Deutung II

Weitere Deutungsaspekte

Im Nachwort der zweiten Auflage seiner Abhandlung (1912), also ein Jahr nach Jensens Tod, so dass dieser nichts mehr darauf erwidern konnte, missversteht Freud, der durchaus thematische Ähnlichkeiten mit der ‚Gradiva’ in Jensens anderen Werken gefunden hat – unter Bezug auf die zwei Novellen „Der rote Schirm“ und „Im gotischen Hause“: „Von dem Hauptmotiv der ‚Gradiva’, dem eigentlich schönen Gang mit steil gestelltem Fuß, findet sich in den beiden früheren Novellen keine Spur“ (Freud, 1992, S.163).

Da Freud das „Hauptmotiv“ der Novelle m.E. überhaupt nicht verstanden hat, kann er kaum beurteilen, ob es in diesen Novellen auftaucht oder nicht. Tatsächlich finden sich auch in den genannten Erzählungen Hinweise auf die Füße von jungen Damen. Die besonders anziehende Art einer jungen Frau zu gehen, das Wahrnehmen ihrer nackten Füße, das ist ein Thema, das in Jensens Erzählungen immer wieder auftaucht (in „Asphodil“, „Nirwana“ u.v.m.). Jensen ist halt nicht so einfallslos, dass er seine Figuren ständig in ein- und derselben Manier durch die Gegend stolzieren ließe.

Das Fußmotiv spiegelt sich dabei auch im Namen der Frauengestalt: ‚Atalanta’ tituliert Norbert Hanold sie bei der ersten Begegnung in Pompeji, nach der keuschen, schnellfüßigen Jägerin (Ranke-Graves, 80c). Als ‚Bertgang’, „die im Schreiten Glänzende“, erweist sich ihr Name bei der dritten Begegnung. Und eben als ‚Gradiva’, die „Vorschreitende“, wie er ihr seine Namensgebung bei der zweiten Begegnung erläutert. (Nun schreitet sie nicht mehr in Sandalen, sondern in richtigen Schuhen einher.)

Vermutlich weckt der Gang der ‚Gradiva’ in Jensen sehr persönliche Erinnerungen an seine erste Freundin; er wird sie das eine oder andere Mal beobachtet haben, wie sie, genau in ‚Gradiva’- Art, am Strand entlanggelaufen ist (eine ähnliche Szene findet sich z.B. in „Asphodil“, S.27).

Im übertragenen Sinne meint das fast senkrechte, so plötzliche Abheben des Fußes vom Boden, also von dieser Erde, vielleicht symbolisch ihren allzu frühen Tod. Dies ist wohl weit eher als ein „Hauptmotiv“ einzuordnen, das ebenso im „Roten Schirm“ auftaucht. Dieses Motiv taucht auch quasi in seiner Umkehrung auf in „Im gotischen Hause“: Hier wird eine schier aussichtslos gewordene Liebe durch eine unerwartete Entwicklung möglich gemacht. Dieses Motiv – jähes Scheitern bzw. plötzliches Gelingen einer Beziehung – taucht praktisch in allen Erzählungen Jensens auf.

Hore aus München (Glyptothek)

Wenn man das Gesamtrelief betrachtet, so zeigt sich, dass die Steilheit des aufgestellten Fußes bei der ‚Gradiva’ von der der drei Horen noch übertroffen wird. Zumindest die voranschreitende Hore dürfte Jensen aus München bekannt gewesen sein. Also liegt im steil aufgestellten Fuß bestimmt nicht das „Hauptmotiv“ seiner Novelle, sonst hätte er wohl auf die Hore zurückgegriffen.

Im eben genannten Nachwort schreibt Freud etwas trotzig (Freud, 1992, S.164): „Das von Jensen für römisch ausgegebene Relief des so schreitenden Mädchens, das er ‚Gradiva’ benennen läßt, gehört in Wirklichkeit der Blüte der griechischen Kunst an. Es findet sich im Vatikan Museo Chiaramonti als Nr. 644 und hat von F. Hauser (Disiecta membra neuattischer Reliefs im Jahreshefte des österr. archäol. Instituts, Bd. VI, Heft 1) Ergänzung und Deutung erfahren. Durch Zusammensetzen der ‚Gradiva’ mit anderen Bruchstücken in Florenz und München ergaben sich zwei Reliefplatten mit je drei Gestalten, in denen man die Horen, die Göttinnen der Vegetation und die mit ihnen verwandten Gottheiten des befruchtenden Taus erkennen durfte.“

Freud bemüht sich darzustellen, er habe durch die Lektüre von Hausers Artikel dem Erzähler einige Kenntnisse über das Relief voraus. Aber zweifellos hat genau der hier von Freud (falsch) zitierte Friedrich Hauser – wie er oben wiedergegeben ist – Jensen zum Schreiben seiner ‚Gradiva’ maßgeblich inspiriert.

Allein, dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung mit der Entstehungszeit der Novelle genau zusammenfällt, spricht dafür. Ein in Jensens Heimatstadt (München) befindliches Relief-Bruchstück wurde in den Zusammenhang eines großartigen Kunstwerkes eingereiht, von dem Jensen selbst wiederum einen Ausschnitt als Gipsabguss besaß.

Jensen gibt in seinem Brief an Freud vom 25.05.1907 an, er habe das Original-Relief ursprünglich in einem Museum in Neapel vermutet. Dass es sich jedoch in einem römischen Museum befinde, fließt dann in den ersten Satz von Jensens Novelle ein (Jensen, 1903, S. 1). Das klingt nach einem „Heureka – ich hab’s gefunden!“ Jensen war also – zur eigenen Überraschung – über die Aufbewahrung der ‚Gradiva’ in Rom aufgeklärt worden. Und es liegt nahe, dass diese Aufklärung unmittelbar auf Hausers Text oder mittelbar (z.B. durch eine von Hauser in Münchens Fachkreisen angestoßene Diskussion) auf ihn zurückgeht.

Freud verschweigt seinen LeserInnen einen wichtigen Teil der Wahrheit, wenn er in dem zitierten Nachwort das ‚Gradiva’-Relief lediglich der „Blüte der griechischen Kunst“ zuordnet. Hauser hatte jedoch geschrieben, dass es sich um eine römische Kopie eines griechischen Meisterwerks handelt (Hauser, S. 86 f). Jensen war sich über diesen etwas komplexeren Zusammenhang im Klaren und hat ihn sehr differenziert in seine Novelle einfließen lassen, etwa wenn er die ‚Gradiva’ folgendermaßen beschreibt: „Der Schnitt ihrer Gesichtszüge bedünkte ihn mehr und mehr nicht von römischer oder lateinischer, sondern von griechischer Art, so daß sich ihm nach und nach ihre hellenische Abstammung zur Gewißheit erhob. Ausreichende Begründung dafür lieferte die alte Besiedlung des ganzen südlichen Italiens von Griechenland her, und weitere, den darauf Fußenden angenehm berührende Vorstellungen entsprangen daraus. Dann hatte die junge ‚domina’ vielleicht in ihrem Elternhause Griechisch gesprochen und war, mit griechischer Bildung genährt, aufgewachsen“ (Wilhelm Jensen, in: Freud, 1992, S.25). Die Verbindung von Römischem und Griechischem schlägt für Jensen eine Brücke zu der verschütteten Stadt Pompeji, die ihm  als Symbol für sein Lebensthema so willkommen ist.

Und wenn Freud „uns“  den „eigentlichen“ Namen der ‚Gradiva’ „enthüllen“ wollte, dann hätte er sie eindeutiger als eine der „Agrauliden“ vorstellen sollen. Denn als eine von ihnen „durfte man“ sie erkennen.

Jensens Inspiration durch Hausers Wissen wird auch nahegelegt durch die Benennung als ‚Gradiva’, als ‚Vorschreitende’, der seine Bestimmung zusätzlich dadurch gewönne, dass sie an erster Stelle der Dreiergruppe daherschreitet. Und gerade die Dreiheit in den (Frauen)Gestalten des durch Friedrich Hauser bekannt gemachten Reliefs erinnert an die drei Begegnungen, die Norbert mit dem „Geist“ der ‚Gradiva’ erlebt. Die Dreiheit setzt sich darin fort, dass bei den drei Begegnungen jeweils drei verschiedene Blumen – Mohn, Asphodelos, Rosen – ins Spiel kommen.

Jensens Jugendliebe hat einen klaren Bezug zu den Horen, den Gottheiten der Vegetation. Die voranschreitende Hore (im Besitz von Münchens Glyptothek) ist mit dem Attribut der Ähre versehen. Dass ein Knabe mit seiner ersten Kindheitsfreundin immer wieder neugierig die Pflanzenwelt erforscht, das ist Thema in etlichen seiner Werke (z.B. „Der goldene Vogel“, „Der rote Schirm“, „Der verwunschene Garten“ u.a.). Somit war ‚Gradiva’ natürlich für Jensen auch eine „Göttin der Vegetation“.

Die drei Horen stehen noch mit einer anderen Dreiheit in Verbindung, den drei Chariten (vgl. Brockhaus). Eine der Chariten heißt „Aglaya“ = „der Glanz“. Im Namen „Bertgang“ = „die im Schreiten Glänzende“, kommt dieser Glanz zum Beispiel wieder zum Tragen. Aglaya ist auch der Name eines Schmetterlings. Eine junge Frau dieses Namens, in die sich der Erzähler verliebt, kommt z.B. in dem Roman „Die Namenlosen“ vor. Schmetterlinge tauchen in Jensens Werken immer wieder im Zusammenhang mit einer Frau auf (in der Gradiva: Eine Kleopatra). Es bringt eventuell deren Wandlung zum Ausdruck – von der mädchenhaften Spielgefährtin zur begehrten Frau. Es symbolisiert ihre Zerbrechlichkeit, Zartheit, Kurzlebigkeit. Und es steht für ihre Sonnenbedürftigkeit – als Symbol des Wunsches nach Lebenswärme.

Die Gestalt der ‚Gradiva’ ist die von Horen und Agrauliden am besten erhaltene Figur des Reliefs, so gut wie gar nicht beschädigt. So ist Jensen wohl auch der Eindruck seiner allerersten Freundin am „vollkommensten“ erhalten geblieben. Dabei unterscheidet die „Keuschheit“ die Agraulide von der Hore: „Sie, die den nächtlichen Tau bringen, hüllen sich dicht in Gewänder; bloße Arme wie bei den Horen würden ihnen nicht anstehen. … bei wenig Schöpfungen der antiken Kunst wird den Betrachter der Eindruck absoluter Vollendung übermannen, wie bei dieser mit sittig gebeugtem Haupt dahinschreitenden Mädchengestalt“ (Hauser, S.87). Die „Keuschheit“ spiegelt sich wiederum in ihrer Benennung als ‚Atalanta’ bei der ersten Begegnung Norberts mit dem Geist der ‚Gradiva’. „Keuschheit“ ist sicherlich ein wesentliches Merkmal der Beziehung Jensens zu seiner Kindheits-Freundin, der er noch nicht einmal am Totenbett seine Liebe gestehen konnte.

Dass die Agraulide ‚Gradiva’ der „Gottheit des befruchtenden Taus“ entspricht, passt dabei auch bestens in Jensens Bild: Sein Kindheitsschwarm ist für ihn der befruchtende Tautropfen erster Liebe. Und sie ist für ihn auch die ‚Gradiva’, die „Vorschreitende“, der Jensen am 24. November 1911 hinterher schreitet. Auch wir werden ihnen noch nachfolgen.

Das Verständnis des Gesamtzusammenhangs des Gradiva-Reliefs, wie es durch Friedrich Hauser dargelegt wurde, fließt also in vielfältigen Facetten in Jensens Novelle mit ein. Kunstvoll verwoben laufen in dem einen Bruchstück eines Reliefs die Assoziationen Wilhelm Jensens zusammen. In diesem wunderschönen Märchen bringt er in leichter und heiterer Weise seine Lebenserfahrungen in bilderreiche Sprache zum Ausdruck, gibt er eine kurze Zusammenfassung seiner Liebes- und Leidensgeschichte.

Hätte er gewollt, so hätte er wohl all dies Freud mitteilen können. Aber von Besserwissern hatte Jensen „die Nase voll“: Für den Umgang mit ihnen hatte er sich seine Strategie zurecht gelegt: „Die prinzipiellen Besserwisser, die sich ein Metier daraus machen, jedes Dichtwerk, ohne auf die Intention des Dichters einzugehen, in blutige Fetzen zu zerreißen, stoßen mit Recht bei Jensen auf einen Mann, der gleichgültig an ihnen vorüberschreitet“ (Erdmann, 1907, S.106).

Verliebtheit in die Schwester

„Geschwisterliche Liebe“ ist ein Thema, das in Jensens Texten wiederholt auftaucht. Bei ihm ist jedoch klar auszuschließen, dass dabei reale Inzestneigungen zum Ausdruck kämen, da er ja geschwisterlos aufgewachsen ist. Es war für Freud natürlich eine herbe Enttäuschung, dass sich seine Unterstellung einer solchen inzestuösen „Perversion“, über die er mit Vorliebe spekuliert und die er gerne seinen Mitmenschen unterstellt hat (vgl. Ödipuskomplex), bei Jensen als völliges Hirngespinst erwiesen hatte: Er hatte keine Schwester. Es hat den Meister der „Tiefenpsychologie“ i. d. R. zutiefst beleidigt, wenn seine vermeintlich tiefgründigen Analysen von den Betroffenen als Unsinn verworfen wurden (vgl. auch den Fall ‚Dora’). Freuds gewöhnliche Reaktion auf ein solches Echo: Die betreffenden Personen wurden abgewertet; dabei scheute er auch vor Lüge und Verdrehung der Wahrheit nicht zurück.

Welche andere Erklärung lässt sich aber für das wiederholte Auftauchen des Motivs der „Geschwisterliebe“ bei Jensen finden?

In der Novelle „Der rote Schirm“ zitiert Jensen ein Gedicht Hölderlins, in dem dieser die Liebe zu „Diotima“ besingt, der früh verstorbenen Gattin seines Arbeitgebers, des Bankiers Gontard. „Diotima! Edles Leben! Schwester, heilig mir verwandt!“ (Jensen, 1892, S.61). Bei Hölderlin war „geschwisterliche Liebe“ wohl symbolisch zu betrachten, als Ausdruck einer Liebe, die der Betroffene als sehr vertraut erlebte, als stammte sie aus „der Kindheit stille Tage“ (Hölderlin, in Jensen, a.a.O.).

Aus den Geschichten Jensens mit diesem Thema spricht immer wieder eine große Sehnsucht, den unerträglichen Zustand des Auseinandergerissen-Seins einer solchen Liebe aufzuheben. Darin kommt die Verbundenheit Jensens mit seiner Jugendliebe zum Ausdruck, der er über den Tod hinaus eine lebenslange Treue bewahrt hat. (In gewisser Weise kommt eine solche Haltung auch in dem Wunsch Friedrich Hausers zum Ausdruck, dass die über drei Städte verstreuten Bruchstücke des Reliefs wieder vereint würden.)

Freuds Gefolgsleute haben sich immer wieder gegenseitig darin zu übertreffen versucht, Freuds Entwertungen fortzuschreiben und auszuschmücken. Im Fall von Wilhelm Jensen ist dies hier nachzulesen. Neben Freud selbst kommen Bernd Urban, Johannes Cremerius, Octave Mannoni, Ernest Jones und andere zu Wort.

Und hier geht’s zurück zum Beginn der Ausführungen über Norbert Hanold und Wilhelm Jensen, nebst Verweisen zu den einzelnen Kapiteln und der Literaturangabe. Zum vorigen Kapitel über Friedrich Hauser lässt sich noch einmal hier gelangen.