Gradiva

… & die Wahrheit über Norbert Hanold

Ist er ein fußfetischistischer Erotomane,
oder ein ganz normaler Mensch?

Norbert Hanold ist die Hauptperson in der wunderschönen Erzählung ‚Gradiva’ (1903) von Wilhelm Jensen. Sie findet sich abgedruckt in Freud (1992 bzw. 1995). Zunächst eine Kostprobe vom Beginn der Novelle:

Gradiva-Relief – Original in Rom

„Beim Besuche einer der großen Antikensammlungen Roms hatte Norbert Hanold ein Reliefbild entdeckt, das ihn ausnehmend angezogen, so dass er sehr erfreut gewesen war, nach Deutschland zurückgekehrt, einen vortrefflichen Gipsabguss erhalten zu können. Der hing nun schon seit einigen Jahren an einem bevorzugten Wandplatz seines sonst zumeist von Bücherständern umgebenen Arbeitszimmers, sowohl im richtigen Lichtauffall, als an der, wenngleich nur kurz, von der Abendsonne besuchten Seite. Ungefähr in Drittel-Lebensgrösse stellte das Bildniss eine vollständige, im Schreiten begriffene weibliche Gestalt dar, noch jung, doch nicht mehr im Kindesalter, andrerseits indes augenscheinlich keine Frau, sondern eine römische Virgo, die etwa in den Anfang der Zwanziger-Jahre eingetreten. Sie erinnerte in nichts an die vielfach erhaltenen Reliefbilder einer Venus, Diana oder sonstigen Olympierin, ebensowenig an eine Psyche oder Nymphe. In ihr gelangte etwas im nicht niedrigen Sinn Menschlich-Alltägliches, gewissermassen ‚Heutiges’ zur körperhaften Wiedergabe, als ob der Künstler, statt wie in unsern Tagen mit dem Stift eine Skizze auf ein Blatt hinzuwerfen, sie auf der Strasse im Vorübergehen rasch nach dem Leben im Thonmodell festgehalten habe. Eine hochwüchsige und schlanke Gestalt, deren leichtgewelltes Haar ein faltiges Kopftuch beinahe völlig umschlungen hielt. Von dem ziemlich schmalen Gesicht ging nicht das Geringste einer blendenden Wirkung aus. Doch lag ihm unverkennbar auch fremd ab, eine solche üben zu wollen; in den feingebildeten Zügen drückte sich eine gleichmütige Achtlosigkeit auf das umher Vorgehende aus, das ruhig vor sich hinschauende Auge sprach von voll unbeeinträchtigter leiblicher Sehkraft und still in sich zurückgezogenen Gedanken. So fesselte das junge Weib keineswegs durch plastische Formenschönheit, besass aber etwas bei den antiken Steingebilden Seltenes, eine naturwahre, einfache, mädchenhafte Anmut, die den Eindruck regte, ihm Leben einzuflößen. Hauptsächlich geschah dies wohl durch die Bewegung, in der sie dargestellt war. Nur ganz leicht vorgeneigten Kopfes, hielt sie mit der linken Hand ihr ausserordentlich reichfaltiges, vom Nacken bis zu den Knöcheln niederfliessendes Gewand ein wenig aufgerafft, so dass die Füsse in den Sandalen sichtbar wurden. Der linke hatte sich vorgesetzt, und der rechte, im Begriff, nachzufolgen, berührte nur lose mit den Zehenspitzen den Boden, während die Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporhoben. Diese Bewegung rief ein Doppelgefühl überaus leichter Behendigkeit der Ausschreitenden wach und zugleich eines sicheren Ruhens auf sich. Das verlieh ihr, ein flugartiges Schweben mit festem Auftreten verbindend, die eigenartige Anmut. Wo war sie so gegangen und wohin ging sie?“ (Jensen, 1903, S.1-3).

Norbert Hanold benennt die dargestellte junge Frau für sich ‚Gradiva’, ‚die Vorschreitende’, abgeleitet von dem Beiwort des zum Kampf ausziehenden Kriegsgottes, Mars Gradivus. Er hat die lebendigste Phantasie, dass diese junge Frau in Pompeji gelebt hätte. Bis ins Detail kann er sich ausmalen, wie sie dort durch die bunten und belebten Straßen gegangen ist. In ihm entsteht ein nachhaltiges Interesse zu überprüfen, ob eine lebendige Frau die „Gangart“ jener geheimnisvollen Gradiva teile.

„… und Norbert war sich auch bewusst, etwas Anderes, und zwar in seine Wissenschaft Fallendes sei’s, was ihn zu so häufiger Beschäftigung damit zurückkehren lasse. Es handelte sich für ihn um eine kritische Urtheilsabgabe, ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe. Darüber vermochte er nicht ins Klare zu gelangen, und seine reichhaltige Sammlung von Abbildungen antiker plastischer Werke verhalf ihm ebenfalls nicht dazu. Ihn bedünkte nämlich die fast senkrechte Aufstellung des rechten Fusses als übertrieben; bei allen Versuchen, die er selbst unternahm, liess die nachziehende Bewegung seinen Fuss stets in einer weit minder steilen Haltung; mathematisch formulirt, stand der seinige während des flüchtigen Verharrungsmomentes nur in der Hälfte des rechten Winkels gegen den Boden, und so erschien’s ihm auch für die Mechanik des Gehens, weil am zweckdienlichsten, als naturgemäss. Er benützte einmal die Anwesenheit eines ihm befreundeten jungen Anatomen, diesem die Frage vorzulegen, doch auch der war zur Abgabe eines sicheren Entscheides ausser stande, da er nie Beobachtungen in dieser Richtung angestellt hatte. Die von dem Freunde an sich selbst gewonnene Erfahrung bestätigte er wohl als mit seiner eigenen übereinstimmend, wusste indess nicht zu sagen, ob vielleicht die weibliche Gangweise sich von der männlichen unterscheide, und die Frage gelangte nicht zu einer Lösung. Trotzdem war ihre Besprechung nicht ertraglos gewesen, denn sie hatte Norbert Hanold auf etwas ihm bisher nicht Eingefallenes gebracht, zur Aufhellung der Sache selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen. Das nöthigte ihn allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Thun; das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor oder Erzguss gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste Beachtung geschenkt. Aber sein Erkenntnisdrang versetzte ihn in einen wissenschaftlichen Eifer, mit dem er sich der von ihm als nothwendig erkannten eigenthümlichen Ausforschung hingab. Diese zeigte sich in dem Menschengedränge der Grossstadt durch viele Schwierigkeiten behindert, liess ein Ergebniss nur vom Aufsuchen minder belebter Strassen erhoffen. Doch auch hier machten zumeist lange Kleider die Gangart völlig unerkennbar, hauptsächlich trugen nur die Dienstmägde kurze Röcke, konnten jedoch mit Ausnahme einer geringen Minderzahl schon wegen ihres groben Schuhwerks für die Lösung der Frage nicht wohl in Betracht fallen. Trotzdem fuhr er beharrlich in seiner Auskundung fort, bei trockener, wie bei nasser Witterung; er nahm gewahr, dass die letztere noch am ehesten Erfolg verheisse, da sie die Damen zum Aufraffen der Kleidsäume veranlasse. Unvermeidlich musste mancher von ihnen sein prüfend nach ihren Füssen gerichteter Blick auffallen; nicht selten gab ein unmutiger Gesichtszug der Betrachteten kund, sie sehe sein Behaben als eine Keckheit oder Ungezogenheit an; hin und wieder, da er ein junger Mann von sehr einnehmendem Aeussern war, drückte sich in ein paar Augen das Gegentheil, etwas Ermutigendes aus, doch kam ihm das eine so wenig zum Verständniss wie das andere. … seine Wahrnehmungen [bereiteten] ihm einen Verdruss, denn er fand die senkrechte Aufstellung des anhaltenden Fusses schön und bedauerte, dass sie, nur von der Phantasie oder Willkür des Bildhauers geschaffen, der Lebenswirklichkeit nicht entsprach“ (ebd., S. 8-11).

Eines Nachts hat Norbert Hanold einen Traum, in dem er die Gradiva am Abend des 24. August im Jahre 79 n.Chr. durch Pompeji laufen sieht, als die Stadt durch den Ausbruch des Vesuvs verschüttet wird. Norbert Hanold sieht sie vor dem Ascheregen fliehen, bis sie sich auf den Stufen des Apollo-Tempels zum Sterben niederlegt. Er bewundert die Gelassenheit ihrer Gesichtszüge im Tod. Am Morgen nach dem Traum sieht er erstmals vom Fenster seiner Wohnung aus eine lebendige Frau in der Gradiva-Gangart durch die Strassen gehen. Spontan eilt er ihr hinterher, ohne sie einholen zu können. Von diesem Ereignis recht mitgenommen, beschließt er, auszuspannen und nach Rom zu reisen. Dort fühlt er sich bedrängt von deutschen Hochzeitspärchen in den Flitterwochen. Angeregt durch ein solches Dual im Nachbarzimmer hat er einen Traum, in dem er Apollo beim Ausbruch des Vesuvs die Venus auf einen Karren legen sieht, der sie so offensichtlich aus der Stadt zu retten versucht.

Norbert Hanold verlässt fluchtartig Rom und fährt nach Pompeji. Er gelangt zu der festen Überzeugung, seine Gradiva habe dereinst hier gelebt. Er besichtigt die ausgegrabene Stadt, und, welch eine wunderbare Begebenheit, er entdeckt in der Mittagshitze, als keine anderen Touristen unterwegs sind, von Ferne die Gradiva, die er sogleich an ihrer Art zu gehen erkennt. Er folgt ihr bis in die Ruine einer alten Villa, in deren Innenhof es, inmitten blühenden Mohns, zu einer ersten Begegnung kommt. Norbert Hanold nimmt schüchtern Kontakt auf zu dem vermeintlichen Geist einer Toten. Er redet das ‚Mittagsgespenst’ zunächst in griechischer, dann in lateinischer Sprache an. „Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie’s auf Deutsch thun“, gibt das Wesen lächelnd zur Antwort. Norbert fragt scheu nach der (vermeintlich) weit zurückliegenden Vergangenheit der Gradiva. Die höchst lebendige junge Dame macht sich einen Spaß daraus, den offensichtlich etwas sinnverworrenen jungen Mann während dieser und zweier weiterer Begegnungen (an den nächsten zwei Tagen, jeweils um die Mittagszeit) ein wenig in seiner Verwirrung zu belassen. Norbert überreicht ihr bei der zweiten Begegnung zunächst eine Asphodelos-Staude, eine dem Hades, der griechischen Unterwelt, zugehörende Blume des Todes. Bei ihrer dritten Begegnung, wieder einen Tag später, zu der er – von ‚Gradiva’ dazu ermuntert – einen Rosenstrauß mitbringt, offenbart sie sich als Zoë Bertgang, eine alte Kindheitsfreundin des Archäologen. In der Jugend hatte er jede Beziehung zu ihr abgebrochen. Wie durch ein Wunder ist sie gleichzeitig mit ihm nach Pompeji gereist. Beide erkennen nun ihre Liebe füreinander, das Glück nimmt seinen Lauf. Norbert bemerkt, dass die germanische Wortbedeutung von Bertgang ungefähr dem lateinischen Namen Gradiva entspricht, nämlich: „Die im Schreiten Glänzende“. Der Name Zoё kommt aus dem Griechischen und bedeutet: „Das Leben“.

Zu Ausführungen über Norbert Hanold und Wilhelm Jensen, mitsamt Literaturangaben, geht’s hier.

Weiter im Text über Sigmund Freuds Fehldeutung der Novelle geht’s hier.