therapeutische Absichten, die Psychologen haben, zu denen die Ethikkommission ihre Stellungnahme abgeben muss, um damit Richtlinien zu gewaehrleisten fuer zukuenftige Aktionen von Psychologen. Wenn Meinungen oder Fehlinterpretationen von wissenschaftlichen Befunden kundgetan werden, ist dies eine Frage der Auseinandersetzung zwischen den Kritikern und den Autoren.

Wenn Sie moechten, dass von seiten der Ethikkommission eine Stellungnahme abgegeben wird, wuerde ich Sie bitten, das mitzuteilen. Ich wuerde dann allerdings warten, bis der neue Vorstand dieser Kommission im Amt ist, um dann in einem autorisierten Gremium ueber eine solche Stellungnahme zu entscheiden.

Mit freundlichen Gruessen  –  Prof. Dr. Dr. P. Netter

Sehr geehrter Herr Prof. Netter,

vielen Dank für Ihre Antwort auf mein ursprünglich an Herrn Prof. Schuler gerichtetes Schreiben.

Lassen Sie mich mein Anliegen an Sie noch etwas genauer formulieren (Sie haben Recht mit der Kritik, daß dies aus meinem Schreiben nicht so recht deutlich wird, wobei ich aber auch nicht über die Möglichkeiten der Ethik-Kommission informiert bin).

Ich würde mir wünschen, daß die Ethik-Komission den von mir in dem Schreiben “Weisheit oder Wahnsinn?” kritisierten Artikel begutachtet und zu den dort vorgetragenen Patienten-Bewertungen und “Therapie-Empfehlungen” ausdrücklich Stellung bezieht. (Ich darf mir wohl die Wiederholung der Ungeheuerlichkeiten ersparen.) M.E. müßte eine ausdrückliche Warnung ausgesprochen werden, derartigen Richtlinien zu folgen:

* In dem kritisierten Artikel wird dazu aufgefordert, Patienten und Patientinnen bei Vorliegen von Mißhandlungen in der Kindheit dazu zu bringen, sich mit ihren Mißhandlern zu “identifizieren”. In meiner Praxis habe ich Patienten erlebt, die eine derartige “Therapie” miterlebt hatten. Sie waren quasi als Opfer zum Täter erklärt worden. Dies hatte bei ihnen zu einer GESUNDHEITLICHEN VERSCHLECHTERUNG geführt.

* Ein krasser Therapeuten-Fehler, der zum Suizid einer Patientin geführt hat (Verführung der Patientin durch den Therapeuten; zugrundeliegende Mißbrauchserfahrung), wird bagatellisiert, indem die Schuld ganz dem Opfer zugeschoben wird. Derartige Empfehlungen ermuntern dazu, Therapeutenfehler unreflektiert zu lassen. Es wird quasi ein offizieller Abwehrmechanismus geschaffen, mit dessen Hilfe Therapeuten ihre eigenen Fehler ihren KlientInnen zuzuschieben vermögen.

Ausdrücklich hervorheben möchte ich, daß derjenige, der dies empfiehlt (Otto F. Kernberg), keineswegs dem “Sektor halbwissenschaftlich publizierender Autoren” zuzurechnen ist. Als Präsident der “Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung” hat seine Stimme erhebliches Gewicht in dieser Theapierichtung, die zumal von den Krankenkassen in der Bundesrepublik mit einem herausragenden Leistungskontingent (300 finanzierte Therapie-Stunden) besonders ausgezeichnet ist. Ich behaupte, daß Kernberg lediglich mit äußerster Konsequenz das von Sigmund Freud in die Welt gesetzte Trieb-Modell ausformuliert und dabei dann zu seinen – m.E. höchst zweifelhaften und vermutlich schädlichen – Therapieempfehlungen gelangt. Ich hatte darauf hingewiesen, daß ich bereits 1997 anhand früherer Publikationen von Kernberg seine Einstellung gegenüber Klientinnen als äußerst problematisch eingeschätzt hatte.

Mit den Behauptungen, die ich hier aufstelle, packe ich natürlich ein heißes Eisen an. Aber ich meine, daß ich gute Gründe für meine Position ins Feld führen kann bzw. daß die kritisierten Passagen für sich sprechen. Als in einer Einzelpraxis niedergelassener Therapeut verfüge ich natürlich nicht über die nötigen Ressourcen, um bspw. eine gründlichere Studie zu diesem Thema veranlassen zu können. Dies könnte ein weiterer Punkt sein, in dem Sie mich womöglich unterstützen könnten, indem Sie z.B. gegenüber verschiedenen Instituten die Anregung geben würden, diese Fragestellung empirisch zu untersuchen. 

Schließlich würde ich mich sehr freuen, wenn Sie auch in Ihrer Stellung als kommissarischer Leiter der Ethik-Kommission eine quasi vorläufige Stellungnahme dazu abgeben könnten. Ich bemühe mich derzeit, auch im politischen Bereich Entscheidungsträger für diese Frage zu sensiblisieren, so daß eine vorliegende Stellungnahme aus Ihrem Munde hier hilfreich sein könnte. (Da das Bundesgesundheitsministerium sich für diese Frage als “nicht zuständig” erklärt hat, habe ich mich an das meinem Wohnort zugehörige Saarländische Gesundheitsministerium gewendet. Ebenso habe ich die Bürgermeister der Stadt Lindau angeschrieben, da Otto F. Kernberg u.a. im wissenschaftlichen Beirat der Lindauer Psychotherapiewochen wirkt. Auf diesem Hintergrund werde ich auch noch das Bayrische Gesundheitsministerium anschreiben.)

Bei Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Gerne mach ich Ihnen die auf mein Schreiben hin entstandenen Rückmeldungen aus dem Kollegenkreis zugänglich.

Über eine Rückmeldung Ihrerseits würde ich mich freuen.

Mit freundlichem Gruß – Klaus Schlagmann, Saarbrücken

(Keine weitere Reaktion.)

Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

wir danken für Ihr mail und reichen es an den Vorstand und die Wissenschaftskommission der ÖGWG weiter. Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen für Ihr Unterfangen Gunda Hochfilzer (Leiterin der Geschäftsstelle)

(Keine weitere Reaktion.)

Berufsethische Kommission des Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP

Sehr geehrter Herr Schlagmann

Wir haben Ihre Anfrage zur Beantwortung an unsere Berufsethische Kommission weitergeleitet.

Mit freundlichen Grüssen – Felix Schneuwly – Generalsekretär FSP

(Keine weitere Reaktion.)

Forum Berufsethik Psychotherapie, Frau Dr. Hutterer-Kirsch

Mein Standardschreiben vom 3. September (ohne Autorenangabe) erhielt ich zurück mit der handschriftlichen Notiz:

„Ich werde es in der 1. Sitzung nach Herbst = vorauss. 12.12. zur Sprache bringen.“

MfG – Renate Hutterer

(Keine weitere Reaktion.)

Vereinigung der Kassenpsychotherapeuten

04.09.00

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

da wir ein Berufs- und kein Fachverband sind, können wir zu dem Artikel nicht Stellung beziehen. Da es sich um eine psychoanalytische Fragestellung handelt, sollten Sie sich an den Verband DGPT wenden.

Mit freundlichen Grüßen – Dieter Best, Vereinigung der Kassenpsychotherapeuten

Gespräch mit Herrn Ingwart Tauchert vom saarländischen Gesundheitsministerium

Am 19. Dezember 2000 führte ich ein Gespräch mit Ingwart Tauchert vom Saarländischen Gesundheitsministerium zum Thema. Fazit: Die Politik fühle sich nicht zuständig, sich in die fachlichen Angelegenheiten von Berufsverbänden einzumischen. Es sei ja geplant, eine Psychotherapeutenkammer zu gründen, die für solche Angelegenheiten zuständig wäre.

Die Organisatoren der Lindauer Psychotherapie-Wochen

Saarbrücken, den 14. September 2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie sind mit der Organisation der alljährlichen “Lindauer Psychotherapie-Wochen” betraut, an denen ich auch bereits zu meiner Freude teilgenommen habe.

Kürzlich bin ich in einer Fachzeitschrift von 1999 auf die Formulierung einer Position gestoßen, die mich sehr schockiert hat: … [der übliche Standard-Text]

Teilen Sie meine Einstellung, daß einem solchen Konzept ausdrücklich und vehement widersprochen werden muß?

Nun werden Sie womöglich fragen, was das Ganze mit Ihnen zu tun hat. Nun: Der Autor, der dies schrieb, sitzt im wissenschaftlichen Beirat der Lindauer Psychotherapie-Wochen. Derzeit bemühe ich mich darum, dessen Ausführungen vor die eine oder andere Ethik-Kommission zu bringen. Womöglich halten Sie es auch für geraten, Ihrerseits die Sache zu begutachten. Derartige “Experten” bringen die Psychotherapie in Mißkredit.

Meine Position habe ich – neben umfangreichen Zitaten aus dem kritisierten Artikel – in einer 11seitigen Schrift niedergelegt, die der eMail angehängt ist (Format Word ’95). Meine Kritik verbinde ich mit dem Versuch, die zugrunde liegende Psychodynamik einer solchen Argumentationslogik zu erschließen.

Über eine kurze Rückmeldung Ihrerseits würde ich mich freuen.

MfG – Klaus Schlagmann

(Keine Reaktion.)

Die Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau, Petra Meier to Bernd-Seidl

  1. Oktober 2000

Sehr geehrter Herr Schlagmann,

Ihren Brief vom 15. September 2000 habe ich erhalten und an die zuständige Stelle der „Lindauer Psychotherapie-Wochen“ weitergeleitet.

Damit wären auch Ihre Bitten an Herrn Bürgermeister Dr. Birk und Frau Bürgermeisterin Seberich zunächst erledigt.

Mit freundlichen Grüßen – Petra Meier to Bernd-Seidl, Oberbürgermeisterin

(Keine weitere Reaktion.)

 

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Literatur

Borch-Jacobsen, Mikkel (1997): Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung. München

Breuer, Josef & Sigmund Freud (1895/1991): Studien über Hysterie. Frankfurt a.M.

Dornes, Martin (1995): Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M.

Drigalski, Dörte v. (1991): Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche Psychoanalyse. Frankfurt a.M.

Duden (1989): Herkunftswörterbuch, Mannheim

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), München

Freud, Anna (1975): Das Ich und die Abwehrmechanismen. München

Freud, Sigmund (1901/1905/1993): Bruchstück einer Hysterieanalyse. Frankfurt a.M.

Israëls, Han (1999): Der Fall Freud. Hamburg

Kernberg, Otto F. (19905): Borderline-Störungen und Pathologischer Narzißmus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.

Kernberg, Otto F. (19913): Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart.

Kernberg, Otto F. (1993): Psychodynamische Therapie bei Borderline-Patienten. Unter Mitarbeit von Michael A. Selzer, Harold W. Königsberg, Arthur C. Carr und Ann H. Appelbaum. Verlag Hans Huber, Bern u.a.

Kirsch, Anke (1999): Arbeiten der Fachrichtung Psychologie, Universität des Saarlandes. Nr. 190. Erste Ergebnisse eines Expertendelphis zum Thema „Trauma und Erinnerung“. Saarbrücken, 1999. Fachrichtung 6.4 Psychologie, Postfach 15 11 50, D 66041 Saarbrücken.

Nunberg, Hermann & Ernst Federn (Hg.) (1976-1981): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Bd. I – IV). Frankfurt a.M.

Schlagmann, Klaus (1996): Die Wahrheit über Narziß, Iokaste, Ödipus und Norbert Hanold. Versuch einer konstruktiven Streitschrift. Saarbrücken

Schlagmann, Klaus (1997 a): Zur Rehabilitation der Könige Laios und Ödipus oder: Die Lüge der Iokaste. Saarbrücken

Schlagmann, Klaus (1997 b) Zur Rehabilitation von ‚Dora‘ und ihrem Bruder oder: Freuds verhängnisvoller Irrweg zwischen Trauma- und Triebtheorie. Bd. I: Der Fall ‚Dora‘ und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Saarbrücken

Schlagmann, Klaus (2000 a) Der Widerspruch zwischen dem Begriff des Narzißmus und dem Inhalt des entsprechenden Mythos – auf dem Hintergrund von Freuds theoretischem Umbruch von 1897. Material zu einem Vortrag beim 13. Symposion „Zur Geschichte der Psychoanalyse“ vom 18.-20.02.2000 in Tübingen

Schlagmann, Klaus (2000 b): Die Mythen von Narziß und Ödipus als Geschichten von Traumatisierungen. Vortrag, gehalten auf dem Internationales Symposion „Kränkung und Krankheit. Katathym-imaginative Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen und Mißbrauchs­traumen“ vom 30.06-02.07.2000 in Halle/Saale. Abgedruckt in: “Psychotraumatologie und Katathym-imaginative Psychotherapie”, hrsg. von U. Bahrke und W. Rosendahl, Pabst Science Publishers, Lengerich u.a., 2001, S. 108-119.

Schlagmann, Klaus (2000 c): Ödipus  – positiv gesehen. Widersprüche zur psychoanalytischen Deutung. Material zum Vortrag beim 2. Weltkongress für Positive und transkulturelle Psychotherapie, „Psychotherapy for the 21st Century“, 5.-9. Juli in Wiesbaden