Breuer & Freud

… & die “Studien über Hysterie” (1895)

Zentraler Ausgangspunkt für Freuds Entwicklung seiner Psychoanalyse sind die mit Josef Breuer zusammen verfassten Studien über Hysterie (1895/1995). Breuer bringt darin seine differenzierte Sichtweise zum Ausdruck. Ohne auf die dort jeweils namentlich gekennzeichneten Beiträge der beiden Autoren näher einzugehen, möchte ich auf eine interessante Stelle im Schlusskapitel hinweisen, für das Sigmund Freud verantwortlich zeichnet. Er drängt dort seinen Co-Autor, Mentor und Gönner Josef Breuer in unfairer Art und Weise beiseite. Freud behauptet nämlich – am Ende des Buches! – allein in der Sexualität liege der zentrale Ursprung der Hysterie (Studien, 275): „für die Hysterie folgt …, daß es kaum möglich ist, sie für die Betrachtung aus dem Zusammenhange der Sexualneurosen zu reißen;“ für vier „ältere“ Fälle, die er selbst in den Studien vorgestellt hat, räumt er ein (ebd., 276), dass er daran „die absichtliche und dringende Forschung nach der neurotischen sexualen Unterlage noch nicht durchgeführt hatte. Und wenn ich anstatt dieser vier Fälle nicht zwölf mitgeteilt habe, aus deren Analyse eine Bestätigung des von uns behaupteten psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene zu gewinnen ist, so nötigte mich zur Enthaltung nur der Umstand, daß die Analyse diese Krankheitsfälle gleichzeitig als Sexualneurosen enthüllte, obwohl ihnen den ‚Namen’ Hysterie gewiß kein Diagnostiker verweigert hätte. Die Aufklärung solcher Sexualneurosen überschreitet aber den Rahmen dieser unserer gemeinsamen Veröffentlichung.

Jeder Hysterie liege also ein sexuelles Problem zugrunde – so Freud. Er selbst entzieht dieser Hypothese sogleich jede Möglichkeit einer Überprüfung: Bei seinen vier veröffentlichten Fallgeschichten zur Hysterie habe er diesen Hintergrund überhaupt nicht untersucht, jedoch bei zwölf anderen eindeutig festgestellt, deren Erörterung hier jedoch zu weit führen würde.

Eigentlich reichlich unverschämt, den Lesern und Leserinnen ein Buch anzudrehen, dessen Inhalt man bereits bei Abfassung des Schlusskapitels als überholt betrachtet. Noch unverschämter wird das Ganze, wenn man weiß, dass Freud an dieser Stelle ungeniert lügt, genauso, wie im Fall seiner angeblich erfolgreichen Heilung von Morphinismus durch Kokain: Han Israëls (1999, S. 199 ff.) hat im Detail rekonstruiert, dass Freud gerade in seinem Fallmaterial niemals eine Bestätigung für diesen „psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ gefunden hatte.

Freuds Dreistigkeit geht aber noch weiter, wenn er frech behauptet, auch im Fall Bertha Pappenheim sei von Breuer der sexuelle Hintergrund gar nicht erfragt worden, auch dieser Bericht sei somit für die Studien eigentlich – unbrauchbar (Studien, 275): „Ich will die hier mitgeteilten Krankengeschichten daraufhin prüfen, ob sie meiner Auffassung von der klinischen Unselbständigkeit der Hysterie [also ihrer Abhängigkeit von der ‚Sexualneurose’] das Wort reden. Anna O., die Kranke Breuers, scheint dem zu widersprechen und eine rein hysterische Erkrankung zu erläutern. Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die Erkenntnis der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beobachter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose gebracht und ist heute für diesen nicht zu verwerten.“ Auf die scheinbare Anerkennung des angeblich so fruchtbaren Falles folgt sofort die völlige Entwertung: Er ist für die Theorie nicht zu gebrauchen!

Die logische Folge daraus ist zu fragen, wie und ob denn Bertha Pappenheim überhaupt geheilt werden konnte. Und darin steckt meines Erachtens die besondere Hinterhältigkeit Freuds: Er diffamiert indirekt die in den Studien über Hysterie als erfolgreich dargestellte Behandlung der Bertha Pappenheim als Nicht-Erfolg. Wie sonst wäre seine Behauptung plausibel, Breuer habe eine zentrale Ursache der Hysterie nicht beachtet? [Endnote 1] (Innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft hat es eine lange Tradition, die Breuersche Behandlung zu entwerten, was sich dann auch auf Bertha Pappenheim ausdehnte – vgl. die Darstellung bei Brentzel S. 249 ff zu den diversen Ansätzen einer nachträglichen Bewertung der Behandlung von Bertha Pappenheim.)

Bertha Pappenheim war mit Freuds Gattin Martha verwandt, und diese hatte im Jahr 1887, als Bertha noch nicht endgültig gesund war, persönlichen Kontakt mit ihr (Hirschmüller, 1978, 157). Freud wusste genau, dass die maßgeblich unter Breuers Leitung zwischen Dezember 1880 und Juni 1881 durchgeführte Therapie der Bertha Pappenheim – vierzehn Jahre vor der Veröffentlichung der Studien – zunächst keineswegs mit einer vollständigen Heilung geendet hatte. Wie dargestellt, stand sie ab dem 7. Juni 1881 eine Zeitlang ganz unter der Obhut von Dr. Breslauer in Inzersdorf, und Breslauer hatte auch nach diesem Aufenthalt offenbar noch ein gewichtiges Wort bei der Behandlung mitzureden (vgl. z.B. die Fortsetzung der Medikation mit Chloral, die Breuer ausdrücklich abgelehnt hatte, oder der Aufenthalt in Kreuzlingen, den Berthas Mutter im Sommer 1882 von Breslauers Zustimmung abhängig machte). Bertha war dann am 12. Juli 1882 zu einem knapp viermonatigen Hospitalaufenthalt in Kreuzlingen am Bodensee angereist. Zwischen 1883 und 1887 hatte sie sich aufgrund ihrer Beschwerden noch zunächst für fünfeinhalb, dann für vier Monate, schließlich für einen halben Monat erneut in dem Sanatorium in Inzersdorf aufgehalten (Hirschmüller, 1978, 152 ff.). Breuer hatte sich auch weiterhin – wohl neben Breslauer oder anderen konsultierten Ärzten – engagiert um die Patientin gekümmert. Was ihre Genesung verzögerte, war keineswegs die Nicht-Wahrnehmung ihrer Hysterie als Sexualneurose, sondern vielmehr wohl – neben der verbleibenden Abhängigkeit von Mutter und Bruder, die ihr unangenehm waren – die notwendige Entziehung von Morphin und Chloral. Zumindest was das Chloral betrifft lässt sich zeigen, dass dessen fortgesetzte Verordnung nicht auf Breuer zurückging, sondern auf den mit der Betreuung der Patientin ab Juni 1881 maßgeblich betrauten Breslauer. Bezüglich der Morphin-Verordnung vermute ich – wie an anderer Stelle dargestellt – dasselbe. [Endnote 2]

Wenn Freud – wie oben zitiert – von der „Bestätigung des von uns behaupteten psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ (Studien, 276) spricht, so muss er in einem verschleiernden pluralis majestatis sprechen, denn vier Seiten zuvor versichert er noch: „Es wäre unrecht, wenn ich versuchen wollte, meinem verehrten Freunde J. Breuer zuviel von der Verantwortlichkeit für diese Entwicklung aufzubürden. Die folgenden Ausführungen bringe ich daher vorwiegend im eigenen Namen.“ Seine These von der zentralen Rolle der Sexualität hat mit der von Josef Breuer entschlüsselten Trauma-Logik nur noch ziemlich wenig zu tun.

Josef Breuer, der wegen seiner gründlichen Diagnosen berühmt war, hatte in seiner Anamnese offensichtlich durchaus das Thema Sexualität beachtet. Im Arztbericht Breuers an Binswanger vom Juli 1882 heißt es (Hirschmüller, 1978, 349): „Sexuelles Element ist erstaunlich unterentwikelt; ich habe in den massenhaften Hallucinationen auch nicht einmal dasselbe vertreten gefunden. Jedenfalls ist sie noch nie verliebt gewesen, soweit nicht ihr Verhältniß zum Vater dieses ersetzt hat oder vielmehr damit ersetzt war.“ Breuer konstatiert also einen auffälligen MANGEL an Regungen der Verliebtheit bei Bertha und mag diese Art der Hemmung auch als einen Beitrag zu Berthas ständigem Spannungsgefühl verstanden haben. Ähnlich hat er diesen Punkt in den Studien (42) zum Ausdruck gebracht. Schon im Juni 1882 schreibt er ausdrücklich (Hirschmüller, 1978, 368): „Fräulein Bertha Pappenheim, 23 Jahre alt, ist Reconvalescentin von einer sehr schweren Neurose und Psychose hysterischer Natur (im ganzen Verlauf ohne irgend eine Einmischung sexualer Momente.)

Es ist dabei in meinen Augen unbestreitbar, dass Josef Breuer genau an dem Fall von Bertha Pappenheim das Prinzip der Entstehung psychosomatischer/dissoziativer Störungen verstanden und ein entsprechendes, erfolgreiches Therapieverfahren entwickelt hatte. Mit seiner engagierten Betreuung war Josef Breuer maßgeblich die drastische Besserung des Zustandes der Bertha Pappenheim zu verdanken. Gleichwohl hat er diese Behandlung auch als sehr anstrengend erlebt. In einem Brief an Auguste Forel spricht er davon, dass er nicht noch einmal durch ein solches „Ordal“ (= Gottesgericht) schreiten wolle [Endnote 3]. Der Freudsche Satz von der Nicht-Verwertbarkeit der Fallstudie über Bertha Pappenheim mag da auf ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben, der eine alte Wunde berührte.

Freuds Entwertung der Behandlung von Bertha Pappenheim ist nur ein Glied in einer ganzen Kette von gleichgerichteten Äußerungen und Handlungen gegen Breuer (vgl. Hirschmüller, 1978, 150 ff.). In den Briefen an Fließ äußert er schon Jahre zuvor ständig sein Unbehagen über dessen Nähe, offenbar, weil Breuer oft genug Freuds überschwänglichen Verallgemeinerungen widersprach. Breuer konnte sich aber 1895 kaum gegen Freuds unterschwellige Vorhaltung eines schwerwiegenden Versäumnisses wehren, weil Freud ja sonst geantwortet haben könnte, dass man ja sehe, wohin die Arbeit Breuers geführt habe – nämlich zu weiteren Sanatorienaufenthalten Bertha Pappenheims. Schon mit den gemeinsam veröffentlichten Studien über Hysterie konnte Breuer ausreichende Erfahrungen mit Freuds Hang zur Indiskretion sammeln – abzulesen beispielsweise an seinem Vorgehen im Falle Elisabeth v. R. [Endnote 4]. Breuer musste also auch für den Fall Bertha Pappenheim mit ähnlicher Rücksichtslosigkeit rechnen. Ich könnte mir vorstellen, dass er schon allein aus dieser Erfahrung heraus niemals gewagt hätte, eine öffentliche Diskussion über die Stimmigkeit seiner anamnestischen Erhebungen und der daraus resultierenden therapeutischen Maßnahmen, damit also über Erfolg oder Misserfolg seiner Behandlung der Bertha Pappenheim anzuzetteln. Da hat er wohl lieber schweigend diese Ohrfeige von der fehlenden Verwertbarkeit seiner Fallstudie eingesteckt.

Jedoch hat Breuer in einem Vorwort zur zweiten Auflage der Studien über Hysterie im Jahr 1908 geschrieben (Studien, 25): „Das Interesse, welches in steigendem Maße der Psychoanalyse entgegengebracht wird, scheint sich jetzt auch den ‚Studien über Hysterie’ zuzuwenden. Der Verleger wünscht eine Neuauflage des vergriffenen Buches. Es erscheint nun hier in unverändertem Neudrucke, obwohl die Anschauungen und Methoden, welche in der ersten Auflage dargestellt wurden, seitdem eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren haben. Was mich selbst betrifft, so habe ich mich seit damals mit dem Gegenstande nicht aktiv beschäftigt, habe keinen Anteil an seiner bedeutsamen Entwicklung und wüßte dem 1895 Gegebenen nichts Neues hinzuzufügen. So konnte ich nur wünschen, daß meine beiden in dem Buche enthaltenen Abhandlungen bei der Neuauflage desselben in unverändertem Abdrucke wieder erscheinen mögen.“ Breuer selbst weiß also nichts wirklich Neues seiner damaligen Position hinzuzufügen. Wenn er ausdrücklich wünscht, dass seine Beiträge zu den Studien unverändert abgedruckt würden, dann wohl in dem Bewusstsein, dass sich deren Inhalt nach wie vor gegenüber Freuds Ausführungen, und gerade auch gegenüber dessen angeblichen Weiterentwicklungen – die Breuer durchaus mit gehöriger und berechtigter Skepsis verfolgt hatte [Endnote 5] – sehen lassen konnten.

Obwohl Sigmund Freud seinem klugen Gönner und Mentor Josef Breuer im großen Maße nicht nur geistige und ideelle Inspiration, sondern auch finanzielle Unterstützung verdankte, hat er sich ihm gegenüber doch oft genug regelrecht schäbig verhalten. Gegenüber Sigmund Exner habe Breuer geäußert, „er sei nach der gemeinsamen Veröffentlichung von Freud ‚mehr oder weniger ausgeschaltet und links liegengelassen’ worden. In der Familie Breuers wird eine Episode überliefert, nach der Breuer in späteren Jahren Freud in der Berggasse begegnet und ihm mit ausgebreiteten Armen entgegengegangen sei. Freud habe sich jedoch abgewandt und sei auf die andere Straßenseite gewechselt“ (Hirschmüller, 1978, 254). In seinen Briefen an Fließ äußert sich Freud häufig abwertend über Breuer.

Auch im Kreis von Freuds Schülern – sicherlich nicht ohne Freuds Zustimmung, sondern wohl eher mit dessen Anregung – wurde eine weitere Demontage von Breuers Behandlung betrieben (vgl. den in [Endnote 1] ausführlicher zitierten Max Eitington). Neben der oben bereits ausführlich dargestellten Entwertung von Breuers Konzept, die Freud bereits in den Studien (1895) anklingen lässt, hat er es teilweise auch gelobt. In der „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ (1914) nimmt Freud jedoch das Lob indirekt wieder zurück: „Wohlmeinende Freunde haben mir seither die Erwägung nahegelegt, ob ich meiner Dankbarkeit damals nicht einen unangemessenen Ausdruck gegeben. Ich hätte, wie bei früheren Veranlassungen, das ‚kathartische Verfahren’ von Breuer als ein Vorstadium der Psychoanalyse würdigen und diese selbst erst mit einer Verwerfung der hypnotischen Technik und Einführung der freien Assoziation beginnen lassen sollen.

Diesen „wohlmeinenden Freunden“ ist insofern nur ganz und gar zuzustimmen, als nicht erst mit der Betonung der „freien Assoziation“, sondern vor allem mit der gnadenlosen Sexualisierung aller Verhaltensweisen, mit deren Zurückführung auf kindliche Perversionen und mit der gnadenlosen Opfer-Täter-Verkehrung sich Freud von der ursprünglichen, wahrhaften „Psychoanalyse“ vollkommen gelöst hatte, wie Breuer ursprünglich Freud gegenüber das Verfahren (in Analogie zur „tragischen Analysis“ des Sophokles) benannt wissen wollte. Die von Freud im Laufe der Zeit ausgestaltete PsychoanaLÜGE hat in der Tat so gut wie GAR NICHTS mehr mit dem differenzierten Konzept von „Psychoanalyse“ eines Josef Breuers gemein!

Endnoten:

[Endnote 1] Tatsächlich hat im Jahr 1909 ein braver Schüler Freuds, Max Eitington, in einem Seminar seines Meisters ein Referat zu Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim gehalten, in dem er mit vagen Andeutungen seine Zweifel an einer Heilung Berthas anklingen lässt: „Bei der Unsicherheit oder besser dem Mangel an katamnestischen Daten darf ein Zweifel an der Angabe des Buches, Anna sei bald darauf definitiv gesund geworden, nicht laut werden (?).“ (Eitington, 1909/1998, 26). Der Herausgeber Albrecht Hirschmüller (a.a.O., FN 50) merkt an, dass das Fragezeichen wohl das Gegenteil der ausdrücklichen Behauptung vermitteln soll. Ich meine, dass die widersprüchliche Formulierung insgesamt bereits den Zweifel an der Heilung unterstreicht: Wie sollte denn eine „Unsicherheit“ oder ein „Mangel katamnestischer Daten“ dazu beitragen können, die „Zweifel an der Angabe des Buches … nicht laut werden“ zu lassen? Der Referent drängt den Zuhörern eigentlich genau das Gegenteil davon auf: Dass entsprechende Zweifel gerade wegen der „Unsicherheit“ oder wegen dem „Mangel katamnestischer Daten“ laut werden dürfen. Hat Eitington vielleicht hier von seinem Lehrer zuvor einen kleinen Tipp bekommen? Jedenfalls bemüht sich der brave Schüler nach Kräften, Freuds Psychoanalyse zu preisen, Breuers Behandlung dagegen zu diskreditieren (a.a.O., 27): „Wenn wir nach den psychotherapeutischen Absichten der jetzigen psychoanalytischen Methode fragen, erhalten wir verschiedene Antworten: … am feinsten ist vielleicht die Formulierung, die Prof. Freud vor kurzem im ‚Jahrbuch‘ gegeben hat, daß die Psychoanalyse die Verdrängung des zu unterdrückenden Materials durch dessen Verurteilung ersetze. Die kathartische Methode, am Hypnoide festhaltend, will so viel weniger und kann, trotzdem sie noch Anhänger hat, längst nicht mehr als rationelle psychotherapeutische Methode angesehen werden.“ So ist das also: Josef Breuers differenziertes Konzept entspricht nicht rationeller Methode, das Gefasel von Sigmund Freud aber umso mehr. Eitington setzt dann auch gleich die so viel weiter reichende Freudsche Methode ein – nämlich plumpe Sexualisierung von Berthas Symptomatik – um Breuers Mangel auszugleichen.

[Endnote 2] Freud mag indirekt, anknüpfend an die Narkotika-Abhängigkeit Bertha Pappenheims, im Jahr 1898 (Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen) seine Unterstellung von der zentralen Rolle der Sexualität bei der Erkrankung Berthas noch einmal untermauert haben wollen, wenn er textet (506): „Abstinenzkuren [werden] … solange nur scheinbar gelingen […], so lange sich der Arzt damit begnügt, den Kranken das narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um die Quelle zu kümmern, aus welcher das imperative Bedürfnis nach einem solchen entspringt. ‚Gewöhnung‘ ist eine bloße Redensart ohne aufklärenden Wert; nicht jedermann, der eine Zeitlang Morphium, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen Gelegenheit hat, erwirbt hiedurch die ‚Sucht‘ nach diesen Dingen. Genauere Untersuchung weist in der Regel nach, daß diese Narkotika zum Ersatze – direkt oder auf Umwegen – des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und wo sich normales Sexualleben nicht herstellen lässt, da darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten.“ Hätte Bertha nur fleißig Sex gehabt, so scheint er allen Ernstes meinen, dann hätte sie mit Chloral und Morphin kein Abhängigkeits-Problem bekommen. Freuds erwiesene Ignoranz im Umgang mit Suchtmitteln wie Morphin und Kokain (vgl. Han Israëls) lassen diese Äußerung nur als weitere dreiste Einmischung in Dinge verstehen, von denen er nichts begriffen hatte.

[Endnote 3] Breuer in einem Brief vom 21.11.1907 an Forel (in: Ackerknecht, 1957, 169 f): „Ich hatte den Fall erlebt, den ich als Anna O. in den Studien beschrieben habe. Mein Verdienst bestand wesentlich darin, daß ich erkannte, welch ungemein lehrreichen, wissenschaftlich wichtigen Fall mir der Zufall zur Bearbeitung zugewiesen hatte, daß ich in aufmerksamer treuer Beobachtung ausdauerte und nicht durch vorgefaßte Meinung die einfache Auffassung des Gegebenen störte. So habe ich damals sehr viel gelernt; viel wissenschaftlich wertvolles; aber auch das practisch wichtige, daß ein ‚general practitioner‘ unmöglich einen solchen Fall behandeln könne, ohne daß seine Tätigkeit und Lebensführung völlig dadurch zerstört würde. Ich habe mir damals gelobt, noch einmal durch ein solches Ordal nicht zu schreiten.“ Was Breuer mit dem ‚Ordal‘ gemeint haben mag, bleibt unklar. In der bekannten Geschichte des Ritters Lohengrin übernimmt dieser die Aufgabe, für die in unfairer Weise in Bedrängnis geratene Elsa von Brabant in einem ‚Gottesgericht‘ für deren Sache zu streiten. Vielleicht hat sich Breuer gegenüber Bertha Pappenheim in einer ähnlichen Situation gesehen – als Ritter, der Bertha gegen ihre Mutter und den eigenen Bruder zu verteidigen hatte, der dem Anspruch der Patientin auf Wahrung ihrer Rechte als engagierter Anwalt zur Seite stehen wollte. Dabei hatte er sich wohl auch den unfairen Attacken der Widersacher auszusetzen, wie es sich etwa in dem Hin und Her bezüglich des Aufenthaltes in Kreuzlingen andeutet, oder in Breuers Äußerung, er sei ihrem Umfeld gegenüber machtlos.

[Endnote 4] Freud deutet hier gegenüber seiner Patientin penetrant, sie sei in den Mann ihrer gerade verstorbenen Schwester verliebt. Unbeeindruckt von ihrem heftigen Widerspruch spricht Freud die Mutter der Patientin darauf an, ob sie nicht eine Heirat der Patientin mit dem ihr widerwärtigen Schwager arrangieren könne (Studien, 175 ff.). Die Patientin hatte daraufhin offenbar den weiteren Kontakt zu Freud boykottiert.

[Endnote 5] Im Jahr 1907 schreibt Breuer an Auguste Forel, in dem er, neben einem Lob für Freuds Lehre, anmerkt (Ackerknecht, 1957, 170): „Dem gegenüber verschwand ihm [Freud] die pathologische Leistung der ‚hypnoiden Zustände‘; wie ich glaube nicht zum Vorteil der Lehre.“ Und: „Aber ich halte auch jetzt noch Freud’s Werk für ein großartiges; in mühsamster Privatpraxis aufgebaut u. von der größten Wichtigkeit; wenn auch gewiß nicht weniges von dem Bau wieder abbröckeln wird.

 

Hier befindet sich der Ausgangspunkt des Beitrages zu Josef Breuer, Bertha Pappenheim und Iwan Pawlow.

Hier geht es zu den Ausführungen zu Leben und Werk von Josef Breuer.

Hier finden sich Angaben zu Bertha Pappenheim und ihrer Behandlung durch Breuer.

Hier findet sich ein Exkurs zu dem russischen Physiologen Iwan Pawlow, dessen Überlegungen zum klassischen Konditionieren im Grunde spiegeln, was Breuer vorweggenommen hatte.

Hier finden sich Ausführungen zu den Diffamierungen, denen Breuers Behandlung ausgesetzt war. Vor allem gehe ich hier der Frage nach, wer Bertha Pappenheim Chloral und Morphin verordnet hatte.

Und schließlich werfe ich hier noch einmal die Frage auf, ob Josef Breuers Behandlung von Bertha Pappenheim als erfolgreich gelten kann.