Friedrich Hauser

… & die ‘Gradiva’

In einer archäologischen Fachzeitschrift veröffentlicht Friedrich Hauser im Jahr 1903, im Erscheinungsjahr der ‚Gradiva’, seine Überlegungen, wonach verschiedene Bruchstücke von Reliefs sich zur römischen Kopie eines griechischen Altarrelief aus Attika zusammensetzen ließen. Die Bruchstücke seien zu verschiedenen Zeiten in Rom ausgegraben worden und nun verstreut in Museen von Rom, Florenz (Uffizien) und München, dem damaligen Wohnort Wilhelm Jensens. Das Bruchstück mit der „Gradiva“ befand sich in Rom.

Die eine Platte zeigt die drei Agrauliden, an deren erster Stelle die ‚Gradiva’ „vorschreitet“. Diese drei Göttinnen des Taus zeichnen sich durch besondere Keuschheit aus. Es wird u.a. von ihnen berichtet, dass sie das Kind großgezogen hätten, das bei dem Versuch des Hephaistos entstanden ist, Athene zu vergewaltigen.

Eine zweite Platte stellt die drei Horen dar, die Töchter des Zeus, die die drei Jahreszeiten verkörpern – also die Vergänglichkeit der (Jahres)Zeit. Sie verkörpern auch eine ethische Bedeutung: „Gesetzliche Ordnung“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ (Brockhaus: Horen).

Die voranschreitende Hore befand sich in Münchens Glyptothek und könnte Jensen von dort her bekannt gewesen sein. Sie stellt quasi das Pendant zu der „vorschreitenden“ Agraulide ‚Gradiva’ dar.

In seinem Artikel bringt Friedrich Hauser den Wunsch zum Ausdruck, man möge die zusammengehörenden Stücke der Reliefs wieder verbinden.

Er selbst hatte die zwei Platten jeweils zu einem einzigen Gipsabdruck zusammenfügen lassen. Die unten folgenden Abbildungen dieser Platten wurde 1906 im Münchner Verlag Brunn und Bruckmann veröffentlicht:

Da einiges Wissen aus dem Artikel Hausers in Jensens Novelle eingeflossen ist, gehe ich davon aus, dass Wilhelm Jensen diesen Artikel gekannt hat. Der Text müsste dann allerdings bereits im Januar 1903 (oder früher) erschienen sein. Oder Jensen müsste vor der Publikation vom Inhalt erfahren haben. Jensen hat sich für Abgüsse antiker Bildhauerarbeiten interessiert. Er berichtet, er habe selbst Abgüsse des ‚Gradiva’-Reliefs von August Honorat Nanny (1835-1905) aus München besessen. Gut denkbar, dass das Wissen um Hausers Ideen bereits vor 1903 in Münchens Fachkreisen (z.B. Nanny) kursierte – und darüber womöglich an Jensen gelangte. In München befand sich immerhin ein Teil des Gesamtreliefs; und ein Münchner Verlag besorgte – s. o. – später die Publikation der Bilder.

Auf der Grundlage dieser Ausführungen möchte ich nun im folgenden Kapitel weitere Deutungsaspekte der Novelle ‚Gradiva’ aufzeigen.

Und hier geht’s zurück zum Beginn der Ausführungen über Norbert Hanold und Wilhelm Jensen, mit den Verweisen zu einzelnen Kapiteln nebst der Literaturangabe, während hier das vorige Kapitel über erste alternative Deutungsansätze der Erzählung nachzulesen ist.