Breuers Entwertung

… bzw. die Entwertungen der Behandlung von Bertha Pappenheim

Breuers Unschuld in Bezug auf diverse Unterstellungen

Allgemeine Entwertungen

Berichte von der Behandlung Bertha Pappenheims durch Josef Breuer aus zweiter Hand haben häufig diffamierenden Charakter:

*** Es wird erzählt, Bertha Pappenheim habe am Ende der Behandlung eine Scheinschwangerschaft inszeniert, durch die Breuer so irritiert worden sei, dass er fluchtartig die Kranke verlassen habe. Diese Geschichte hat Freud in die Welt gesetzt; er beruft sich dabei ausdrücklich nicht auf Breuer („Er hat mir hievon nie direkte Mitteilung gemacht“; Freud 1914/1949, 49), sondern hat sie immer als eigene Rekonstruktion deklariert (Hirsch­müller, 171 ff.). Freud hatte eine Neigung zu vorschnellen Schlussfolgerungen. Insofern sind seine Hirngespinste mit größter Vor­sicht zu genießen. Andere (z.B. Ernest Jones) haben sie aufgegriffen, ausgeschmückt und zum Tatsachenbericht stilisiert.

*** Breuer habe sich gescheut, in seinen Behandlungen das Kapitel ‚Sexuali­tät‘ anzuschneiden. Die Lektüre von beispielsweise seinem Beitrag zu den Studien über Hysterie belehrt eines Besseren (vgl. auch Israëls, 130 ff.).

*** Josef Breuer habe nach Beendigung der Behandlung von Bertha Pappenheim nie wieder jemanden psychotherapeutisch behandelt. Albrecht Hirschmüller verweist – bei ohnehin nur spärlich vorhandenem Archiv­ma­te­rial – auf mehrere Berichte Breuers über psychisch belastete Patientinnen, datierend von 1881 bis 1912 (183 ff.).

*** Wegen der engen Beziehung Bertha Pappenheims zu Josef Breuer habe dessen Gattin – so die Enthüllungen von Mikkel Borch-Jacobsen (97 ff.) – einen Selbstmordversuch unternommen, der Breuer zum Abbruch der Behandlung gedrängt habe. Eine solche Geschichte ist natürlich denkbar. Jedoch existiert darüber lediglich eine Notiz aus dritter Hand, fast 50 Jahre nach dem angeblichen Vorfall: Marie Bonaparte notiert am 16.12.1927 in ihr Tagebuch, Freud habe ihr diese Geschichte über Breuer erzählt. Damit ist auch diese Behauptung nicht besser gesichert, als die übrigen, zum Teil auf Freud selbst zurückgehenden Legenden.

*** Durch Josef Breuer sei die Patientin chloral- und morphinabhängig geworden (Borch-Jacobsen, 30): „Doktor Laupus [der betreuende Arzt während Berthas Aufenthalt in Kreuzlingen] … stellte trocken fest, daß Bertha Pappenheim seit sechs Monaten an einer ernsten ‚Trigeminusneuralgie’ litt, die ihrerseits zur Gewöhnung an hohe Dosen von Morphium geführt hatte, die Breuer ihr verordnete, um den Schmerz zu lindern (Breuer verabreichte ihr auch Chloral, um ihr das Schlafen zu erleichtern).“ Und im Zusammenhang mit der angeblichen Scheinschwangerschaft von Bertha Pappenheim (41 f.): „Falsch ist ebenso, daß Breuer zur Beruhigung die Hypnose eingesetzt haben soll: In solchen Fällen war es seine Gewohnheit, Morphium- oder Chloralinjektionen zu verabreichen.“ An diesen ebenso boshaften wie falschen (wie ich zeigen werde) Darstellungen anknüpfend, gelangt Borch-Jacobsen zu folgender Diffamierung (ebd., S. 33 f.): „Bertha Pappenheim [hatte] … zu Beginn der 1890er Jahre eine Reihe von literarischen und philanthropischen Tätigkeiten aufgenommen […], die sie zu einer Pionierin des Feminismus und der Sozialarbeit in Deutschland machen sollten. Ohne diese unverhoffte Genesung, die sich in keinster Weise der talking cure verdankt*, wäre es offensichtlich unmöglich gewesen, die Fallgeschichte in ein happy end münden zu lassen (zu vielen Menschen in Wien war die eigentliche Identität von Fräulein Anna O. bekannt.)“ Und an der mit * bezeichneten Stelle verstärkt der Autor in einer Fußnote seine Position mit dem einleitenden Satz: „Ich beharre auf diesem Punkt, der von den Verteidigern der Psychoanalyse trotz seiner Augenscheinlichkeit weiterhin systematisch ausradiert wird.“ Borch-Jacobsens Polemik steht dabei nicht nur im Widerspruch zu der Schilderung von Josef Breuers Persönlichkeit und seiner Vorsicht, mit der er massiven körperlichen Eingriffen (Operationen, Medikationen) gegenüberstand, sondern auch zu den Dokumenten.

Wer verordnete Bertha Pappenheim Chloral und Morphin?

Da mir Josef Breuers Beitrag zur Psychotherapie schwerer psychosomatischer und dissoziativer Störungen sehr am Herzen liegt, möchte ich mich gerade mit dem letzten Punkt eingehender auseinandersetzen. Wer hat Bertha Pappenheim Chloral und Morphin verordnet? Wie lässt sich die Darstellung der oben geschilderten Behandlungsprinzipien und -erfolge Breuers in Übereinstimmung bringen mit der später fortgesetzten Behandlung?

Albrecht Hirschmüller hat bereits 1978 die im Kreuzlinger Archiv entdeckten Schriften zur Krankengeschichte von Bertha Pappenheim erstmals veröffentlicht. Es handelt sich dabei u.a. um mehrere Briefe Breuers an Robert Binswanger, den leitenden Arzt in Kreuzlingen, datierend

A      vom 04. November 1881 (365),

B      von (unkonkret) Mitte Juni (circa 13.-16. Juni) 1882 (366),

C      vom 19. Juni 1882 (jedenfalls nach B) (367),

sowie um zwei Krankengeschichten, davon

D      eine eigenhändige Kurzfassung von (unkonkret) Ende Juni (unmittelbar nach dem 19. Juni) 1882, brieflich angekündigt in C (367-369), sowie

E      die Abschrift einer von Breuer anscheinend Anfang Juli 1882 zugänglich gemachten ausführlichen Krankengeschichte, die leider mitten im Text abbricht. Sie ist durch einen Bericht über den Verlauf der Behandlung in Kreuzlingen (12. Juli – 29. Oktober 1882) durch den behandelnden Arzt Dr. Laupus ergänzt (348-364).

Dieses Material soll zunächst ein wenig ausführlicher gesichtet werden.

Bereits Anfang November 1881 hat es offenbar Bemühungen gegeben, Bertha Pappenheim in einem Sanatorium in Kreuzlingen unterzubringen. Der Brief Breuers vom 04.11.1881 (A) besteht in einer diesbezüglichen Anfrage an den leitenden Arzt, Robert Binswanger. Mehr als ein halbes Jahr später, als sich diese Pläne konkretisieren, äußert sich Josef Breuer gegenüber demselben Adressaten, Mitte Juni 1882 (B), über Bertha (366): „[Sie] bekommt täglich 0.08-0.1 Morphin injicirt. Meine Krankengeschichte wird mich darüber entschuldigen. Hier führe ich die Entwöhnung mit ihr nicht durch, trotz ihres sehr guten Willens, weil ich bei ihrer Umgeb[un]g jedem Aufreg[un]gszustand ihrerseits gegenüber macht­los bin. Seit 1 Jahr bekömmt sie ausserdem Abends Chloral (wie Sie sehen, liegt ein wesentliches Schuldmass anscheinend auf meinem Haupt).“ Es entspricht nach Breuers eigenen Worten einem – womöglich trügerischen – Anschein, dass die Verantwortung für diese Medikation auf seinem Haupt liege.

Schon einem kürzeren Arztbericht, der diesem Brief einige Tage später folgte (D), lässt sich entnehmen, dass für die Chloral-Verordnung Breuer NICHT zuständig war. Dort heißt es (368): „Seit der Verbringung nach Inzersdorf vor einem Jahre hat Pat[ientin] Abends Chloral bekommen, 2.5-3.00, welches in den letzten Monaten auf 4.00 stieg (!). Jetzt schläft sie, wenn nichts besonders aufregendes vorkömmt, mit 1.5-2.00, immer aber auch bei grossen Dosen erst ziemlich spät, nach einem mehr [vermutlich zu ergänzen: oder; K.S.] minder starken Excitationsstadium.“ Hier wird also die Chloral-Gabe mit der Verbringung nach Inzersdorf am 7. Juni 1881 in Verbindung gebracht. Bertha Pappenheim war dort in unmittelbarer Nähe einer Klinik einquartiert und stand dort unter der Obhut eines Dr. Breslauers. In der ausführlichen Krankengeschichte (E), die den gerade zitierten Schreiben wenige Tage später folgte, konkretisiert Breuer, wie es zu dieser Medikation gekommen war (359): „(Bertha) wäre durchaus intractabel geblieben, wenn nicht Dr. Breslauer ihr Chloral gegeben hätte. Dieses hatte ich bis dahin etwa 3 oder 4 mal gethan und bis zu 5 Gramm geben müssen, um Schlaf zu erzielen. Diesem voran ging auch bei der großen Menge ein stundenlanger Rauschzustand, der heiter, wenn ich oder Dr. Breslauer dabei war, in die größte Angst und Aufregung umschlug, wenn man fort­ging.

Auch in den Studien von 1895 nimmt Breuer ausdrücklich Stellung zur Verabreichung von Chloral an seine Patientin. Im Anschluss an eine Schilderung, wie er Bertha zu beruhigen verstanden hatte, stellt er fest (Studien, 51): „In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, mußte man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, mußte aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Kontraktur.) Ich hatte die Narkotika vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, daß man doch zum Chloral Zuflucht nehmen mußte; allmählich brauchte sie auch weniger davon.

Aus Breuers glaubhaften Angaben ergeben sich folgende Fakten:

Er selbst hatte das Chloral während seiner Behandlung (November 1880 bis Juni 1881) ausprobiert, jedoch nach 3 oder 4 mal abgesetzt, weil er erkannte, dass auch hohe Dosen nicht die gewünschte Wirkung erziel­ten, sondern zusätzliche Probleme schufen.

Das Chloral wurde erst seit Berthas Verbringung nach Inzersdorf (Juni 1881) von Dr. Breslauer (E) als Dauermedikation verabreicht.

Es ist eindeutig, dass Josef Breuer nicht für die fortgesetzte Chloral-Gabe verantwortlich zeichnet. Breuers Erklärung zu Beginn seines Anschreibens an Binswanger (B) – „wie Sie sehen, liegt ein wesentliches Schuldmass anscheinend auf meinem Haupt“ –, die wie eine Selbstanklage klingt, bedarf im Licht dieser Feststellung also einer Deutung. Und hier scheint mir nur eine Auslegung möglich zu sein: Josef Breuer möchte den Eindruck vermeiden, dass er Kollegenschelte betreibt. Anstatt von vornherein für diese verhängnisvolle ‚Therapie’ unmissverständlich Breslauer als Urheber zu benennen, nimmt er diese Angelegenheit erst einmal auf seine Kappe und erweckt bewusst – aus kollegialer Höflichkeitden Anschein, er selbst hätte die Medikation mit Chloral zu verantworten. Nichtsdestotrotz gibt er dem aufmerksamen Leser die Möglichkeit, sehr präzise den tatsächlichen Ablauf nachzuvollziehen. Breuer bemüht sich, den Kollegen bezüglich des im Nachhinein unübersehbar gewordenen Verhängnisses der Maßnahme zu entlasten (359): „[sie] wäre durchaus in­trac­tabel geblieben, wenn nicht Dr. Breslauer ihr Chloral gegeben hätte.

Zur Morphin-Injektion schreibt Breuer im kurzen Arztbrief von Ende Juni 1882 (D) ausdrücklich (368): „In den letzten Monaten hat die Kranke, nicht wegen ihrer sehr heftigen Neuralgien, sondern wegen stärksten Convulsionen, die von starker Chorea minor beginnend zu den schwersten Rollkrämpfen anstigen und jetzt völlig geschwunden sind, Morphininjectionen bekommen, und zwar bis zu ziemlich grossen Morphin-Mengen (0.15-0.20 pro die); sie ist jetzt auf 0.05-0.07 täglich, und wird die Morphium-Entziehung wahrscheinlich sehr leicht gehen, da Patientin es will.

Diese Darstellung widerspricht deutlich dem, was Borch-Jacobsen konstruiert: Doktor Laupus habe festgestellt, dass Bertha an einer Trigeminusneuralgie gelitten habe, die „zur Gewöhnung an hohe Dosen von Morphium geführt hatte, die Breuer ihr verordnete, um den Schmerz zu lindern“ (Borch-Jacobsen, 30). Laupus beginnt tatsächlich seinen Beitrag zu Berthas Krankengeschichte (nachdem Breuers Schilderung abbricht) mit dem Satz (E, 362): „Die somatischen Symptome waren kurz folgende: Die Bekämpfung einer im letzten Halbjahr exacerbirten linksseitigen Trigeminusneuralgie … hatte die Anwendung steigender Morphindosen erfordert“. (Laupus macht keine Angaben, von wem die Morphin-Medikation herrührt.) Die Reduktion der Gesichtsschmerzen ist – kaum verwunderlich – tatsächlich regelmäßig eine unmittelbare Folge der Morphin-Injektion. Aber dies ist eher ein Nebeneffekt. Das, was Breuer, der die Kranke viel länger und besser kannte, als Laupus, mit seiner obigen Darstellung von vornherein um einiges präziser beschrieben hatte, dass nämlich die Morphin-In­jek­ti­o­nen dazu dienten, quälende Krampfzustände aufzulösen, das geht dann auch aus dem Bericht von Laupus, nur eine Seite weiter, deutlich hervor (363): „Nach 14 Tagen wird die Abendgabe [des Morphin] versuchsweise weggelassen mit dem sofortigen Erfolge stetig sich steigernder chorea major in Hals- und Ober- und Unterextremitäten-Muskulatur, die sich stetig in Ausgiebigkeit der Convulsionen steigert, bis übrige Morphinmenge injicirt sofort Ruhe bringt.“ Auf derselben Seite berichtet Laupus ausführlich darüber, dass verstärkte Zuckungen und vor allem ein krampfhafter Verschluss des Augenlids jeweils nur mit Morphin unmittelbar erfolgreich beseitigt werden konnten.

Laupus bestätigt damit genau das, was Josef Breuer ausdrücklich betont hatte ((D), 368, s.o.). Breuer selbst scheint hervorheben zu wollen, dass nicht etwa aus Schmerzempfindlichkeit der Patientin das Morphium verabreicht worden war, sondern dass andere gewichtige Gründe dafür vorlagen, nämlich: Häufige „Rollkrämpfe“, die sich auf Gesicht, Arme und Beine ausdehnten, die durch Morphin unmittelbar und erfolgreich beseitigt werden konnten.

Wer das Morphin ursprünglich angesetzt hatte, ist aus den vorliegenden Dokumenten nicht zu ersehen. Breuer könnte dafür verantwortlich gewesen sein. Aber ich bin überzeugt, dass ebenso, wie das Chloral, auch das Morphin von Breslauer angeordnet war, und dass Breuer es später lediglich verabreicht hat, um die Probleme des Entzugs zu mildern.

Breuer schreibt in seinem Brief von Mitte Juni 1882 (B) an Binswanger: „Sehr geehrter Herr! Ich bitte Sie um Entschuldigung dafür, dass meiner telegr[aphischen] Anfrage um Platz für meine Kranke noch nicht die Anzeige ihrer Ankunft gefolgt ist. Ich hänge hier aber in peinlicher Weise noch im ungewissen. Der Psychiater, der die Kranke voriges Jahr hatte u[nd] sich unser aller höchstes[*] Zutrauen verdient hat, ist diese Woche verreist, und ohne ihn kann sich die Mutter nicht recht entschliessen. Ich könnte daher aus eigenem nicht wol über die Anfrage hinausgehen, deren Beantwort[un]g mir, mindestens für mich, meine Entschliess[un]g fixiert hat“ (366; das bei Hirschmüller hier [*] abgedruckte „höchstens“ hat sich, nach seiner persönlichen Auskunft, als Druckfehler eingeschlichen). Aus dieser Textstelle geht deutlich hervor, wie herablassend Berthas Mutter mit Josef Breuer umspringt: zunächst lässt sie ihn eine „telegr[aphische] Anfrage“ an Kreuzlingen richten, ob ein Sanatoriumsplatz frei sei. Dann möchte sie aber nicht ohne den gerade verreisten Breslauer eine Entscheidung treffen. Damit wird Breuer in eine nachrangige Position gestellt, die ihn mit der von ihm selbst als „peinlich“ empfundenen Situation konfrontiert, dass er, der um den Platz gebeten hatte, nun gar nicht autorisiert erscheint, die Patientin zu überweisen. Im Brief vom 19. Juni (C) klagt er erneut (367): „Entschuldigen Sie, verehrter Herr, die Herumzieherei, an welcher ich unschuldig bin.“ Offensichtlich ist also, dass ab dem Juni 1881 bis in den Juli 1882 hinein die Anweisungen Breslauers aus Inzersdorf („der Psychiater, der die Kranke voriges Jahr hatte“) für Berthas Mutter maßgeblich waren. Unter dessen Autorität wurde dann – im Grunde gegen Breuers Überzeugung – die fortgesetzte Verabreichung von Chloral angeordnet. Und Mitte Juni 1882 macht Berthas Mutter noch die Überweisung ihrer Tochter in die Klinik nach Kreuzlingen von Breslauers Zustimmung abhängig. Mir scheint es damit auch naheliegend, dass in dessen Verantwortung und auf dessen Veranlassung hin die Morphin-Medikation festgelegt wurde.

Leider ist das Ende von Breuers ausführlicher Krankengeschichte an Binswanger, die hierüber möglicherweise hätte Aufschluss geben können, nicht erhalten. Die in Kreuzlingen angefertigte Abschrift von Breuers Unterlagen bricht vorzeitig ab. (Nach Auskunft von Albrecht Hirschmüller existiert das Original von Breuers Arztbrief nicht. Selbst die originale Abschrift der Klinik in Kreuzlingen ist inzwischen entwendet worden.)

Eine andere Erklärung für die Morphin-Gabe könnte darin liegen, dass – nach einer Darstellung von Berthas Mutter in einem Brief an Binswanger vom 11.08.1882 – bei Bertha im Februar 1882 eine Kieferoperation vorgenommen worden war, die zu psychischen Reaktionen führte (375): „augenblicklich [trat] eine Sprachenmischung bei der Patientin ein, wo sie, ohne es zu wissen, alle ihr zu Gebote stehenden mit Ausnahme der Muttersprache 2 Tage lang gemischt redete.“ Vermutlich war diese Operation mit starken Schmerzen verbunden. Es wäre ja möglich, dass Bertha von dem Kieferchirurgen Morphin verabreicht bekommen hatte. Allerdings stellt Breuer ausdrücklich in seinem Schreiben von Ende Juni 1882 in Abrede, dass Schmerzen der Grund für die Morphin-Gaben gewesen seien: „die Kranke [hat], nicht wegen ihren sehr heftigen Neuralgien, sondern wegen stärksten Convulsionen, … Morphininjektionen bekommen“.

Breuer spricht hier nicht (wie auch in keinem der anderen Berichte jemals) davon, dass er selbst eine solche Injektion veranlasst habe, wie er es zumindest bei dem Chloral konstatiert hat, wobei er in diesem Fall klar unterstreicht, dass er es nach drei- bis viermaliger Gabe abgesetzt hatte. Obwohl die Morphin-Entwöhnung ein zentrales Problem bei der Einweisung in Kreuzlingen ist, lässt Breuer die Frage der ursprünglichen Verordnung dieser Medikation vollkommen offen. Lediglich mit der unbestimmten Formulierung in Brief (B) – „[Sie] bekommt täglich 0.08-0.1 Morphin inji­cirt. Meine Krankengeschichte wird mich darüber entschul­di­gen“ – begründet er den Anschein, er sei dafür verantwortlich. In demselben Brief konstatiert er, zwei Sätze später, seine „anscheinend“ bestehende Schuld wegen der Gabe von Chloral, die er – beim genauen Studium seiner wenige Tage später überlassenen ausführlichen Arztberichte (D & E) – nachvollziehbar nicht zu verantworten hatte. Vermutlich wollte er auch in Bezug auf das Morphin den Eindruck vermeiden, er betreibe Kollegenschelte. Statt dessen betont er im Arztbrief von Ende Juni 1882 (D) die Wirksamkeit der Maßnahme gegen die Krämpfe: sie seien durch die Morphin-Injektionen „jetzt völlig geschwunden“.

Bertha wird ab Mitte August 1881 wieder in Wien von Breuer betreut, er erlebt die Patientin dabei insgesamt in einem schlechteren Zustand. Die „Strumpfcaprice“ und die Trinkhemmung scheint er in dieser Zeit aufgelöst zu haben. Die genauen Abläufe der Behandlung und die Verantwortung für ihre Durchführung bleibt m.E. ein wenig im Dunkeln. Die Abschrift des ausführlichen Breuerschen Arztbriefes von 1882 umfasst insgesamt 21,5 Seiten, die von Breuer selbst stammen. (Auf weiteren 2,5 Seiten befinden sich Notizen des weiterbehandelnden Arztes in Kreuzlingen, Dr. Laupus.) 18 Seiten Breuers sind der Zeit vor Behandlungsbeginn, der Behandlung durch ihn bis Juni 1881 und der Zeit in Inzersdorf gewidmet. Die restlichen 3,5 Seiten beziehen sich auf Ereignisse seit Breuers Kontakt ab dem August 1881; die Schilderung bricht mit Erzählungen zu Berthas schlechtem Zustand Ende Dezember 1881 abrupt ab. Es wird z.B. kurz erwähnt, dass Bertha Anfang November zu ihrer Mutter in die Stadt gekommen sei. Die Abendhypnose durch Breuer scheint fortgesetzt worden zu sein, gleichzeitig aber auch offenbar die Verabreichung von Chloral, was – wie gezeigt – nicht mit der Zustimmung von Breuer erfolgte. Offenbar war also auch irgendeine andere medizinische Autorität in die Behandlung mit involviert. Im Juni 1882 beobachtet Breuer dann bei seiner Patientin ein heftiges Delirium, nachdem das Chloral 4 Tage lang abgesetzt worden war. Dass Breuer hier in der Schilderung der Umstände sehr vage bleibt – „als sie das [Chloral; K.S.] letzthin durch 4 Nächte, allerdings mit vielen anderen Aufreg[un]gen, nicht bekam, …“ (367) bzw. ein paar Tage später: „Als letzthin vor 10 Tagen durch 4 Nächte kein Chloral gegeben wurde“ (369) – unterstreicht für mich, dass Breuer selbst nicht für dieses Absetzen verantwortlich war, genauso wenig wie für die Verordnung [Endote 1]. Zur Vermeidung der Entzugserscheinungen scheint er dann selbst die Medikation auf niedrigst möglichem Niveau fortgesetzt zu haben. Er setzt in Bezug auf die Abgewöhnung jedoch vor allem auf den stationären Aufenthalt: „Hier führe ich die Entwöhnung mit ihr nicht durch, trotz ihres sehr guten Willens, weil ich bei ihrer Umgeb[un]g jedem Aufreg[un]gszustand ihrerseits gegenüber machtlos bin.“ Dass Breuer sich „bei ihrer Umgeb[un]g“ machtlos fühlt gegenüber ihrem Aufregungszustand, das unterstreicht ein weiteres mal, dass ihm bei Berthas Behandlung zu diesem Zeitpunkt die Hände gebunden sind.

Breuer scheint sch zu bemühen, noch vor Berthas Abreise nach Kreuzlingen, sich bezüglich der Morphingabe und des Chlorals um eine Reduktion zu bemühen. Mag sein, dass auch der Mutter jetzt das Verhängnis dieser Medikation deutlich wird, und sie nun bei Breuer wieder verstärkt um Hilfe nachsucht, damit er die Sache in den Griff bekomme:

Mitte Juni 1882: Morphin: „0.08-0.1
Chloral: „letzthin durch 4 Nächte abgesetzt“, in Folge: „delirium c[um] tremore

  1. Juni 1882:    Morphin: „restirende 0.05 Morphin
    Chloral: Keine Angabe

Ende Juni 1882: Morphin: „In den letzten Monaten … bis zu ziemlich grossen Morph[in]-Mengen (0.15-0.20 pro die). Sie ist jetzt auf 0.05-0.07 täglich“.
Chloral: „Seit der Verbringung nach Inzersdorf vor einem Jahr hat Pat[ientin] Abends Chloral bekommen, 2.5-3.00, welches in den letzten Monaten auf 4.00 stieg(!). Jetzt schläft sie, wenn nichts besonders aufregendes vorkömmt, mit 1.5-2.00, immer aber auch bei grossen Dosen erst ziemlich spät, nach einem mehr minder starken Excitationsstadium. Als letzthin vor 10 Tagen durch 4 Nächte kein Chloral gegeben wurde u[nd] Pat[tientin] zugleich intensive Aufreg[un]gen durchmachte, folgte dann ein starker Anklang an Delir[ium] c[um] tremore, allerdings mit anders begründeter Aufreg[un]g so gemischt, dass es nicht ganz leicht zu trennen war. Doch hallucinierte sie kleine Tiere, hörte Stimmen, hatte einige Neig[un]g zu Gewalttätigkeit, d.h. warf eine Flasche auf den Boden, u[nd] d[er]gl[eichen]. Ich glaube, dass dies vorbei ist, u[nd] auch die Chloral- wie die Morph[ium]-Entwöhnung (eines nach dem andern) relativ leicht gelingen wird.“ (368 f.).

Anfang Juli 1882: „Beim Eintritt [in die Klinik in Kreuzlingen] hatte jedoch Pat[ientin] sich des Chloralgebrauchs ganz begeben und auch die Injektionen auf 0.07-8 in 2 Dosen reducirt. … Beim Austritt erhielt Pat[ientin] … 0.07-0.1 Morphin in mehreren Gaben“ (Bericht Dr. Laupus, 362, 364).

Auch dieses Bemühen um ein rasches Reduzieren der Narkotika unter Breuers Obhut ist für mich ein Indiz, dass sie nicht ursprünglich in seiner Verantwortung verabreicht worden sind, sondern dass er diese Medikation lediglich zur Vermeidung von Entzugserscheinungen fortgesetzt hat, jedoch auf dem niedrigst möglichen Niveau.

In den Studien hatte Breuer auch – wie oben bereits zitiert – darauf hingewiesen (51): „Ich hatte die Narkotika vermeiden können“. Hätte sich Breuer an dieser Stelle allein auf das Chloral bezogen, so hätte er wohl korrekt formulieren müssen: „Ich hatte das Narkotikum vermeiden können …“. Ein weiteres Indiz dafür, dass Breuer beide „Narkotika“ – Chloral und Morphin – nicht zu verantworten hatte.

Die Relevanz der Narkotika-Abhängigkeit für die Pro­blematik der Hysterie hatte Breuer in seiner Veröffentlichung an zwei Stel­len ausdrücklich hervorgehoben. So schreibt er (Studien, S. 217): „Wenn die chemische Struktur des Nervensystems durch anhaltende Zu­fuhr fremder Stoffe dauernd abgeändert worden ist, so bedingt auch der Mangel an diesen Aufregungszustände, wie der Mangel der nor­malen Nährstoffe beim Gesunden; die Aufregung der Abstinenz von Narcoticis.“ Der Entzug von Betäubungsmitteln schafft also Aufregungs-Zustände, die – nach Breuers Auffassung – die Entstehung hypnoider Zustände begünstigen, was wiederum die Bildung ‚hysterischer’ Symptome fördert. Und an anderer Stelle (Studien, S. 268): „Wie entstehen diese akuten Hysterien? In dem bestbekannten Falle (Beob­achtung I) [Bertha P.] entwickelte sie sich aus der Häufung der Hypnoidattacken; in einem andern Falle (von schon bestehender, komplizierter Hysterie) im Anschlusse an eine Morphinentziehung. Meist ist der Vorgang ganz dunkel und harrt der Klärung durch weitere Beobachtungen.“ Breuer hat also zwischen der ursprünglichen ‚Hysterie’ Berthas und der durch Morphiumentzug überlagerten Entwicklung durchaus unterschieden. Nichtsdestotrotz hat­te er das Prinzip der Heilung gefunden, und damit, aus meiner Sicht, einen Meilenstein in der Entwick­lung der Psy­chotherapie gesetzt.

Es entsprach Breuers Wesen und seinem Ruf, bei seinen Kranken überaus vorsichtig im Einsatz massiver Mittel zu sein. Die Mutter von Bertha Pappenheim bemüht ihn, bei Robert Binswanger gegen eine Durchtrennung der Gesichtsnerven ihrer Tochter (zur ‚Behandlung’ von deren Neuralgie) zu plädieren (374 f.), die in Kreuzlingen offenbar zur Debatte stand. Ungefähr zwölf Jahre später argumentiert Josef Breuer gegenüber demselben Binswanger geradezu händeringend, keine Kastration an einer 25jährigen Frau bei deren ‚Hysterie’ vornehmen zu lassen (Hirschmüller, 1980, 164 ff.); Binswanger war offenbar gegenüber solch massiven Eingriffen nicht abgeneigt. Als Freud seinen Kollegen Fleischl zur Einnahme von Kokain zur Überwindung seiner Morphin-Sucht verführt hatte, war es Josef Breuer, der Fleischl (zumindest kurzfristig) wieder „in die Gewalt bekommen“ hatte (Freud, nach Israëls, 113). Bei Josef Breuer hatte Sigmund Freud – wie er in seinem Irma-Traum darstellt – auch Hilfe gesucht, als er mit fortgesetzten Sulfonal-Injektionen die zuletzt tödliche Vergiftung der Patientin Mathilde verschuldet hatte (Freud, 1899/1999, 176 f.).

Auch dieser Hintergrund lässt daran zweifeln, dass Josef Breuer für die Schlaf- und Betäubungsmittel-Abhängigkeit der Bertha Pappenheim (so die These von Borch-Jacobsen) verantwortlich gewesen sein könnte. Bezüglich der Chloral-Gabe lässt sich genau das Gegenteil belegen: Breuer hatte von sich aus eine solche Therapie schon sehr früh nicht nur als zwecklos, sondern als schädlich verworfen. Auch seine Verantwortung für die Morphingabe ist – entgegen einem ersten Anschein – in keinem der Dokumente positiv bekräftigt. Breuers Äußerung – „[Sie] bekommt täglich 0.08-0.1 Morphin injiziert. Meine Krankengeschichte wird mich darüber entschuldigen.“ – bedeutet wohl nicht mehr, als dass die junge Frau – von wem auch immer – im Laufe ihrer Krankengeschichte diesen Stoff injiziert bekommen hat, und dass Breuer wegen der entwickelten Abhängigkeit nicht umhin kam, diesen Stoff weiter zu verabreichen, als die Patientin wieder mehr in seiner Verantwortung behandelt wurde. Er musste diese Narkotika geben, um die bedrohlichen Auswirkungen des Entzugs zu mildern, wenngleich er sich in den wenigen Tagen um eine rasche und deutliche Reduktion bemüht hat.

Dass Josef Breuer im Zeitraum Juni 1881 bis Juli 1882 nicht mehr in erster Linie für Berthas Behandlung zuständig war, somit auch nicht für die Verordnung der Narkotika, entnehme ich auch indirekt einer Notiz des Freud-Biografen Ernest Jones (1960, 368), der die Beendigung der Behandlung von Bertha Pappenheim durch Josef Breuer in Verbindung gebracht hat mit einer „zweiten Hochzeitsreise“ Breuers, bei der die jüngste Tochter Dora gezeugt worden sei. Hirschmüller, der das Ende von Berthas Behandlung durch Breuer mit ihrer Abreise nach Kreuzlingen (Juli 1882) gleichsetzt, sieht diese Geschichte durch den Geburtstag Dora Breuers (11.03.1882; 173) widerlegt. Dieses Datum lässt sich aber sehr wohl vereinbaren mit dem, was aus den Dokumenten abzulesen ist, dass nämlich die maßgebliche Behandlung Berthas durch Breuer im Juni 1881 mit ihrer Überstellung in die Klinik von Inzersdorf beendet wurde – obwohl Breuer auch danach noch sporadischen Kontakt zu ihr hatte. Jedoch waren ab diesem Zeitpunkt offenbar vor allen die Anweisungen Breslauers maßgebend.

 

Endnote

[Endnote 1] Ich stelle mir vor, dass Breuer klar zum Ausdruck gebracht hätte, wenn er selbst das radikale Absetzen des Chlorals durchgeführt hätte, z.B.: „Als ich ihr letzthin durch 4 Nächte kein Chloral verabreicht hatte, …“

 

Hier befindet sich der Ausgangspunkt des Beitrages zu Josef Breuer, Bertha Pappenheim und Iwan Pawlow.

Hier geht es zu den Ausführungen zu Leben und Werk von Josef Breuer.

Hier finden sich Angaben zu Bertha Pappenheim und ihrer Behandlung durch Breuer.

Hier findet sich ein Exkurs zu dem russischen Physiologen Iwan Pawlow, dessen Überlegungen zum klassischen Konditionieren im Grunde spiegeln, was Breuer vorweggenommen hatte.

Hier gehe ich kurz auf einige zentrale Zusammenhänge zwischen Josef Breuer und Sigmund Freud ein.

Und schließlich werfe ich hier noch einmal die Frage auf, ob Josef Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim als erfolgreich gelten kann.