Iwan Pawlow

 … und Josef Breuer

Der von Josef Breuer beschriebene Mechanismus der Entstehung psychischer und psychosomatischer Symptome bei Bertha Pappenheim weist eine starke Analogie zu Pawlows Modell des klassischen Konditionierens auf, den Pawlow zunächst an Hunden beobachtet hatte: Wenn ein bestimmter Reiz bei einem Hund unmittelbar eine körperliche Reaktion auslöst [unbedingter Reiz] (der Anblick von Futter löst bei dem Hund Speichelfluss aus), dann kann auch ein zeitgleich vorhandener neutraler Reiz (z.B. das Bimmeln einer Glocke, das ertönte, als dem Hund das Futter präsentiert wurde) die körperliche Reaktion (Speichelfluss) auslösen [bedingter Reiz]. Diese Assoziation von unbedingtem und bedingtem Reiz stellt sich sehr leicht her, wenn sich die betreffende Person in einer Art hypnotischem Zustand befindet.

Iwan Petrowitsch Pawlow (26.09.1849 – 27.02.1936)

Analog ergibt sich zur Situation von Bertha Pappenheim:

  • Ihr Ekel vor dem Hund der Gouvernante, der aus einem Glas Wasser trinkt, löst unmittelbar aus: Schluckhemmung. Mit dieser Situation (als neutraler Reiz) ist verbunden: Ein Glas Wasser. Ein Glas Wasser löst in Folge die Schluckhemmung
  • Der Druck auf ihren Armnerven, als sie beim Vater wache hält und dabei einschläft, löst unmittelbar aus: Drucklähmung. Mit dieser Situation (als neutraler Reiz) ist verbunden: Die Halluzination von Schlangen. Schlangenähnliche Gebilde lösen in Folge die Armlähmung aus.
  • Tränen in ihrem Auge lösen unmittelbar aus: Verzerrung der optischen Wahrnehmung. Es ist unklar, welche neutralen Reize mit dieser Situation verbunden sind. Jedenfalls kommt es in Folge wieder zu optischen Verzerrungen.

Pawlows Verständnis von einem unbedingten Reiz (UCS)

Pawlow versteht unter unbedingten Reflexen als diejenigen „Reflexe, die seit Geburt in der Organisation des Zentralnervensystems vorhanden sind“ (1932/1955, 382). Unbedingte Reize sind dann wohl solche, die einen unbedingten Reflex auslösen. Dabei spricht Pawlow manchmal auch von „künstlichen bedingten Reizen“ in Abgrenzung von „natürlicher [… * …] Reizung“ (ca. 1930/1955, S. 266) (womit er den unbedingten Reiz zu meinen scheint), fügt dann aber in der gerade markierten Auslassung [… * …] in Klammern ein: „(wie bewiesen ist, ebenfalls bedingten)“. Also die „natürliche Reizung“ ist auch irgendwie „bedingt“. „Unbedingte Reflexe“ treten nicht von Geburt an auf, lösen nicht von Geburt an entsprechende Reflexe aus (z.B. führen Fleisch und Brot nicht schon bei einem Welpen zu Speichelreaktionen; Pawlow berichtet von einem Hund, der nur mit Milch großgezogen wurde, bei dem der Anblick von Fleisch keinen Speichelfluss hervorrief; 1916/1955, S. 298, 146.) Bei hypnotisierten Hunden bestimmt anscheinend auch die Art der Präsentation des Futters (ob in der üblichen Form, nämlich flach auf dem Teller verteilt, oder in abweichender Form) die Art der Reaktion darauf bestimmte (S.268): In Hypnose wird das üblich präsentierte Futter zwar begutachtet, aber nicht oder nur sehr zögerlich, nur bei wiederholter Präsentation, gefressen; bei veränderter Form, z.B. zu einem Kloß geformt, wird es sofort verschlungen. Futter ist also nicht gleich Futter.

An anderer Stelle hebt Pawlow hervor, dass es in der sich verändernden Welt erforderlich sei, die „unbedingten Verbindungen“ durch „bedingte Reflexe, also durch zeitweilige Verbindungen, zu ergänzen“ (187). Hier verstehe ich ihn so, dass er meint, dass es z.B. in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich sein kann, was z.B. Appetit anregt. In einer sich verändernden Welt ist eine solche Flexibilität notwendige Anpassungsleistung.

Für die Bildung eines bedingten Reflexes (Symptom) gilt (188, ähnlich 149): „Die Hauptbedingung für die Bildung eines bedingten Reflexes ist im allgemeinen das ein- oder mehrmalige zeitliche Zusammenfallen eines indifferenten mit einem unbedingten Reiz.“ So spricht auch Josef Breuer von der „Wirkung der Gleichzeitigkeit“ (226). Diese wirke besonders nachhaltig, wenn in einer Situation starke Affekte wirksam seien, deren Erregung dann in die Auslösung des in der Situation bestehenden Symptoms abfließt („abnorme Bahnung“). Breuer sagt, dass auch eine ganze Kette assoziativer Verknüpfungen einen solchen Reflex auslösen könne.

Ob Herr Pawlow eine Ekelreaktion als „unbedingten Reflex“ verstehen würde, weiß ich nicht. Er spricht einmal von einem „schwachen Abwehrreflex gegen anwidernde Substanzen, die in das Maul gelangen“ (143), konkretisiert diese Substanzen an anderer Stelle als Säure oder Sand. Es wäre wohl schwierig, einen spezifischen Reiz als unkonditionierten Reiz zur Auslösung von Ekel zu reklamieren. Ekel tritt offenbar nicht von Geburt an auf, entwickelt sich – laut Literatur – ab dem 5./6. Lebensjahr verstärkt. Wenn man bedenkt, dass der Ekel seine Funktionalität vermutlich dadurch gewinnt, dass er vor verdorbener/schlechter Nahrung warnt, ist dieses spätere Auftreten durchaus sinnvoll: Die kleinen Kinder müssen ja zunächst offen sein für das, was die jeweilige Kultur als kulinarische Köstlichkeit definiert, um dann aber auch die Offenheit für das Repertoire an Nahrungsmitteln einzuschränken, vielleicht verstärkt ab dem Moment, wo die kleinen Menschenkinder beginnen, sich selbständig fortzubewegen und ihre Umwelt zu erkunden, auch im Hinblick auf ihre nahrhaften Aspekte.

Pawlows Ideen zur Hypnose

Pawlow scheint sehr beeindruckt gewesen zu sein von einer Hypnose, die an seinen Hunden vorgenommen wurde (anscheinend reicht es schon, das Tier auf den Rücken zu legen und so eine gewisse Zeit festzuhalten). Er versteht darunter wohl eine Art Tot-stell-Reflex und hat das unterschiedliche Reagieren von Hunden unter dieser Art von Hypnose ausführlich beschrieben (1955, 264 ff.).

Pawlow erkennt die besondere Wirkung des hypnotischen Zustands an; bei Menschen mache der hypnotische Zustand für Suggestion und Selbstsuggestion empfänglich. Beispielsweise illustriert er dies am Fall einer Scheinschwangerschaft, bei der Veränderungen an den Milchdrüsen beobachtbar sind und es zu spezifischen Fettablagerungen im Bauchbereich kommen kann. Die Steuerung dieser vegetativen Prozesse sei im Großhirn angelegt (1955, 277 f).

Genauso wie Pawlow hatte bereits Josef Breuer die starke Bedeutung eines hypnotischen Zustandes bei der Entstehung hysterischer Symptome betont.

Pawlows Verständnis von Hysterie

In der Auseinandersetzung mit menschlichen psychischen und psychosomatischen Störungen geht Pawlow davon aus, dass z.B. selbst die Schizophrenie aus dem Wirken der bedingten Reflexe verstehbar ist (1955/ S. 377 ff.; 403). „Schizophrenie“ sieht Pawlow als Ergebnis einer „chronischen Hypnose“ (377). Diese Überlegung halte ich für sehr interessant; die gerade in letzter Zeit so aufmerksam beachtete sog. „Borderline-Störung“ [ein Begriff, der mir gar nicht gefällt, weil er m.E. sehr unkonkret ist, so dass in ihn alles mögliche hineingelesen werden kann] ist ja auffallend charakterisiert durch den häufigen dissoziativen Zustand der Betroffenen.) Und gerade auch bei der „Hysterie“ sieht Pawlow es genauso: „Einen Hysteriker aber kann und muß man sich oft sogar unter gewöhnlichen Lebensbedingungen in gewissem Grade als chronisch hypnotisiert vorstellen“ (1955, 339).

Das ist genau das, was Josef Breuer gesagt hatte, dass der „Hypnoidzustand“ wesentlich sei für die Entstehung „hysterischer“ Phänomene.

Pawlow und die Bedeutung von Ambivalenz

Pawlow spricht von „Erregung“ und „Hemmung“ (wobei mir sein Begriff der Hemmung nicht sehr klar ist). Wenn bestimmte Signale der „Hemmung“ (z.B. ein elliptischer Lichtkegel) entwickelt werden (bei einem elliptischen Lichtkegel – Verhältnis der Halbachsen von 2:1 – wird kein Futter gegeben), während bei einem kreisrunden Lichtkegel Futter gegeben wird, dann wird bei allmählicher Annäherung der Ellipse an einen Kreis (Verhältnis der Halbachsen von 9:8) der Hund in einen zunehmenden Zustand der Erregung und motorischen Unruhe versetzt (176).

Noch deutlicher wird die Situation, wenn Pawlow die Fütterung mit schmerzhaften Reizen der Haut kombiniert (175 f). Solange die schmerzhafte Reizung auf einen einzigen Punkt beschränkt bleibt, gelingt die Konditionierung des Speichelreflexes auf den Schmerz. Bei einer Ausdehnung der schmerzhaften Reizung auf viele verschiedene Punkte kommt es „ganz plötzlich“ bei dem Hund zu einer „schroffe[n] Veränderung“. Die konditionierten Reflexe verschwinden. „Der früher sehr ruhige Hund wurde nun sehr leicht erregbar.“

Mir scheint dies eine treffliche Umschreibung dessen zu sein, was Josef Breuer am Beispiel von Bertha Pappenheim beobachtet: Die junge Frau lässt es sich zunächst gefallen, dass sie ihre natürlichen Impulse auch einmal zurückstellen muss, wenn sie die Integration in den Familienverband nicht verlieren will. Sie verhält sich wie ein braves Mädchen. Als sich die Zumutungen jedoch immer mehr ausdehnen – sie muss ihr Bedürfnis nach Bildung, den Ärger gegenüber dem gewalttätigen Bruder, die Abneigung gegenüber der Gouvernante, das Vergnügen an Tanz und Musik verleugnen, und schließlich wird ihr sogar die Verbundenheit zu ihrem Vater streitig gemacht, indem ihr sogar der letzte Abschied von ihm am Totenbett verweigert wird! –, da kommt es zu einer schroffen Veränderung in ihrem Verhalten. Sie wird zeitweise unkontrollierbar, ungezogen, verweigert die Kommunikation mit der Mutter (die kein Englisch spricht), und ist nur schwer wieder zu beruhigen.

Auch an dieser Stelle scheint mir also die Beschreibung von Bertha Pappenheim durch Josef Breuer mit Pawlows experimentellen Studien sehr gut vereinbar. Es würde sich wohl lohnen, Pawlows Erkenntnisse, die leider nicht immer sehr anschaulich und klar formuliert sind, einmal noch ausführlicher mit den Breuerschen Überlegungen zu vergleichen.

Gegensätze zwischen Iwan Pawlow und Josef Breuer

Im Jahr 1877 hat Iwan Pawlow an der Universität von Breslau bei Rudolf Heidenhain studiert (Asratjan, S. 23). Seinen Aufenthalt in Deutschland hat er von 1884 bis 1886 wiederholt, in dieser Zeit bei Heidenhain und Carl Ludwig in Leipzig studiert. Er war also der deutschen Sprache mächtig. Rudolf Heidenhain und Carl Ludwig gegenüber habe Pawlow sich sein ganzes Leben eine warmherzige Erinnerung bewahrt (zit. n. Asratjan, S. 26 f): „Die Auslandsreise … war für mich vor allem dadurch wertvoll, daß sie mich mit einem solchen Typ von Wissenschaftlern wie Heidenhain und Ludwig bekannt gemacht hat, die ihr ganzes Leben, alle Freuden und Leiden, der Wissenschaft und nichts anderem gewidmet haben.

Rudolf Heidenhain hatte sich darüber hinaus auch mit hypnotischen Experimenten beschäftigt (Hirschmüller, 1978, S. 129 f). Insofern ist es fast ein wenig auffällig, dass Pawlow da, wo er das Thema Hysterie berührt, an keiner mir bekannten Stelle auf die Ausführungen Breuers verweist. Im Grunde hatte Breuer Pawlows an Hunden gewonnene Überlegungen anhand des Falles von Bertha Pappenheim Jahre zuvor gewissermaßen vorweggenommen. Vielleicht haben zusätzlich recht gravierende Unterschiede in den Auffassungen der beiden Männer dazu geführt, dass Iwan Pawlow die Überlegungen Breuers nicht zitiert hat.

Während Pawlow z.B. davon ausgeht, dass „Hysterie“ ein Anzeichen für eine Gehirnschwäche darstelle, berichtet Breuer, er habe es bei „Hysterikerinnen“ vor allem mit besonders feinfühligen und intelligenten jungen Frauen zu tun.

Iwan Pawlow ist bei seinen Darstellungen auch darum bemüht, psychologische Begriffe zu vermeiden. In der Einleitung zu den „Zwanzigjährigen Erfahrungen mit dem Studium der höheren Nerventätigkeit“ schreibt er (Pawlow, S. 466, Anm. 48): „Ich wollte die Frage dieser (psychischen ‑ Red.) Reizung der Speicheldrüsen mit meinen Mitarbeitern Dr. S. G. Wulfson und Dr. A. T. Snarski bearbeiten. … Snarski [unternahm] eine Analyse des inneren Mechanismus dieser Reizung, wobei er sich auf einen subjektiven Standpunkt stellte, d. h. die innere Vorstellungswelt der Hunde (wir führten unsere Experimente an Hunden durch) in Analogie zu uns selbst, ihre Gedanken, Gefühle und Wünsche in Betracht zog. Dabei ereignete sich ein im Laboratorium noch nie dagewesener Fall. Unsere Meinungen über die Auslegung dieser inneren Welt gingen schroff auseinander, und wir konnten durch keine weiteren Versuche zu irgendeinem gemeinsamen Schluß kommen, entgegen der ständigen Laboratoriumspraxis, nach der durch neue Versuche, die im beiderseitigen Einverständnis unternommen werden, für gewöhnlich alle Meinungsverschiedenheiten und Differenzen beseitigt werden können. Dr. SNARSKI blieb bei der subjektiven Interpretation der Erscheinungen. Ich aber war bestürzt über das Phantastische und die wissenschaftliche Unfruchtbarkeit einer solchen Einstellung zu diesem Problem und wollte einen anderen Ausweg aus dieser schwierigen Situation suchen.“ Dr. Snarski musste daraufhin das Labor verlassen. Diese Vorgänge fallen in die Zeit um 1901.

Josef Breuer schreibt dagegen 1895 in den Studien (S. 203): „In diesen Erörterungen wird wenig vom Gehirne und gar nicht von den Molekülen die Rede sein. Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja, es kann eigentlich gar nicht anders geschehen. Wenn wir statt „Vorstellung“ „Rindenerregung“ sagen wollten, so würde der letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn für uns haben, daß wir in der Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die „Vorstellung“ stillschweigend wieder restituieren. Denn während Vorstellungen fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all ihren Nuancen wohlbekannt sind, ist „Rindenerregung“ für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter Erkenntnis. Jener Ersatz der Termini scheint eine zwecklose Maskerade. So möge der fast ausschließliche Gebrauch psychologischer Terminologie vergeben werden.

Moderne Varianten des Pawlow-/Breuerschen Modells

Im Rahmen meiner NLP-Ausbildung habe ich ein Modell kennengelernt, das die Breuer-Pawlowschen Überlegungen recht gut aufgreift: Das Modell des 6-Step-Reframing (übersetzt: Neueinordnung in 6 Schritten).

Ein bestehendes Symptom soll neu eingeordnet werden. Symptome werden i.d.R. als etwas Lästiges betrachtet; dabei wird übersehen, dass jedes Symptom (von psychosomatischem Kopfschmerz, Suchtverhalten, Ängsten, bis hin zu bestimmten Glaubenssätzen) in einer sehr spezifischen Situation entsteht. Das Verstehen des Ursprungs lässt den Sinn des Symptoms erkennen. Die Ursprungssituation wird wieder belebt. Mit dem Persönlichkeitsteil, der damals das Symptom entwickelt hat, wird eine Versöhnung angeregt, ihm gegenüber wird sogar (zu Recht!) Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Damit kann ein Weg eröffnet werden, das alte, eingeschliffene, reflexhaft ablaufende Verhaltensmuster durch alternative Verhaltensmuster zu ergänzen oder zu ersetzen.

 

 

Hier befindet sich der Ausgangspunkt des Beitrages zu Josef Breuer, Bertha Pappenheim und Iwan Pawlow.

Hier geht es zu den Ausführungen zu Leben und Werk von Josef Breuer.

Hier finden sich Angaben zu Bertha Pappenheim und ihrer Behandlung durch Breuer.

Hier finden sich Ausführungen zu den Diffamierungen, denen Breuers Behandlung ausgesetzt war. Vor allem gehe ich hier der Frage nach, wer Bertha Pappenheim Chloral und Morphin verordnet hatte.

Hier gehe ich kurz auf einige zentrale Zusammenhänge zwischen Josef Breuer und Sigmund Freud ein.

Und schließlich werfe ich hier noch einmal die Frage auf, ob Josef Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim als erfolgreich gelten kann.