Deutung I

Ansätze einer alternativen Deutung

Als Jensen die Novelle ‚Gradiva’ schreibt, ist er sechsundsechzig Jahre alt. Im Alter, der „Abendsonne“, betrachtet er dieses Relief noch einmal im „richtigen Lichtauffall“. Das Fehlen seiner Eltern war für ihn zweifellos eine erste große Verlusterfahrung gewesen. Dieses Trauma ist durch den Tod seiner Jugendliebe erneut nachhaltig berührt worden. Deshalb hat er wohl ganz besonders an ihr festgehalten.

In der ‚Gradiva’ verarbeitet Jensen, wie sich die Erinnerung an die geliebte junge Frau durch zwei weitere wichtige Beziehungen seines Lebens zieht. Seiner ersten Liebe bewahrt er bis in den Tod hinein seine Treue. In dem ‚Pompejanischen Phantasiestück’, das er in kürzester Zeit – eine längere Arbeit unterbrechend – niederschreibt, hat er der gemeinsamen Lebensgeschichte noch einmal ein Denkmal gesetzt.

Pompeji war der Venus, der Göttin der Liebe geweiht. Die bei einem plötzlichen Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n.Chr. „konservierte“ Stadt ist ein einzigartiges Symbol für die Lebendigkeit des Vergangenen. Die materielle Substanz der Menschen ist zwar verlorengegangen, aber durch Gipsausgüsse der Aussparungen in der Asche konnten sie zu „neuem Leben“ erweckt werden. Unter anderem sei auf diese Weise – so die Novelle, und auch der Realität  entsprechend – der Abdruck zweier Verliebter entstanden, die sich noch im Tod fest umarmten. Für Jensen ist dies ein schönes Symbol, um seinem Lebensthema Ausdruck zu verleihen. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit seiner Jugendfreundin hat Bestand über ihren Tod hinaus – wie der Gipsausguss des Liebespaares in Pompeji.

Mir scheint übrigens typisch, dass Jensen – inmitten eines überaus erfüllten Familienlebens – immer wieder in die Melancholie seiner Erinnerung an die verstorbene Jugendfreundin abgetaucht ist. Eines seiner Gedichte beschreibt einen solchen Prozess aus meiner Sicht besonders eindringlich: Fern hinüber (in: Aus wechselnden Tagen, 1878, S. 137 ff).

Die ersten Begegnung Hanolds mit dem vermeintlichen „Geist“ entspricht wohl der Begegnung mit der früh verstorbenen Kindheitsfreundin Clara Witthöfft.

Clara Witthöfft (1838-1857) und Julie Stammann (1863-1901)

Das zweite Rendezvous in den Ruinen entspricht wohl ebenfalls einer Begegnung, die mit dem Tod der jungen Frau geendet hat: Der Jensen-Biograph Gustav Adolf Erdmann erwähnt ausdrücklich (S. 80 f, 85) eine Sophie Alexandrine Stammann (geb. Valé), geboren am 12.01.1838. Von Bedeutung mag dabei gewesen sein, dass die einzige Tochter von Sophie Stammann, Julie (geb. am 8. März 1863), m.E. eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Clara Witthöfft aufgewiesen hat. Eine Fotografie von Julie Stammann in Jensens Besitz scheint mir wie ausdrücklich angefertigt, um das Abbild von Jensens Jugendliebe nachzuempfinden. Ich glaube, dass Wilhelm Jensen sich der Hamburgerin – quasi als einem erwachsenen Ebenbild seiner Jugendliebe – besonders verbunden gefühlt hat. Womöglich hat dies auf der Gegenseite andere Sehnsüchte geweckt. Meiner Vermutung nach beziehen sich die beiden Gedichte “Ein Räthsel” (Nr. 1 und Nr. 2) auf Sophie Stammann. Womöglich hat sich Jensen schließlich bewusst eine sehr große Distanz zwischen sich und Sophie Stammann gebracht, als er Anfang 1876 von Kiel nach Freiburg verzog. (Sophie Stammann stirbt am 29. August 1876.) Der Umzug war mit Wilhelm Jensens gesundheitlichen Problemen begründet worden. Mag sein, dass seelischer Stress zu psychosomatischen Beschwerden geführt hatte. In seinem Roman „Metamorphosen“ (1883) beschreibt Jensen die Situation eines Mannes in einer ähnlichen Konfliktlage. In der Novelle „Unter den Schatten“ (1881) wird die Liebe des Erzählers zu Margot de St. Vallier (vgl. den Familiennamen von Sophie Stammann: Valé) beschrieben – als Liebe zu einer Frau, die eigentlich einem anderen Mann verbunden ist, und die stirbt, ohne dass sich die Beziehung wirklich entwickelt hätte. In dem Roman „Flut und Ebbe“ (1877) wird von einer Frau Assmann (Ass-Ast-Stamm) erzählt, verheiratet mit einem herzlosen Kaufmann, die sich auf die Affäre mit einem Offizier einlässt, dabei schwanger wird, und in ihrer Schande einen Suizidversuch unternimmt.

Die dritte Begegnung mit dem Geist der ‚Gradiva’ entspricht wohl der Begegnung mit Marie Brühl im Jahre 1864. Aus der 1865 geschlossenen Ehe gehen sechs Kinder hervor, von denen zwei Knaben das erste Lebensjahr nicht überleben. An dem einen Sohn und den drei Töchtern hängt Wilhelm Jensen mit ganzem Herzen. Als die Kinder das Elternhaus verlassen, da ist er jedes mal zutiefst bewegt (Erdmann, S.97 ff), was sich zum Beispiel in seinen Gedichten niederschlägt („Meines Kindes Trauring“, „Nach der Hochzeit“, Jensen, 1897, S.51 f). Als er das letzte mal an Freud schreibt, am 14. Dezember 1907, erfreut er sich gerade am Besuch von Kindern und Enkelkindern und bereitet das Weihnachtsfest vor.

Als nächstes möchte ich darstellen, wie der Artikel eines Archäologen (Friedrich Hauser, in den Jahresheften des Österreichischen archäologischen Instituts, Wien, 1903) vermutlich den wesentlichen Anstoß für Jensens Erzählung gegeben hat. Hauser hatte verschiedene Reliefbruchstücke, die sich in verschiedenen Städten verstreut fanden (Berlin, Florenz, Rom und München¸ der damaligen Wahlheimat Jensens) in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht. Das Reliefbruchstück der ‚Gradiva’, das sich in Rom befand, hatte Jensen als Gipsabguss in mehreren Exemplaren besessen. Zu diesen Ausführungen geht’s hier.

Und hier geht’s zurück zum Beginn der Ausführungen über Norbert Hanold und Wilhelm Jensen, mit Verweisen zu den einzelnen Kapiteln nebst Literaturangaben. Zum vorigen Kapitel über Wilhelm Jensens Lebensgeschichte ist hierüber zu gelangen.